frauen mexikoAlle dreieinhalb Stunden wird in Mexiko eine Frau ermordet, im Schnitt also sieben am Tag. Das sind 2.000 getötete Frauen pro Jahr – und die Tendenz ist steigend. Besonders jüngere Frauen wollen die gegen sie gerichteten alltäglichen Aggressionen nicht länger hinnehmen und machten 2016 zu einem Jahr des Aufbruchs. Auszug aus einem Beitrag der Zeitschrift "Junge Welt".


Der 8. März, der Internationale Frauentag, gehört normalerweise nicht zu den Ereignissen, die in Mexiko viele Menschen auf die Straßen bringen. Von offizieller Seite wird an diesem Datum an die Errungenschaften der Gleichstellung der Geschlechter erinnert, und die Mexikanerinnen werden von der Regierung und staatlichen Organisationen ob ihres Daseins gelobt. Außerdem gehört es zum guten Ton unter Freunden und Arbeitskollegen, den Frauen an diesem Tag zu gratulieren. Von der Problematisierung ihrer gesellschaftlichen Stellung oder gar Kampfgeist ist kaum etwas zu spüren.

In diesem Jahr wird der 8. März wohl ähnlich verlaufen, auch wenn die mexikanische Frauenbewegung auf eine ereignisreiche Zeit zurückblicken kann: Zwar ist die Zahl ermordeter Frauen auch 2016 weiter gestiegen, aber es gab zugleich die Mobilisierung einer neuen Bewegung gegen geschlechtsspezifische Gewalt, die vornehmlich von jüngeren und bisher unorganisierten Frauen ausging und aus der Zivilgesellschaft heraus und ohne die Leitung einer Partei oder Gewerkschaft entstand.

Besonders jüngere Frauen wollen die gegen sie gerichteten alltäglichen Aggressionen nicht länger hinnehmen und machten 2016 zu einem Jahr des Aufbruchs. Sie gründeten neue Initiativen, eröffneten Veranstaltungs- und Begegnungsräume und begannen, sich im Freundeskreis und über verschiedene Internetplattformen auszutauschen und zu organisieren.

Am 24. April war es dann soweit: Unter dem Hashtag »Vivas nos queremos« (Wir wollen leben) fand in ganz Mexiko ein Aktionstag gegen geschlechtsspezifische Gewalt statt. Mehrere tausend Frauen und auch ein paar Männer folgten dem Aufruf und veranstalteten in 42 Städten, unter anderem in Puebla, Oaxaca und natürlich Mexiko-Stadt, Demonstrationen und Kundgebungen, was in der Presse und den sozialen Medien schon allein aufgrund der Größe der Veranstaltungen für großes Aufsehen sorgte.

Verschwunden und getötet

Auch wenn es in Mexiko nicht gerade en vogue ist, sich als Feministin zu bezeichnen und man im Zweifelsfall Gefahr läuft, von Freunden und Kollegen als verhärmt und frustriert verspottet zu werden, so sprechen die Zahlen doch für sich und verdeutlichen die Notwendigkeit einer kritischen gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Frauenmorde: Alle dreieinhalb Stunden wird in Mexiko eine Frau ermordet, im Schnitt also sieben am Tag. Das sind 2.000 getötete Frauen pro Jahr – und die Tendenz ist steigend.

Vor allem, wenn man die Lokalzeitungen aufschlägt, kann man ihnen nicht entgehen: Frauen und Mädchen, die vergewaltigt, erschlagen, erwürgt, erstochen, mit Säure übergossen, angezündet und zerstückelt wurden. Die Überreste werden verscharrt, in einen Kanal geworfen, am Tatort liegengelassen oder auf offener Straße ausgestellt. Oft haben die Täter einen direkten Bezug zu ihrem Opfer. Es sind Ehemänner, verlassene Lebensgefährten oder verschmähte Liebhaber. In den allerwenigsten Fällen werden sie für ihre Tat zur Rechenschaft gezogen. Oftmals wird Selbstmord als offizielle Todesursache angegeben.

Hinzu kommt, dass viele Leichen gar nicht erst gefunden werden, weil die Frauen Opfer von Entführungen und Menschenhandel werden. Allein zwischen 2011 und 2015 verschwanden nach offiziellen Angaben im ganzen Land mehr als 7.000 Frauen. Nach Daten des Nationalen Instituts für Statistik und Geographie (INEGI) waren im Jahr 2015 63 Prozent der über 15 Jahre alten Mädchen und Frauen mindestens ein Mal in ihrem Leben Opfer direkter Gewalt geworden. IN EGI bezeichnet die Gewalt gegen Frauen als eine in der mexikanischen Gesellschaft weit verbreitete Praxis. Unter allen Befragten gaben 47 Prozent an, schon einmal in ihrer Ehe oder Partnerschaft Gewalt erfahren zu haben. 90 Prozent der Bewohnerinnen von Mexiko-Stadt berichteten darüber hinaus, Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen im öffentlichen Nahverkehr gemacht zu haben. Besonders die in den Stoßzeiten völlig überfüllte Metro steht in dem Ruf, ein Ort sexueller Belästigungen und Übergriffe zu sein. Die Verursacher sind in dem Gedränge meist nicht mehr zu identifizieren und können unerkannt untertauchen, weshalb die Stadtregierung 2008 beschloss, die ersten drei Waggons der Metro ausschließlich für Frauen zu reservieren.

Frauenstreik am 8. März

Eine Internetplattform, die der Information und dem Austausch zwischen verschiedenen feministischen Gruppen und Einzelpersonen dient, ist das Onlinemagazin Laquearde (deutsch: »die, die brennt«). Lydia ist eine der Initiatorinnen. Die Aufgaben des Projekts sieht sie darin, eine Informations- und Diskussionsplattform für Frauen zu schaffen und ihnen so Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie der alltäglichen geschlechtsspezifischen Gewalt begegnen können. Die Macherinnen des Magazins veröffentlichen Artikel aus verschiedensten Quellen über die Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Mexiko und hinterfragen die vorherrschenden Geschlechterstereotype und Rollenbilder.

Auch ein Teil der inoffiziellen Mobilisierungen zum diesjährigen 8. März beruhen auf dieser Art von Netzwerken. Eine Demonstration ist nicht geplant, statt dessen soll es einen ganztägigen Streik aller Frauen geben. Die Initiative zu dieser Aktion, die in mehreren Städten auf der ganzen Welt gleichzeitig stattfinden soll, geht von einer argentinischen Frauenrechtsgruppe aus.

Voller Text auf Junge Welt (6.3.2017)