Der Sieg von Smer - Slowakische Sozialdemokratie (Smer-SSD) bei den Wahlen zum Slowakischen Nationalrat könnte einen neuen außen- und sozialpolitischen Kurs in unserem östlichen Nachbarland einläuten.
Die Partei Smer-SSD ist seit dem Jahrtausendwechsel, als sich eine Gruppe rund um den Abgeordneten Robert Fico von der damaligen neoliberalisierten postkommunistischen Partei der demokratischen Linken (SDL) abspaltete, eine fixe und stabile Kraft in der stark fragmentierten slowakischen Parteienlandschaft. Smer-SSD etablierte sich in den letzten 20 Jahren mit ihrem Vorsitzenden Robert Fico als Sprachrohr für die sozialen Anliegen der vielen Wendeverlierer und arbeitenden Unterschichten in der Slowakei. Besonders im ländlichen und im kleinstädtischen Milieu schaffte es Smer-SSD eine stabile Wähler- und Anhängerschaft aufzubauen. Nach der neoliberalen Schocktherapie, die unter dem Premier Mikulas Dzurinda (1998-2006) die kapitalistische Restauration auf brutale Weise finalisierte, die Sozialsysteme defacto totalprivatisierte, die Slowakei ausverkaufte und zum Billiglohn-Land inklusive Flat-Tax im Sinne der transnationalen Konzerne machte, sowie das Land in die NATO und EU führte, gab es für die Regierung Fico I (2006-2010) einiges im Sinne der Abgehängten zu korrigieren.
Langsame Rückkehr des Staates
Und sie taten es, natürlich im Rahmen der zu berücksichtigenden realen nationalen wie internationalen Kräfteverhältnisse: Wie vor der Wahl 2006 versprochen, wurde sofort das slowakische Streitkräfte-Kontingent aus dem völkerrechtswidrigen US-Irak-Krieg heimgeholt, die bevorstehende Privatisierung strategischer Infrastruktur, wie des Flughafens Bratislava, gestoppt, die Energieversorgung re-(teil-)verstaatlicht, den öffentlichen Vorsorgesystemen gegenüber den privaten Vorrang gegeben und in die unterentwickelten Gebiete des Ostens, wo auch viele Roma leben, durch die öffentliche Hand investiert. Smer-SSD setze das in einer Koalition mit der nationalkonservativen HDZS von Vladimir Meciar und der rechtsnationalen Slowakischen Nationalpartei (SNS) um. Smer-SSD scherte schon damals aus dem Gros der sozialdemokratischen und postkommunistischen „Links“parteien in Osteuropa aus, die damals wie heute mehrheitlich eine neoliberale Programmatik verfolgen. Trotz dieser sozial-fortschrittlichen Reformpolitik wurde Smer-SSD vorübergehend von der Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) suspendiert. Zu sehr setzte die Partei aus deren Sicht in Programmatik und Rhetorik auf einen Politik-Entwurf, den man als linkssouveränistisch definieren kann und war damit erfolgreich. In ihrer 2. Regierungsperiode, die auf ein Intermezzo neoliberaler und von Brüssel favorisierter Vielparteien-Koalitionen folgte, wurden wieder etliche sozialpolitische Maßnahmen umgesetzt und mit der absoluten Mehrheit konnte Smer-SSD auch endlich die Flat-Tax, die die öffentlichen Kassen austrocknen ließ, abschaffen und ein progressives Steuersystem einführen. Erstmals seit Ende des Staatssozialismus wurden die Gewerkschaften wieder als gleichberechtige Partner in Entscheidungsfindungen eingebunden. Als 2017 die Arbeiter des VW-Werkes das erste Mal in der 25-jährigen Geschichte des Standortes für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen streikten, wurde die Streikbewegung explizit von der Smer-SSD-geführten Regierung unterstützt und Fico drückte persönlich in einer Rede vor der Belegschaft seine Solidarität aus. Die Bewegung war schließlich erfolgreich und die Arbeiter setzen ihre Forderungen durch, ein Novum in Osteuropa seit der „Wende“.
Außenpolitisch bekannte man sich immer zur EU- und NATO-Mitgliedschaft bemühte sich darüber hinaus aber auch um eigenständige Akzente hinsichtlich guter Beziehungen zu Russland, der VR China und den Balkanländern, allen voran Serbien. Die einseitige und völkerrechtlich umstrittene Sezession des Kosovo hat die Slowakei 2008 nicht anerkannt und tut das bis heute nicht. Die US-amerikanische Außen- und Kriegspolitik kritisierte Robert Fico immer wieder in öffentlichen Statements.
Politisches Profil wird geschärft
Mit den Jahren verfestigte sich in der Smer-SSD Programmatik ein politischer Ansatz, der sowohl der eher traditionellen und kulturell-konservativen Mentalität der ländlichen slowakischen Bevölkerung als auch den sozial-ökonomischen Bedürfnissen der slowakischen Arbeiterklasse Rechnung trug. Der positive historische Bezug zum Slowakischen Nationalaufstand (SNP) 1944 gegen die nazi-deutschen Okkupanten und ihre heimischen Kollaborateure wird jährlich durch eine große Gedenkkundgebung in Banska Bystrica zum Ausdruck gebracht. Der Patriotismus von Smer-SSD ist kein chauvinistischer und stellt sich explizit gegen faschistische Strömungen in der slowakischen Politlandschaft, wie z.B. die antisemitische und völkisch-rassistische Kotleba-Partei, die sich positiv auf die Nazi-Kollaborateure der Hlinka-Garde bezieht.
Eine postmoderne linksidentitär-kulturalistische Agenda wird von Smer-SSD abgelehnt. Laut dem ehemaligen slowakischen Kulturminister und Smer-Vizevorsitzenden Marek Maďarič würde so eine Programmatik „die Smer marginalisieren“, die Smer würde sich „bereits seit 2003 auf 2 Säulen- der sozialen und nationalen- entwickeln“. Eine „Brüsseler Linke“ könne in der Slowakei nicht wirkmächtig sein. Unregulierter illegaler Migration steht die Partei sehr kritisch gegenüber und lehnt Massenzuwanderung ab, die Slowakei sei als kleines und ärmeres Land nur sehr bedingt aufnahmefähig.
Auch der heutige Vizevorsitzende, Abgeordnete zum Nationalrat und Buchautor („The Antiglobalist- A Central European Leftist Perspective“) Ľuboš Blaha skizziert in eben diesem Buch, dass sowohl dem Rechts- als auch dem Linksliberalismus ein neuer kollektivistischer politischer Ansatz entgegengestellt werden muss, der auf Deglobalisierung und dem Internationalismus des klassischen Sozialismus gleichermaßen beruht.
Krieg, Stigmatisierung und Canceling
In den letzten Jahren verschärfte sich die politische Auseinandersetzung in der Slowakei zwischen den neoliberalen Parteien und den souveränistisch orientierten Parteien, allen voran Smer-SSD, erheblich. Nach turbulenten Jahren, in denen Smer-SSD von etlichen Medien eine- nie nachgewiesene- Verwicklung beim Mord des Journalisten Ján Kuciak zugeschrieben wurde, Premier Fico danach zurücktrat und wieder eine rechts-liberale Vielparteienkoalition an der Macht war, spaltete sich schließlich 2020 die moderatere Fraktion unter Kurzzeit-Premier Peter Pellegrini von der Smer-SSD ab und gründete die sozialdemokratisch-orientierte HLAS (Stimme). HLAS trat in Rhetorik und Programmatik zahmer auf, gab ein stärkeres Bekenntnis zu Brüssel ab.
Durch die Corona-Pandemie, die Art deren Abwicklung und nicht zuletzt durch die Kriegseskalation in der Ukraine, verursacht durch den Einmarsch Russlands im Februar 2022, verschärfte sich die wirtschaftliche und soziale Lage in der Slowakei drastisch. Die Regierungsmehrheit zerfiel und letztendlich setzte die liberale Staatspräsidentin Zuzana Čaputová eine „Experten-Regierung“ ein, um vorgezogene Neuwahlen möglichst hinauszuzögern. Im „NATO-Frontstaat“ zum Kriegsgebiet Ukraine erwiesen sich die Staatspräsidentin und die Regierung als hundertprozentige Umsetzer der EU/NATO-Politik bei der militärischen Unterstützung der Ukraine. Die Slowakei wurde im Verhältnis zur Größe und Wirtschaftskraft eine der größten militärischen Lieferanten der ukrainischen Kriegspartei in der gesamten EU. Gleichzeitig wurde das russische Pipeline-Erdgas drastisch durch teurere Alternativen ersetzt, die die Preise treiben und die Inflation anheizen. Unter der liberalen Kurzzeit-Regierung wurde auch die Einwilligung zur Stationierung von 2000 ausländischen NATO-Soldaten gegeben, die von Smer-SSD kritisiert wurde.
Seit Beginn der Kriegseskalation mobilisierte Smer-SSD über das ganze Land zu Friedenskundgebungen, bei denen sich tausende Menschen einfanden. Fico verurteilte den völkerrechtswidrigen russischen Angriff, wies in seinen Reden jedoch auch auf die objektiven Hintergründe und weitreichenden Ursachen des Konflikts hin und rief zu einem Waffenstillstand im Nachbarland auf. Laut Fico brauche es Deeskalation, einen gerechten Frieden und einen Ausgleich mit Russland, die Slowakei sei ein „friedliches Land“ und werde, wenn Smer-SSD wieder in die Regierung komme, „keine Patrone mehr in die Ukraine liefern“. Vielmehr werde er als Premierminister alles daransetzen, Verhandlungen und einen Frieden zwischen den Kriegsparteien zu initiieren. Auch die EU-Sanktionspolitik widerspreche wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Slowakei. Die Slowakei werde künftig humanitär, im Bereich Wiederaufbau und Kriegsflüchtlinge, helfen aber diesen Krieg nicht mehr militärisch unterstützen.
Eine bis dahin noch nie dagewesene Kampagne der privaten Medien und in „sozialen Netzwerken“ begann gegen die Smer-SSD zu rollen. Smer-Vertreter wurden als „pro-russiche Agenten“, „anti-europäisch“ und „vom Kreml gesteuert“ stigmatisiert. In der Auseinandersetzung mit Staatspräsidentin Zuzana Čaputová und einigen Medien wurde u.a. Ľuboš Blaha unwiderruflich von Facebook/Meta verbannt. Smer-SSD schaffte es jedoch über persönliche Kontakte auf der Straße, Kampagnen durch die Dörfer und über Telegram eine Gegenöffentlichkeit aufzubauen und sich vom Medienmainstream zu entkoppeln.
Friedenshaltung und Sozialstaat
Die langjährige Smer-EU-Abgeordnete Katarína Roth Neveďalová antwortet in der Zeitschrift „Profil“ auf die tendenziöse Frage, wie sich die Ukraine denn verteidigen solle, wenn der Westen keine Waffen mehr liefere, sehr schlagfertig: „Wir kämpfen für das Ende des Krieges und für Verhandlungen. Jedes Land bestimmt selbst, ob es Waffen an die Ukraine liefert. Wir kritisieren den Zugang der EU, die sich zum Kriegsteilnehmer gemacht hat. Dabei ist sie ein Friedensprojekt und kein Militärbündnis.“ Weiter führt sie aus: „Die EU sollte sich für Frieden einsetzen und nicht für eine Verlängerung des Krieges. Die Slowakei kann der Ukraine nichts mehr geben, wir haben alles Militärmaterial geschickt, was wir haben. Die EU sollte sich aus diesem Konflikt heraushalten und vermitteln, anstatt sich für gemeinsame Beschaffung von Waffen einzusetzen. Ein jahrelanger Krieg hilft niemandem.“
Auf die Angriffe und Hetze seitens westlicher Politiker und Medien, die Smer-SSD sei eine Marionette Putins, konterte sie, „die Slowakei ist slowakisch, weder amerikanisch noch russisch“.
Auch in der Wahlkampagne spielten neben der sozialstaatlichen Programmatik und der wirtschaftlichen Erholung die Forderungen nach Waffenstillstand, Frieden und einem Ende der Waffenlieferungen eine zentrale Rolle. Das eine bedinge das andere.
Die Angst in der NATO-Zentrale vor einer Rückkehr von Smer-SSD in die Regierung führte diesen Sommer gar zu einer direkten Einmischung der NATO in den slowakischen Wahlkampf. Die NATO organisierte eine „Info- und Aufklärungskampagne“ für die den Waffenlieferungen am skeptischsten gegenüberstehenden Bevölkerungsgruppen. Nach heftiger Kritik seitens Fico musste sogar NATO-Generalsekretär Stoltenberg ausrücken und sich kleinlaut erklären.
Paukenschlag in Bratislava
Aller Diffamierung und Hetze aus dem Ausland zum Trotz, gewann Smer-SSD einmal mehr die slowakischen Parlamentswahlen und wurde deutlich stimmen- und mandatsstärkste Partei vor der liberalen und von den politischen Eliten in Brüssel und Washington favorisierten Partei „Progressive Slowakei“. Dritte im Rennen wurde die Smer-Abspaltung HLAS. Danach folgten andere rechtsliberale Parteien und auch die nationalkonservative SNS schaffte knapp den Einzug in den Nationalrat. Die Faschisten schafften es nicht. Der Blätterwald überschlug sich sofort und warnte einmal mehr vor dem „Gott sei bei uns“ Robert Fico als Premierminister. Entgegen den Erwartungen gelang es Smer-SSD in nur 11 Tagen die künftige Regierungsmehrheit auf den Weg zu bringen. Diese wird gemeinsam mit HLAS und der SNS gebildet werden.
In ihrem Regierungsmemorandum bekennt sich die Koalition zur EU- und auch NATO-Mitgliedschaft schreibt aber gleichzeitig den nötigen „Respekt vor den nationalen Interessen der Slowakei“ fest. Am Tag der Unterzeichnung sagte Ľuboš Blaha dem Autor dieses Artikels, dass „es mit HLAS programmatisch nicht so weitreichend antiimperialistisch gehe, wie er es persönlich gerne hätte, trotzdem ist es die bestmögliche Option“.
Auch Robert Fico betonte einmal mehr, dass er sich es sich nicht nehmen lasse, „die Dinge an der EU zu kritisieren, die ihm nicht gefallen“ und „die Slowakei größere Probleme als die Ukraine-Unterstützung habe“.
Brüssel bestraft Anti-Kriegs-Haltung
Schon zu Beginn der Koalitionsverhandlungen erhielt Fico einen Brief des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE), Stefan Lövfen, in dem die Drohung eines Ausschlusses der Smer-SSD aus der SPE ventiliert wurde, sollte die bisherige aktive Ukraine-Unterstützung der Slowakei nicht weitergeführt werden. Immerhin würden in der Ukraine ja „europäische Werte“ verteidigt werden.
Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments für die S&D, sagte der Info-Plattform Euractiv, sie beobachte sehr genau, „welche konkrete Politik Robert Fico und seine Partei verfolgen werden.“
„Unsere entschlossene Unterstützung für die Ukraine und unsere Position gegenüber Russland sind unveränderlich. Sollten Fico und Smer den Grundwerten der S&D-Fraktion und der SPE widersprechen, werden wir geschlossen und entschlossen reagieren. Europäische Werte und politische Integrität stehen für uns immer an erster Stelle“, fügte sie hinzu.
Bereits einen Tag nach Unterzeichnung des Koalitionsmemorandums beschloss das SPE-Präsidium die Suspendierung von Smer-SSD UND HLAS aus der SPE. Der österreichische SP-Delegationsleiter im EU-Parlament Andreas Schieder drückte über Twitter seine wohlwollende Unterstützung für diesen Beschluss und diese „nötigen Konsequenzen“ aus. Alle Räder müssen rollen für die weitere Kriegsführung ganz im Sinne der NATO-Führungsetage und der EU-Kommission, friedenspolitische Haltung dagegen hat in der (west)europäischen Sozialdemokratie offenbar keinen Platz mehr - 1914 lässt grüßen!
Eigentlich spricht diese Suspendierung nur für Smer-SSD, die als einzige den Mut hat, aus dieser Kriegslogik auszuscheren. Gerade die SPÖ, die früher einmal die Partei der Kreisky’schen Neutralitäts- und Friedenspolitik war, müsste, sofern sie noch einen Deut Selbstachtung und eigenständiges Profil hätte, solidarisch hinter ihrer slowakischen Schwesterpartei stehen. Stattdessen ordnet sie sich dem desaströsen EU-Bellizismus einmal mehr opportunistisch unter und schafft sich als politische Kraft für aktive Friedens- und neutrale Außenpolitik zunehmend ab.
David Stockinger
(Oktober 2023)