Die neutrale Position Serbiens im Ukraine-Krieg und die Verteidigung der eigenen territorialen Integrität ist der EU ein Dorn im Auge.


Am 23.02.2023, einen Tag vor dem Jahrestag des Beginns des völkerrechtswidrigen Einmarsches Russlands in die Ukraine, hat das EU-Parlament in Strasbourg eine Resolution beschlossen, die die weitere „EU-Annäherung“ Serbiens direkt mit der Übernahme des EU-Sanktionsregimes gegen Russland verknüpft. Man verlangt eine „Vollständige Angleichung der Außenpolitik der Republik Serbien“ mit jener der EU.

Dieser Beschluss ist nur ein vorläufiger Höhepunkt einer Reihe von Aufforderungen der EU gegenüber Serbien, die – freundlich formuliert- politischer Erpressung und einem Ultimatum nahekommen. Zumal Serbien nicht einmal EU-Mitglied ist und somit auch nicht der sogenannten „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)“ unterliegt.

Serbische Politiker, allen voran Staatspräsident Vucic und Außenminister Dacic haben in mehreren öffentlichen Stellungnahmen betont, der aktuelle Druck auf Serbien sei der stärkste seit dem westlichen (Kriegs-)Ultimatum in Rambouillet 1999, auf das die völkerrechtswidrige und von der EU politisch begleitete NATO-Aggression inklusive planmäßiger Zerstörung der zivilen und ökonomischen Infrastruktur gegen die damalige BR Jugoslawien folgte.

Neutral zwischen „Ost und West“

Serbien hat in den letzten 10 Jahren verstärkt eine multivektorale Außenpolitik entwickelt. Neben seinen offiziellen EU-Beitrittsambitionen wurden allumfassende Beziehungen- ökonomisch, politisch, kulturell- mit Russland, der VR China, der Türkei und anderen Ländern, besonders zu Mitgliedern der „Blockfreien“, ausgebaut. Russland ist der wichtige Energie-Partner, Gazprom gehört die Hälfte des serbischen staatlichen Öl-Gas-Unternehmens NIS (Nafta Industrija Srbije). Darüber hinaus ist Serbien seit 2019 durch ein Freihandelsabkommen mit der Eurasischen Wirtschaftsunion (Russland, Belarus, Kasachstan, Armenien, Kirgistan) assoziiert, was besonders für die serbische Landwirtschaft gute Exportmöglichkeiten schaffte. Die VR China wiederrum zählt zu den wichtigsten Partnern in der Entwicklung des Infrastrukturbereichs, besonders im Eisenbahnwesen, wo gerade in Kooperation mit dem Nachbarn Ungarn der Korridor Budapest-Belgrad in eine Hochgeschwindigkeitsstrecke ausgebaut wird, die in ihrem Endausbau einmal bis nach Wien gehen sollte. Zudem sind Russland und die VR China als ständige UN Sicherheitsratsmitglieder und Veto-Mächte die wichtigsten politischen Verbündeten in der Kosovo-Frage.

Russland stellt zudem für viele Serbinnen und Serben aus historischen und kulturellen Gründen so etwas wie einen „großen Bruder“ dar.

Per Parlamentsbeschluss hat Serbien 2007, das bis auf Bosnien und Herzegowina inzwischen von lauter NATO-Ländern umgeben ist, den Status der militärischen Neutralität angenommen. Im militärischen Bereich kooperiert Serbien bei Material und Technik mit der VR China, Russland und auch Belarus, hält mit diesen gemeinsame Übungen ab, beteiligt sich aber andererseits auch bei Trainings mit NATO-Ländern.

Serbien verfolgt somit seit über 10 Jahren einen eigenen Weg, eine Schaukelpolitik zwischen „Ost und West“. In der serbischen politischen Elite bzw. den maßgeblichen (Regierungs-) Parteien gilt die sich „sozialdemokratisierte“ Sozialistische Partei Serbiens (SPS) als die „Brücke nach Moskau“, ihr Vorsitzender Ivica Dacic, der auch langjähriger Außenminister ist, pflegt gute Beziehungen zum russischen Außenminister Lawrow. Vucics nationalkonservativ bis -liberale „Serbische Fortschrittspartei“ (SNS) gilt hingegen ideologisch eher als beliebig, situationselastisch und inhomogen. Einmal generiert sich die SNS „pro-westlich“ und redet den EU-Vertretern das Wort, das andere Mal gibt sie sich souveränistisch und blinkt nach Moskau und Peking. Auch in der parlamentarischen sowie außerparlamentarischen Opposition sind unterschiedliche Strömungen, das Verhältnis zu Russland und der NATO betreffend, vorhanden.  

Mit der Eskalation des Ukraine-Kriegs am 24.02.2022 durch Russlands Einmarsch und den darauffolgenden Sanktionswellen und der parteilichen Kriegsmobilisierung der EU und USA zugunsten der Ukraine, war zu erwarten, dass auch die Position Serbiens schwieriger werden würde.

Völkerrecht als Prinzip

Serbien hat mehreren Resolutionen der UN-Vollversammlung, die die territoriale Integrität der Ukraine bejahen und den Angriff Russlands als völkerrechtswidrig verurteilen, zugestimmt. Dies folgt einer prinzipiellen Haltung Serbiens, dass das Völkerrecht und die territoriale Integrität sowie Unverletzlichkeit anerkannter Grenzen von Staaten unantastbar sein müssen. Dieses Prinzip wird von Serbien so konsequent eingefordert, weil es vor nicht allzu langer Zeit selbst Opfer eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges war und seither um seine territoriale Integrität nach der einseitigen Sezession des Kosovo- der laut gültiger UN Resolution 1244 nach wie vor Bestandteil Serbiens ist- ringt. Hier war es der NATO-Westen, politisch begleitet durch die EU, der Völkerrecht brach, durch das Faustrecht ersetze und mit diesem Präzedenzfall die internationale Sicherheitsarchitektur aushebelte. Reparationszahlungen seitens der Aggressor-Staaten für die Schäden in der Höhe von über 100 Milliarden US-Dollar für zerstörte Industrie und Infrastruktur wurden bis heute nicht geleistet. Mehrere Tausend zivile Tote und Verletzte, sowie die langfristigen Nachwirkungen auf die Menschen durch den Einsatz der Depleted Uranium-Munition durch die NATO sind bis heute ungesühnt.

Der prinzipiellen Verurteilung des Einmarsches Russlands folgte jedoch keine Übernahme der westlichen Sanktionsorgie durch Serbien. Einerseits aus ökonomischen, wie auch aus politischen Gründen. Es wurden auch sonstige bilaterale Beziehungen und Kooperationen zu und mit Russland nicht eingeschränkt. Die damalige BR Jugoslawien war ab 1992 fast 10 Jahre lang einem sehr rigiden Sanktionsregime unterworfen, das im Land zu Armut, Korruption, Schwarzmarktkriminalität und dem Entstehen einer Schicht Neureicher führte. Führende serbische Politiker betonen daher immer wieder, dass sich mit Sanktionsregimen grundsätzlich keine Konflikte lösen lassen, immer die Schwächsten der sanktionierten Gesellschaft getroffen werden und Sanktionen Eskalationsspiralen in Konflikten noch verschärfen.

Heute stellt Serbien das letzte Land in Europa dar, dass z.B. regelmäßige Flüge nach Moskau unterhält und so auch zu einer Brücke über den „neuen eisernen Vorhang“ wurde. In beide Richtungen. Weiters wurde Serbien auch für viele Russen und Ukrainer zu einem Ausweichquartier vor Krieg und Mobilisierung.

Diese neutrale Haltung spiegelt sich auch im Alltagsleben wider: Es gibt prorussische Demonstrationen, es gibt eine ukrainische Diaspora, die auch auf die Straße geht. In den serbischen Medien gibt es Sendungen und Publikationen, in denen prorussische, neutrale, wie auch proukrainische Standpunkte Platz haben. Erst im Herbst hat in Belgrad das Outlet „Russia Today Balkan“ geöffnet.

„Wehe, wenn ihr nicht mitspielt!“

Seit Monaten ziehen nun die EU und USA Serbien die Daumenschrauben an. Hinzu kommt der Disput um den Kosovo, der rund um Weihnachten einmal mehr zu eskalieren drohte bzw. Ende Mai 2023 in den nördlichen serbischen Gemeinden, besonders in Zvecan, wieder für einige Tage eskalierte und etliche Dutzende schwerverletzte serbische Zivilisten und NATO-Kfor-Soldaten auf der Straße zurück ließ. Die Regierung des Kosovo-Premiers Albin Kurti zeigt sich für mögliche Kompromisse weniger nachgiebig. Wenn man weiß, wer realpolitisch im Kosovo das Sagen hat, kann man davon ausgehen, dass dies nicht unabgesprochen passiert. Der Westen und die Regierung in Pristina möchten eine endgültige „Lösung des Kosovo-Problems“, d.h. die Anerkennung des Kosovos durch Serbien und eine Aufnahme in alle internationalen Organisationen, inklusive der UN, erreichen. Vor dem Hintergrund, dass in den letzten Jahren immer mehr Länder, v.a. des Trikonts, die Anerkennung der Unabhängigkeit revidiert haben, selbst 5 EU-Mitgliedsstaaten den Kosovo weiter nicht anerkennen und Belgrad in den letzten Jahren zwar zu kleinen Zugeständnissen und Kompromissen, jedoch nicht zur finalen Kapitulation bereit war, erscheint dieses Ziel aus Sicht des Westens nur durch Druck auf Belgrad erreichbar zu sein. Nun wurde Belgrad von den führenden EU-Ländern und der USA ein „Vorschlag“ gemacht, der de facto die Anerkennung der serbischen Provinz bedeuten würde, in dem Serbien sich u.a. nicht mehr gegen die Aufnahme des Kosovos in internationale Organisationen, inklusive der UN, stellt.

Man kündigte Serbien nicht nur den Abzug westlicher Investitionen an, sondern drohte auch recht offen mit Sanktionen, sollte es hier zu keinem Einlenken kommen.

Die Stimmung in Serbien brodelt. Die Menschen, in der großen Mehrheit ausgelaugt und frustriert von über 20 Jahren „Transition“ zum neoliberalen Raubtierkapitalismus und grassierender Korruption, haben sich mental schon längst von einer weiteren „EU-Annäherung“ verabschiedet. Die Älteren haben den Vergleich, wie sich ihr Lebensstandard seit der Zerschlagung des sozialistischen Jugoslawiens stetig verschlechterte und welches soziale und kulturelle Niveau sie davor hatten. Das zeigen eigentlich alle Umfragen, seien sie nun von „regierungsnahen“ oder „prowestlicheren“ Instituten. Jahrzehntelang wurde ihnen eingeredet, dass die Übernahme „westlicher Standards“ zu mehr Wohlstand und Prosperität führen würden. Aber je näher sich Serbien „Richtung Europa bewegte“, wie es im politisch-korrekten Neusprech heißt, desto schlechter wurden die Arbeitsbedingungen, desto höher stiegen die Preise, desto kaputter und schlechter wurde der Sozialstaat und dessen Leistungen und desto mehr ehemalige Staatsbetriebe wurden privatisiert, danach zerteilt bzw. geschlossen und desto mehr, v.a. junge Menschen wanderten aus. Dafür kam die liberale „Investoren-Freiheit“.  Vucic führte hierbei eine Politik fort, die im Kern mit dem Aufzwingen neoliberaler Prinzipien und einer „wilden Privatisierung“ in den frühen 2000ern begann und „perfektionierte“ sie. Die Mehrheit in Serbien hat daher genug von leeren Versprechen und Ultimaten. Einen NATO-Beitritt lehnen sowieso ca. 85% der Serben ab. Aufgrund der eigenen Erfahrungen mit dem „Werte-Westen“ halten viele Serben die einseitige und erhabene Weltsicht der US-amerikanischen und EU-Eliten mit ihren Doppelstandards und ihrer Deutungshoheit für pure Heuchelei.

Bei einer finalen einseitigen geopolitischen Orientierung und damit einer finalen einseitigen ökonomischen Abhängigkeit hätte Serbien somit noch mehr zu verlieren, meinen kritischen Kommentatoren und Analysten in Belgrad.

Das Volk hat das letzte Wort

Vucic weiß, dass ein Bruch mit den traditionell sehr engen Beziehungen zu Russland für ihn das politische Ende bedeuten könnte. Dasselbe gilt für eine Anerkennung und Aufnahme des Kosovos in die UN. Im äußersten Falle könnte es auch zu Unruhen im Inneren führen.

Da der Druck auf das kleine Land seitens der EU derart groß ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Belgrader Regierung in den kommenden Wochen oder Monaten nachgibt bzw. bei Erscheinen dieses Artikels bereits eingeknickt ist.

Es ist bemerkenswert, dass das kleine Serbien bisher überhaupt standgehalten und als letztes Land in Europa seinen umfassend neutralen Status in diesem Weltkonflikt behalten hat. Einmal mehr zeigt sich, die EU, selbst inzwischen zu einer de facto-Kriegspartei geworden, duldet keine souveräne Staatspolitik. Es soll nur mehr Schwarz oder Weiß geben, Graubereiche sollen keine mehr zugelassen werden.

Gerade in einer zugespitzten Situation, in der neutrale Brücken für Verständigung, Dialog und Ausgleich in Europa so wichtig wären!

Am Ende des Tages wird jedoch der Souverän in Serbien entscheiden, welchen Kurs der Staat nimmt. Und der Widerspruchs- und Widerstandsgeist des serbischen Volkes, der „srpski inat“, ist aus der Geschichte gut bekannt. 

(Mai 2023)