Derzeit findet in Bolivien ein Staatsstreich gegen den gewählten Präsidenten Evo Morales statt. Die Solidarwerkstatt verurteilt den Staatsstreich und ruft die österreichische Regierung aber auch jene Parteien, die gegenwärtig Regierungsverhandlungen führen, auf, sofort öffentlich gegen diesen Staatsstreich Stellung zu beziehen.

Die Vorgeschichte

Ausgangspunkt der Gewaltwelle war zunächst der Streit über das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen im Oktober 2019. Evo Morales hatte diese Wahlen als Kandidat der MAS (Bewegung für den Sozialismus) mit mehr als 10 Prozent Vorsprung vor seinem rechten Widersacher Carlos Mesa gewonnen. Damit wäre keine Stichwahl notwendig gewesen. Die Opposition kritisierte, dass es zu Wahlfälschungen gekommen sei. Hintergrund dafür war, dass sich der Trend mit der letzten Million ausgezählter Stimmen deutlich zugunsten von Morales geändert hatte. Allerdings stammten diese Stimmen vor allem aus ländlichen Regionen, in denen Morales über eine hohe Anhängerschaft verfügt. Die Regierung reagierte auf die Kritik, indem sie eine umfassende Prüfung der Wahlergebnisse durch Experten der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) veranlasste. Die OAS war mit Wahlbeobachtern vor Ort gewesen und hatte ebenfalls "Bedenken" wegen Verzögerungen bei der Stimmenauszählung geäußert. Morales bat die Demonstranten unterdessen, die Neuauszählung abzuwarten und ihre Aktionen einzustellen. Zugleich forderte er seine Gegner auf, den OAS-Experten Beweise für ihren Vorwurf des Wahlbetrugs vorzulegen. Morales kündigte an, sich im Falle von Zweifeln einer Stichwahl zu stellen.

Am Sonntag hatte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) früher als erwartet einen „vorläufigen Bericht“ herausgegeben. Der detaillierte Bericht mit konkreten Ergebnissen werde "natürlich in Bälde noch veröffentlicht". Dieser „vorläufige Bericht“ ist mit vielen Konjunktiven gespickt: Es gäbe "nicht die Garantie, dass die ermittelten offiziellen Ergebnisse richtig sind". Man könne "nicht garantieren", dass die Wahl nicht manipuliert worden sei, es gäbe „Unregelmäßigkeiten“. Jedoch räumte die OAS ein, dass die Analyse in sehr kurzer Zeit erarbeitet wurde und somit keine vollständige Überprüfung möglich war. Es gäbe "statistische Prognosen", "deren Berücksichtigung es möglich machen", dass Morales die Wahl gegenüber seinem Herausforderer Carlos Mesa gewonnen hat, es sei jedoch "statistisch unwahrscheinlich, dass Morales eine zehnprozentige Differenz erreicht hat, um eine zweite Runde zu vermeiden". Trotzdem also keine Beweise für einen Wahlbetrug vorgelegt wurden, "empfiehlt" die OAS Neuwahlen. Laut Nachrichtenagentur Telepolis betreffen, die „Unregelmäßigkeiten“ von denen die OAS spricht, 78 von insgesamt 34.555 Ergebnisprotokollen. Das sind exakt 0,22 Prozent (2).

Eine Anmerkung muss dazu gemacht werden: Die OAS ist keineswegs ein unvoreingenommener Beobachter. Ihr Sitz ist in Washington DC, ihr reguläres Budget wird großteils von den USA finanziert, vielen gilt sie als Instrument US-amerikanischer Außenpolitik. So warf etwa die mexikanische Vertreterin in der OAS, Luz Elena Baños, der OAS-Beobachtungsmission in Bolivien vor, dass sie die Prinzipien der "Objektivität und Neutralität" verletzt und sich in "einen noch nicht abgeschlossenen Wahlprozess eingemischt" habe (3).

„Mein Vergehen ist es, links, Indígena und Antiimperialist zu sein!“

Dennoch reagierte Evo Morales umgehend auf den OAS-Bericht und erklärte auf einer Pressekonferenz: "Ich habe beschlossen, neue landesweite Wahlen einzuberufen, damit dem bolivianischen Volk durch eine demokratische Abstimmung ermöglicht wird, seine neue Regierung zu wählen, unter Einbeziehung neuer politischer Akteure" (4).

Aber genau daran hatte die rechte Opposition gar kein Interesse. Oppositionschef Mesa lehnte jeglichen politischen Dialog ab: "Ich habe nichts mit Evo Morales und seiner Regierung zu verhandeln“ (5). Die Gewaltexzesse der Regierungsgegner nahmen trotz der Ankündigung von Neuwahlen nicht ab, sondern zu: Staatliche Rundfunk- und Fernsehsender wurden von Regierungsgegnern besetzt, Amtsträger und Gewerkschaftsfunktionäre sowie der Familienmitglieder in aller Öffentlichkeit misshandelt, mit dem Tod bedroht und deren Häuser angezündet. Rassistische Gangs machten Jagd auf Indigene. Die Sicherheitsbehörden schritten nicht ein. Vielmehr meuterte die Polizei in Städten wie etwa Santa Cruz, Sucre und Cochabamba. Mit Gewalt gingen Polizeikräfte und Militärs gegen die Anhänger von Evo Morales vor. Als die Einwohner der Armenviertel von El Alto im Departement La Paz am Montag gegen den Staatsstreich protestierten, wurden sie von der Polizei massiv attackiert. Dabei kam am Montag ein kleines Mädchen ums Leben. Laut Medienberichten sollen am Montagabend indigene Gemeinden in La Paz und El Alto aus Militärhubschraubern beschossen worden sein, dabei habe es sechs Tote und mehr als 30 Verletzte gegeben (6).

Die Armeeführung forderte Morales - formal nur als "Vorschlag" formuliert, der Sache nach aber ultimativ - zum Abdanken auf. Morales gab dem Druck schließlich nach und reichte, um Blutvergießen zu vermeiden, seinen Rücktritt ein. Weniger später ging er ins mexikanische Asyl, da er sein Leben in Gefahr sah. Morales unterstrich, dass es sich um einen Staatsstreich handelt: „Die Polizei erhebt sich gegen einen Präsidenten und die Streitkräfte fordern den Rücktritt eines Präsidenten, der das einfache Volk vertreten hat" (2). Seine Botschaft: „Mein Vergehen ist es, links, Indígena und Antiimperialist zu sein!“ Bald werde er "mit mehr Kraft und Energie zurückkommen. „Der Kampf geht weiter!“ (7)

Die treibenden Kräfte des Umsturzes

Treibende Kräfte des Umsturzes sind vor allem weitgehend weiße, wohlhabende Kreise aus dem bolivianischen Tiefland - nicht zuletzt Großgrundbesitzer -, denen die Umverteilung zugunsten der verarmten indigenen Bevölkerung insbesondere im Hochland wie auch die Verstaatlichung wichtiger Bodenschätze seit je ein Dorn im Auge war; beides hatte Morales seit dem Beginn seiner ersten Amtszeit im Januar 2006 systematisch und mit Erfolg vorangetrieben. Die MAS-Regierung kann auf wirtschaftliche Stabilität und die höchsten Wachstumsraten (durchschnittlich vier Prozent) in der Region verweisen. Laut Daten der Weltbank wurde die Armutsrate von 60 Prozent (2006) auf 35 Prozent (2018), die extreme Armut von 40 auf 15 Prozent gesenkt (8).

Diese Politik zugunsten der Armen hatte ihm den - rassistisch aufgeladenen - Hass der Eliten insbesondere aus der Tieflandmetropole Santa Cruz eingebracht, ihm aber lange Zeit bei Wahlen sichere absolute Mehrheiten dank der indigenen Bevölkerung garantiert. Dass sich beim jüngsten Urnengang gewisse Einbrüche zeigten, liegt – neben dem Vorwurf der politischen Verkrustung - auch daran, dass die steigende Ausbeutung der Rohstoffe zwecks Förderung der Wirtschaft zu Widerständen in wachsenden Teilen der indigenen Bewegungen führte, denen die Regierung von Präsident Morales ihre Macht verdankte. Dazu hat zuletzt auch ein deutsches Unternehmen, die ACI-Systems Alemania, beigetragen, die am Abbau der riesigen bolivianischen Lithiumvorräte beteiligt wurde, dann aber die Gemeinden in der Förderregion nicht - wie geplant - an den Erlösen beteiligte. Daraufhin regte sich Protest, der sich auch gegen den Präsidenten richtete. Die Regierung hat erst vor wenigen Tagen nachgegeben und der deutschen Firma die Fördererlaubnis entzogen – offensichtlich zu spät, um den Unmut zu mildern. Wenige Tage vor dem Putsch kündigte der Unternehmenschef von ACI Systems Alemania, Wolfgang Schmutz, gegenüber dem Spiegel an: "Wir geben dieses Projekt nicht einfach auf“ und forderte „Unterstützung der Politik“ (9). Michael Schmidt von der Deutschen Rohstoffagentur nennt das Leichtmetall Lithium einen "Schlüsselrohstoff der kommenden Jahrzehnte" (10). Denn aus Lithiumkarbonat lassen sich besonders leistungsstarke Batterien herstellen, die sich für den Einsatz in Elektroautos eignen. 70% der weltweiten Lithium-Vorkommen werden im Dreiländereck Bolivien-Chile-Argentinien vermutet.

USA und EU auf Seiten der alten rechtslastigen Eliten

Eine Vielzahl vor allem lateinamerikanischer Staaten haben bereits den Staatsstreich verurteilt. Anders ist die Situation in den USA und der EU. Die EU-Außenbeauftragte Mogherini konnte sich bisher ebenso wenig zu einem Wort der Kritik am Putsch in Bolivien durchringen, wie die deutsche Bundesregierung. US-Präsident Trump begrüßt den Putsch als "bedeutenden Moment für die Demokratie" in Lateinamerika (11). Da will die Bundestagsfraktion der deutschen Grünen nicht nachstehen und gratulierte dem bolivianischen Militär, dass „es die richtige Entscheidung getroffen habe, sich auf die Seite der Demonstrierenden zu stellen“ (10). Die Einseitigkeit von USA und EU ist durchaus auch wirtschaftlich motiviert, da die MAS-Regierung unter Evo Morales mit der Verstaatlichung von Öl-, Gas-, Elektrizitäts- und Telekommunikationsunternehmen sich den Ausbeutungsinteressen westlicher Großkonzerne in den Weg gestellt hat.

Entsprechend eng sind die Verbindungen von US- und EU-Eliten zur rechtslastigen Opposition in Bolivien. Bolivianische Medien haben mehrere Audiodateien veröffentlicht (2), in denen Oppositionsführer einen Staatsstreich gegen Morales beraten. Ein entsprechender Plan sollte schon vor der Wahl von der US-Botschaft in Bolivien koordiniert werden. Die US-Senatoren Ted Cruz und Marco Rubio wurden als direkte Kontakte für die bolivianische Opposition genannt. Sollte Morales die Wahlen am 20. Oktober gewinnen, müsse eine zivil-militärische Übergangsregierung gebildet werden. Auch der Angriff auf Gebäude der Regierungspartei sowie die kubanische Botschaft und ein Generalstreik wurden diskutiert. Auch Vorfeldorganisationen der deutschen Regierungspolitik mischen im Kampf gegen die verhasste MAS-Regierung seit langem mit. So hatte etwa die „Naumann-Stiftung“ der FDP Verbindungen zum Comité pro Santa Cruz, einer ultrakonservativen Vereinigung von Großgrundbesitzern und Agrarindustrie. Dessen Vorsitzender Branko Marinković, Großgrundbesitzer und Multimillionär, wird von der bolivianischen Justiz aufgrund mehrerer Zeugenaussagen beschuldigt, einem ehemaligen Kroatiensöldner und mehreren weiteren Europäern Geld für einen Mordanschlag auf Morales angeboten zu haben. Marinković setzte sich daraufhin ins Ausland ab. Zuletzt befeuerte er von Brasilien aus Morales' Sturz, den sein Nachfolger an der Spitze des Comité pro Santa Cruz, Fernando Camacho, vor Ort vorantrieb und sich nun offen für die Bildung einer "Regierungsjunta" ausspricht (10).

Nein zum Staatsstreich!

Die Solidarwerkstatt verurteilt den Staatsstreich in Bolivien und ruft sowohl die derzeitige österreichische Regierung aber auch jene Parteien, die gegenwärtig Regierungsverhandlungen führen, auf, sofort öffentlich gegen diesen Staatsstreich Stellung zu beziehen. Österreich muss sich für eine Ende der Gewalt und politischen Dialog einzusetzen. Das beinhaltet die sofortige Wiederherstellung von Rahmenbedingungen, die die Rückkehr des bis 22. Jänner 2020 ordnungsgemäß amtierenden Präsidenten Evo Morales aus dem mexikanischen Asyl erlauben. Einmal mehr zeigt sich außerdem, wie notwendig der Ausstieg Österreichs aus der Unterordnung unter die EU-Außenpolitik und ihre Gremien ist, um eine unabhängige und neutrale Außenpolitik betreiben zu können.

(13.11.2019)

NACHTRAG (23.11.2019)
Knapp zwei Wochen nach dem Staatsstreich sind noch immer keine Belege für die Wahlfälschung von der OAS vorgelegt worden (hier dazu eine aktuelle Information). Die offen rassistische, indigena-feindliche Senatorin Jeanine Añez hat sich selbst in einer institutionellen Farce zur Interims-Präsidentin ernannt. Der Widerstand gegen den Staatsstreich hat massiv zugenommen. Die Sicherheitskräfte gehen dagegen mit äußerster Brutalität vor. Am 21.11. wurde in Medien berichtet, dass bereits 31 Menschen von Armee und Polizei getötet und 500 verletzt wurden.
In der Schweiz haben 81 aktuelle bzw. ehemalige Bundes- und Kantons-Parlamentarier in einem Offenen Brief ihre Stimme gegen den Staatsstreich in Bolivien erhoben, in Österreichs National-, Bundesrat und Landtagen herrscht immer noch beschämendes Schweigen. Shame on you!

Quellen:

(1) Amerika 21, 10.11.2019, Evo Morales tritt in Bolivien nach Ankündigung von Neuwahlen zurück, https://amerika21.de/2019/11/233847/neuwahlen-bolivien-putschversuch-oas

(2) Telepolis, 12.11.2019, Warum es in Bolivien einen Putsch gab, https://www.heise.de/tp/features/Warum-es-in-Bolivien-einen-Putsch-gab-4584644.html

(3) Amerika 21, 20.10.2019, Evo Morales gewinnt Präsidentschaftswahlen in Bolivien, https://amerika21.de/2019/10/233058/bolivien_evo_morales_wahlen_sieg_mesa

(4) Amerika 21, 10.11.2019, Evo Morales tritt in Bolivien nach Ankündigung von Neuwahlen zurück, https://amerika21.de/2019/11/233847/neuwahlen-bolivien-putschversuch-oas

(5) www.vn.at, 10.11.2019, Morales kündigt Einberufung von Neuwahlen in Bolivien an, https://www.vn.at/ohne-kategorie/2019/11/10/machtkampf-in-bolivien-tv-sender-besetzt-polizei-meutert.vn

(6) Amerika 21, 13.11.2019, Militär hat in Bolivien die Kontrolle übernommen, Evo Morales erreicht Mexiko, https://amerika21.de/2019/11/233972/militaer-kontrolle-bolivien

(7) Junge Welt, 12.11.2019, Solidarität mit Bolivien!, https://www.jungewelt.de/artikel/366592.der-kampf-geht-weiter-solidarität-mit-bolivien.html

(8) Amerika 21, 21.10.2019, Stichwahl in Bolivien wahrscheinlich, https://amerika21.de/2019/10/232868/bolivien-morales-mesa-stichwahl

(9) Der Spiegel, 7.11.2019, Deutsches Unternehmen ruft Altmaier um Hilfe, https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/bolivien-stoppt-lithium-projekt-peter-altmaier-zu-hilfe-gerufen-a-1295027.html

(10) Nachrichtenprotal www.german-foreign-policy.com, Berlin und der Putsch, 12.11.2019, in: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8102/

(11) finanzen.at, 11.11.2019, Trump lobt Morales-Rücktritt in Bolivien als Sieg der Demokratie https://www.finanzen.at/nachrichten/aktien/trump-lobt-morales-ruecktritt-in-bolivien-als-sieg-der-demokratie-1028678278