Ende Juli putschten im zentralafrikanischen Niger die Militärs gegen Präsident Mohamed Bazoum. Die regionale Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS verhängt Sanktionen. Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich drängt auf eine Militärintervention. Eine erste Analyse von Günther Lanier, Ouagadougou 12. August 2023.
Es ist eine Katastrophe, ob der Krieg von der regionalen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS jetzt mit Waffen oder weiterhin “nur“ mit wirtschaftlichen Sanktionen geführt wird. Ein Desaster nicht für die Junta (es könnte durchaus sein, dass es ihr gegen innere und vor allem äußere Widerstände gelingen wird, sich allen Urgierens einer sofortigen Rückkehr zur Demokratie zu erwehren). Nein, eine Katastrophe für die kleinen Leute. Wieder einmal.
Eine burkinische Bekannte, die selbst mehrere Jahre in Niamey gelebt hat, meint lakonisch: Die Menschen im Niger sind Krisen gewohnt, sie werden auch diese überstehen.
Doch die Schwierigkeiten, die sich da auftürmen, sind enorm. Es hat gerade erst begonnen, aber alles deutet darauf hin, dass es noch viel schlimmer kommen wird. Das rigorose Handelsverbot der ECOWAS bedeutet Teuerung und Knappheiten, derzeit insbesondere beim Strom. Und die Sanktionen der regionalen Zentralbank BCEAO bedeuten zu wenig Geld für die Gesamtwirtschaft und vor allem für die Einzelnen.
Zu allem Überfluss wird noch ein guter Teil der Entwicklungshilfe gekappt. Nicht, dass diese in den letzten 60 Jahren für eine grundsätzliche Verbesserung der Lebensumstände im Land gesorgt hätte. Aber ein Teil des Geldes war tatsächlich bei denen angekommen, für die es bestimmt war. Diese Mittel zum Überleben werden bald abgehen.
Die Militärs haben einen Riegel zwischen Nordafrika und den Rest des Kontinents geschoben. Der Staatsstreich vom 26. Juli in Niamey, der Hauptstadt des Niger, sorgt für eine lückenlose Barriere vom Atlantik im Westen bis zum Roten Meer im Osten: Im Großteil des Sahel[2], am Südufer der Sahara (Sahel bedeutet Ufer), haben jetzt ungewählte Militärs das Sagen. Und in der von Frankreich geschmiedeten Anti-Terrorismus-Front “G5 Sahel“ sind in vieren der fünf Länder[3] in den letzten drei Jahren Staatsstreiche gelungen, in Mali zwei (18.8.2020 und 24.5.2021), im Tschad am 20.4.2021 (dieser wurde auf Betreiben Frankreichs vertuscht), in Burkina auch zwei (24.1. und 30.9.2022) und soeben nun im Niger. Dort muss sich die Junta freilich noch beweisen.
Ein Nebeneffekt des Riegels ist, dass aus dem Norden kommende internationale Flüge teils große Umwege in Kauf nehmen müssen, um den Süden Afrikas zu erreichen, was insbesondere ins Geld geht[4]. Sanktionen sind auch für die sie Austeilenden nicht gerade positiv, das weiß Europa sowieso zur Genüge.
Doch die Hauptleidtragenden sind die Menschen im Niger.
Wie war die Ausgangssituation, die Lage vor dem Putsch?
Vor etwa zwei Monaten schätzte OCHA, das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, die Zahl der Hilfe-Bedürftigen im Land auf 4,3 Millionen[5], 17% der Bevölkerung. Die Armutsrate lag nach ihren Angaben zuletzt bei 41%, das entsprach 10,7 der insgesamt 26 Millionen NigrerInnen[6]. Die Zahl der Binnenflüchtlinge lag bei 371.900. Außerdem befanden sich 255.500 Flüchtlinge im Land[7], etwa drei Viertel aus Nigeria und ein Fünftel aus Mali[8].
FEWS Net (Hungersnot-Frühwarnsystem-Netz[9]) hat in seinem Juni-Bericht zur Ernährungssicherheit im Niger[10] die von Terrorismus betroffenen Landesteile (die Regionen im Westen entlang der malischen und burkinischen Grenze und im Südosten entlang der Grenze zu Nigeria) als “in Krise“ (akute Ernährungsunsicherheit) eingestuft, was insbesondere an den Behinderungen liegt, die terroristische Angriffe für Landwirtschaft und Viehzucht mit sich bringen. Auch der Großteil des übrigen Landes wurde in Sachen Ernährungssicherheit als “im Stress“ eingestuft[11].
Die Versorgungslage mit Lebensmitteln auf den Märkten des Landes lag unter dem langjährigen Durchschnitt. Die gefürchteten, generell als “soudure“[12] bezeichneten Monate vor dem Einbringen der neuen Ernte, wo die Vorräte vom Vorjahr aufgebraucht sind, fallen angesichts der generellen Unsicherheit in weiten Teilen Nigers und in seinen Nachbarländern heuer heftiger aus als sonst. Dadurch erhöhen sich auch die Preise, die damit trotz der guten Ernte im Jahr 2022 über dem langjährigen Durchschnitt lagen – nicht extrem darüber, aber merkbar.
In diesem nicht dramatischen, aber angespannten Kontext fand am 26. Juli der Putsch statt.
So wie es aussieht, war der Auslöser, dass Präsident Mohamed Bazoum den Chef seiner Präsidialgarde austauschen wollte. Dem kam dieser zuvor, indem er Bazoum gefangen nahm und selbst an der Spitze eines Nationalen Rates für den Schutz des Vaterlandes (Conseil national pour la sauvegarde de la patrie/CNSP) die Macht übernahm, die Verfassung außer Kraft setzte, Demonstrationen verbot, usw.
Seit er den Rest der Armee hinter sich gebracht hat, ist General Abdourahamane Tchiani de facto Staatschef, auch wenn Bazoum sich bisher geweigert hat abzudanken. Im Eilzugstempo wurden Maßnahmen getroffen, für die sich die Junten in Mali und Burkina viel mehr Zeit gelassen haben. Insbesondere wurde die militärische Zusammenarbeit mit Frankreich gekündigt – was Paris nicht akzeptiert: so etwas könne nur ein legitimer Präsident entscheiden. Die 1.500 gut ausgerüsteten französischen Militärs, Rest der aus Mali und Burkina hinausgeworfenen Truppen, bleiben zumindest vorerst im Land und stellen für die Junta sicher eine mindestens ebenso große Bedrohung dar wie die angedrohten Interventionstruppen, die am Gipfel der ECOWAS-Staatschefs in Abuja am Donnerstag “aktiviert“, aber noch nicht entsandt worden sind.
Der Putsch wurde im Land selbst weitgehend begrüßt und die Junta genießt bisher beträchtlichen Rückhalt in der Bevölkerung. Das hat in Europa und auch in Amerika überrascht, galt der Niger doch als Vorzeigedemokratie. Mahamadou Issoufou, der 2011 zum Präsidenten gewählt worden war, hatte sich schnell zum Liebkind des Globalen Nordens entwickelt, unter anderem, weil er sich in Migrationsfragen als williger Partner der Festung Europa erwies. 2021 übernahm dann mittels Wahlsiegs der von Issoufou zu seinem Nachfolger erwählte Bazoum[13]. Issoufou war im Ausland ein Star – im Inland war er unter anderem ob seines groben Umgangs mit der Opposition alles andere als beliebt. Bazoum setzte Issoufous Politik im Wesentlichen fort, auch wenn er offenbar etwas weniger unbeliebt war als sein Vorgänger. Dass er den französischen Truppen nach deren beschämendem Rauswurf aus Mali Unterschlupf bot, wurde ihm in weiten Kreisen nicht verziehen. Auch die USA haben Militärs im Land und betreiben in der Nähe von Agadez eine Drohnen-Basis; sie sind für NigrerInnen viel weniger ein Problem. Die Wunden der französischen Herrschaft sind nach über 60 Jahren Unabhängigkeit nicht verheilt. Dazu hat wesentlich der bis herauf zu Macron von Präsidenten, BotschafterInnen und sonstigen VertreterInnen des französischen Staates gepflogene koloniale Habitus beigetragen, der dummer- und anachronistischerweise einem Überlegenheitskomplex die anmaßende Verachtung der (neo)kolonial beherrschten und ausgebeuteten Völker beimischt und Afrika wie einen Privatbesitz behandelt, einst verwaltet von Gouverneuren, heute von schlecht gewählten PräsidentInnen, die von Paris jederzeit zum Rapport einbestellt werden können[14]. Doch die Zeit der Eingeborenenordnung[15] und der Unterwürfigkeit sind glücklicherweise vorbei. Die heutige Jugend in den einstmals französischen Kolonien kennt gegenüber Paris, seiner Politik und seinem Militär keinen Respekt[16]. Letzteres hat nicht erreicht, worum es gebeten und wofür es ins Land gelassen wurde – dann soll es wieder gehen.
An der Argumentation ist nicht viel auszusetzen. Allerdings wäre es für Bamako, Ouagadougou und jetzt Niamey weniger teuer gewesen, das Hinauskomplementieren höflicher zu gestalten. Doch die Junten wollen ihr Renommee im Landesinneren aufbessern, indem sie dabei gesehen werden, wie sie die einstigen Herren demütigen. Die neuen Herren von Niamey haben als Impertinenz wahrgenommene Schroffheit scheinbar zum allgemeinen Umgangston mit allem gemacht, was von außen kommt. Kaum jemand ist wichtig genug, dass Tchiani ihn (z.B. den Entsandten der ECOWAS) oder sie (die US-Vize-Außenministerin) empfängt, eine gemeinsame Delegation von Afrikanischer Union, UNO und ECOWAS wurde gar nicht erst ins Land gelassen[17]. Die nationalistisch stolzgeschwellte Brust kommt offenbar in weiten Teilen der Bevölkerung gut an, gemeinsame FeindInnen schweißen zusammen[18], doch gegenüber der regionalen Wirtschaftsgemeinschaft ist das gleichbedeutend mit Eskalation. Die Zeichen dort stehen auf Sturm und Konflikt.
Die ECOWAS-Sanktionen
Am 30. Juli, vier Tage nach dem Putsch, fand in Abuja[19] ein außerordentlicher Gipfel der ECOWAS-Präsidenten statt. Dass die Mitgliedschaft Niameys suspendiert und Sanktionen (Handelsembargo, Zugangserschwernis für die gemeinsame Franc CFA-Währung, Reiseverbot) ergriffen würden, war von vornherein klar. Dass der Freilassung Bazoums hohe Priorität eingeräumt wurde, ist nicht überraschend, gilt ECOWAS doch als “Club der Staatschefs“, der vor allem dem Wahren von deren Interessen dient. So war der nigerianische Präsident Tinubu auf dem Gipfel zu hören mit folgenden bedeutungsschwangeren Worten: “Einer von uns, Bazoum, wird von seiner Armee als Geisel gehalten. Das ist ein Angriff auf jeden einzelnen von uns und wir müssen sehr robuste Maßnahmen ergreifen.“[20] Der nigrischen Junta wurde ein einwöchiges Ultimatum gestellt: Bis Sonntag, 6. August sei Bazoum zu befreien und die Rückkehr zur konstitutionellen Ordnung zu bewerkstelligen. Sonst könne die ECOWAS militärisch intervenieren.
Das war noch nie geschehen. Ist es nur eine Rute im Fenster? Ein Druckmittel, damit Tchiani & Co wenigstens in Verhandlungen einwilligen?
Wenn, dann hat es nicht gewirkt. Niamey hat angesichts der drohenden Militärintervention seinen Luftraum geschlossen und es ist im Land zu einer Art nationalem Schulterschluss gekommen. Die Regierungen der beiden westlichen Nachbarländer Mali und Burkina Faso (sie waren nicht am Gipfel dabei, sind ebenso wie Guinea wegen ihrer Staatsstreiche suspendiert) haben sich mit dem Niger solidarisch erklärt, sie würden einen Angriff auf ihren Nachbarn als Kriegserklärung auffassen, Niger unterstützen sowie aus der ECOWAS austreten. Aus Conakry war Ähnliches zu hören, der Tschad erklärte, er würde nie militärisch intervenieren und auch Mauretanien und Algerien stellten sich einer Militärintervention entgegen.
Überhaupt schien der Schreck vor einem westafrikanischen Krieg vielen in die Glieder gefahren zu sein, inklusive der nigrisch-burkinischen Bischofskonferenz und dem nigerianischen Senat. Schließlich würde ein solcher Krieg zweifellos auch den diversen terroristischen Gruppen in die Hände spielen. Paris scheint eine Militärintervention dennoch unbedingt zu wollen, die USA haben sich zögernd auch einverstanden erklärt[21], in Westafrika sind Tinubu, Ouattara[22] (Côte d’Ivoire), Sall (Senegal) und Talon (Benin) die hauptsächlichen Kriegstreiber. In der Woche des Ultimatums trafen sich die Stabschefs der nicht-suspendierten ECOWAS-Länder in Abuja und entwarfen einen Schlachtplan.
Als die nigrische Junta mitnichten Folge leistete – ihr wird auch nichts geboten im Tausch gegen die Macht, die sie innehat, wenn auch illegitim – und der 6. August ohne Geiselbefreiung oder Wiedererrichten der konstitutionellen Ordnung verstrich, berief Tinubu für Donnerstag, den 10. August, einen abermaligen Staatschef-Sondergipfel ein. Auf dem wurden die Sanktionen gegen den Niger bestätigt (oder sogar verschärft – in seiner Stellungnahme nach dem Gipfel sprach Ouattara von Verschärfung) und die Bereitschaftstruppe wurde “aktiviert“. Favorisiert wird aber nach wie vor eine Verhandlungslösung. Der Krieg ist somit weiterhin nicht erklärt, die Stabschefs werden sich kommende Woche treffen, um den Schlachtplan weiter zu konkretisieren. Ganz offensichtlich sollen Tchiani & Co noch stärker unter Druck gesetzt werden.
Was die Militärintervention betrifft, scheint wie gesagt Paris besonders interessiert. Es scheint, als sei “ECOWAS (…) für den Westen zum bevorzugten Vehikel indirekter Interventionen geworden, die sich hinter der Rückkehr zur ‘verfassungsgemäßen Ordnung‘ oder ‘good governance’ verbergen“[23]. Dabei nimmt die ECOWAS den Mund zwar sehr voll, was Verfassungsmäßigkeit und Legalität betrifft, setzt sich selbst jedoch scheinbar bedenkenlos über Regeln hinweg. So ist eine Militärintervention in den Statuten (Vertrag von Cotonou ergänzt um die Protokolle von Lomé und Dakar) nicht vorgesehen und widerspricht dort festgelegten Prinzipien. Auch die drastischen Sanktionen gegen den Staatsstreich im Niger widersprechen den Statuten, sind dort doch mildere Maßnahmen für Länder in sozialen oder ökonomischen Problemlagen vorgesehen, insbesondere für solche, die keinen Zugang zum Meer haben.
Die Auswirkungen der Sanktionen
Doch kehren wir aus den Höhen der Macht wieder in die Niederungen des gemeinen Volkes zurück. Die Grenzen sind zu, insbesondere für Im- und Exporte, und Geld gibt es nur beschränkt, weil die Zentralbank zugemacht hat und Konten, auf denen die Gelder der Regierung liegen, gesperrt wurden. Am unmittelbarsten wirksam war das Kappen der Stromlieferungen aus Nigeria, das zuvor um die 70% des nigrischen Stroms lieferte. In Niamey gibt es jetzt 19 bis 20 Stunden täglich Stromausfall, 4 bis 5 Stunden lang gibt es Strom[24]. Der Preis von Batterien ist in die Höhe geschnellt, am 1. August, als Nigeria die Stromlieferungen einstellte, kostete eine Batterie 150 Francs CFA (0,23 Euro), neun Tage später, am 10. August waren es bereits 300 Francs CFA (0,46 Euro). Wir können nur froh sein, dass im ganzen Land nur 21% ans Stromnetz angeschlossen sind, so sind 79% der NigrerInnen von dieser Sanktion unbetroffen[25]. Bei den Lebensmitteln hat die Teuerung erst begonnen. Ein 25kg-Sack Reis kostete nach nur elf Tagen Sanktionen nicht mehr 11.000 (16,8 Euro), sondern 15.000 Francs CFA (22,9 Euro). Tomaten, gegen Ende der Trockenzeit und in der Regenzeit generell teuer, sind unerschwinglich geworden. Bei der Bank – für die, die Bankkonten haben – kriegt eineR nur einen Teil dessen, was sie oder er will: statt 100.000 nur 25.000, statt 1.000.000 nur 100.000[26]. Die Gehälter der BeamtInnen konnten Ende Juli offenbar bezahlt werden. Unter den PensionistInnen hingegen gab es welche, die Glück hatten, andere bekamen diesmal ihre Pension nicht ausbezahlt.
Da die Grenzen zu sind, wird es an immer mehr importierten Waren mangeln. Besonders schlimm ist das bei Lebensmitteln und Medikamenten. Deren steigende Preise oder Nichtverfügbarkeit wird die Armen am härtesten treffen. Dass überhaupt Sanktionen zulässig sind, die nicht die Entscheidenden und Mächtigen treffen, sondern Leute, die nun wirklich nichts dafür können, ist eine unbegreifliche Ungerechtigkeit[27].
Bisher kaum Auswirkungen hat der sanktionsbedingte Stopp des Pipeline-Projektes – im Oktober hätte erstmals Öl Richtung Süden, Richtung Cotonou fließen sollen. Sollten die Sanktionen sich verewigen, so werden der Regierung in Zukunft Einnahmen[28] fehlen, unmittelbar betroffen sind nur die Beschäftigten des Projektes. Das gilt auch für das Einstellen der Arbeiten am Kandadji-Staudamm am Fluss Niger unweit der malischen Grenze. Er hätte ab 2025 um die 45.000 ha bewässern und über seinen Beitrag zur Ernährungssicherheit auch zur Stromversorgung des Landes beisteuern sollen[29].
Bisher geben die Betroffenen die Schuld für die drastischen Sanktionen dem feindlichen Ausland und der ECOWAS. Letztere hat sie ja auch tatsächlich verhängt. Das von der Junta vielbeschworene Volk bei der Stange zu halten, wird angesichts der sich mit der Zeit verschärfenden materiellen Lage jedenfalls eine Herkulesaufgabe sein.
Und die Demokratie bei dem allen?
Sie ist arg in Verruf geraten im Niger und Umland.
Zurecht.
Sie hat ihre Versprechen nicht eingelöst.
Kurz bevor Frankreich und Großbritannien ihre Kolonien in die Unabhängigkeit entließen (teilweise verstießen), stülpten sie diesen ein demokratisches System über. Die von ihnen vorbereiteten Einheimischen übernahmen dann die Macht und verwalteten sie mehr (Kompradoren, Hilfseliten) oder weniger (Nkrumah, Sankara) im Sinn der ehemaligen Kolonialherren. Meist nutzten die Eliten die Position an der Staatsspitze für sich und ihre Familie, ihren Klüngel. Von der Staatsspitze aus, an der Schnittstelle zwischen globaler und nationaler Ökonomie, ließen und lassen sich Ressourcenflüsse am besten anzapfen. Türhüter-Staaten (gatekeeper states) hat Frederick Cooper sie genannt und solche Staaten können Demokratien oder Diktaturen sein. Bei ersteren handelt es sich jedoch um Fassadendemokratien[30].
Dass sie nichts zu sagen haben. Und dass es auch nicht um sie geht. Das hat eine große Mehrheit der Leute verstanden.
Dass es keine ökonomische Sicherheit für sie gibt. Dass vor allem die ländliche Bevölkerung grob vernachlässigt wird. Das war nicht zu übersehen.
Angesichts der allgemeinen Perspektivlosigkeit ist es vielen und insbesondere ungeduldigen Jugendlichen egal, ob sie von einer Junta oder einer demokratisch gewählten Regierung beherrscht werden. Warum sollten sie Mohamed Bazoum wieder auf seinen Thron setzen? Tchiani und sein Stil sind wenigstens neu an der Staatsspitze. Fast alles spricht dafür, dass auch er das Volk nur im Mund führt, um eigene Interessen zu bedienen. Und es ist höchst unwahrscheinlich, dass er sich für dieses Volk ins Zeug legt.
Doch immer wieder lassen radikale Umbrüche wie der Staatsstreich in Niamey vom 26. Juli Hoffnungen keimen.
* * *
Endnoten:
[1] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[2] Von den neun Sahel-Ländern haben nur Mauretanien und Senegal gewählte Staatsoberhäupter. Eritreas Präsident ist zwar nicht durch einen Putsch an die Macht gekommen, hat sich in über 30 Jahren an der Staatsspitze aber nie wählen lassen. Guinea ist kein Sahel-Land.
[3] Neben den in der Folge erwähnten vier Ländern gehört Mauretanien noch zur G5 Sahel.
[4] Niger hat auf die ECOWAS-Drohung einer Militärintervention hin seinen Luftraum geschlossen. Der sudanesische Luftraum ist seit dem Kriegsanfang zu. Über Libyen dürfen die meisten Fluglinien nicht fliegen. Siehe Beryl Munoko, Niger airspace closure extends flight routes, raises costs, BBC Africa Live 9.8.2023 um 16h01 und insbesondere die Karte in diesem Artikel.
Schon jetzt gibt es andere in den sanktionierenden Ländern Betroffene. In erster Linie die HändlerInnen in Nigeria und Benin entlang der langen nigrischen Südgrenze, wo üblicherweise reger Austausch herrscht. Und das inflationsgeplagte Ghana meldet zusätzlichen inflationären Druck von den Zwiebeln, die sonst überwiegend aus dem Niger importiert werden, jetzt aber die Grenze nicht überqueren können.
[5] OCHA, Niger: Rapport de situation, 19.5.2023, https://reports.unocha.org/fr/country/niger.
[6] OCHA, Niger: Plan de réponse humanitaire 2023-2025, März 2023, herunterzuladen auf https://reliefweb.int/report/niger/niger-plan-de-reponse-humanitaire-mars-2023.
[7] OCHA, Niger: Rapport de situation, 19.5.2023, https://reports.unocha.org/fr/country/niger.
[8] UNHCR, Niger, https://www.unhcr.org/fr/pays/niger.
[9] Famine Early Warning Systems Network. Wird von USAID finanziert.
[10] FEWS Net, Niger - Food Security Outlook June 2023 - January 2024. Continuing conflicts in border regions hinders the agricultural season's productivity, Juni 2023, herunterzuladen unter https://reliefweb.int/report/niger/niger-food-security-outlook-june-2023-january-2024.
[11] FEWS Net hat fünf Ernährungsunsicherheitskategorien: minimal – im Stress – in Krise – in Not – Hungersnot. Die Juni-Niger-Einstufungen wurden im Juli-Update bestätigt – siehe https://fews.net/west-africa/niger.
[12] Eigentlich die “Schweißnaht“, die Stelle, wo sich altes und neues landwirtschaftliches Jahr berühren. Für die Landwirtschaft sind Juli bis September die soudure-Monate (während der Regenzeit wachsen die neuen Ernten heran). Für die Viehzucht sind es die Monate April bis Juni, dem Höhepunkt der Trockenzeit. Siehe die Grafik im FEWS Net-Bericht auf p.5.
[13] Es war Mohamed Bazoum in seiner Funktion als Innenminister gewesen, der in Agadez in Nigers Norden die einschneidenden Anti-Migrationsmaßnahmen der EU umsetzte, denen Issoufou zugestimmt hatte. Siehe German Foreign Policy, Ab in die Wüste (II), GFP 10.8.2023, https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9326.
[14] Dieser Satz gründet auf Cheick Oumar Sissoko, “Le sens de l’histoire”, in: K. Lamko, A. Niang, N.S. Sylla, L. Zevounou (Hg.), De Brazzaville À Montpellier. Regards critiques sur le néocolonialisme français, Dakar (Collectif pour le Renouveau Africain – CORA Éditions) 2021, pp.62-69, https://corafrika.org/chapitres/le-sens-de-lhistoire. Sissoko ist vor allem als Filmregisseur bekannt. Er war 2002-07 malischer Kulturminister.
Hier das Zitat, an das ich mich anlehne, im Original: “ Dans son historique tournée africaine de cette année (19)58, pour la défense des intérêts de l’état français, Charles de Gaulle portait évidemment les œillères de l’habitus colonial, cette disposition d’esprit faite de complexe de supériorité et de mépris souverain à l’égard des peuples dominés, exploités par le colonialisme français. L’habitus colonial est ancré, cultivé et entretenu depuis des lustres au sein de la classe dirigeante française.
Cette idéologie bête, stupide, anachronique, explique comment et de tout temps les Présidents français jusqu’à Emmanuel Macron, leurs ambassadeurs et autres administrateurs ne voient l’Afrique que comme leur "Propriété Privée" gardée hier par des gouverneurs des colonies et aujourd’hui par des présidents faussement élus de nos républiques et adoubés par eux contre la volonté des Peuples.“
[15] Die wenigsten BewohnerInnen französischer Kolonien waren französische StaatsbürgerInnen, sie waren als Eingeborene (indigènes) nur UntertanInnen, für sie galten andere, im Eingeborenen-Code (Code de l’Indigénat) festgelegte Regeln.
[16] Weißhäutige Individuen, auch französische, werden hingegen generell durchaus mit Respekt behandelt.
[17] Sie solle später kommen, nachdem vereinbart sei, worüber gesprochen würde.
[18] Olaf Bernau schreibt: “(…) die Putschisten (…) haben eine Art nationalistisches, patriotisches Feuer entfacht, betonen sehr stark die Souveränität des Landes“. Olaf Bernau, Chaos im Niger betrifft auch den Westen: ‘Wer vom Putsch überrascht ist, hat einfach nicht zugehört’, Tagesspiegel o.D. (ca. 5.8.2023), https://www.tagesspiegel.de/internationales/der-westen-und-die-sahelzone-wer-vom-putsch-uberrascht-war-hat-einfach-nicht-zugehort-10263388.html.
[19] Der kürzlich angelobte nigerianische Präsident hat auf ein Jahr die rotierende Präsidentschaft der regionalen Wirtschaftsgemeinschaft über.
[20] TRT Afrika, ECOWAS imposes immediate sanctions on Niger coup leaders, 30.7.2023, https://www.trtafrika.com/africa/ecowas-imposes-immediate-sanctions-on-niger-coup-leaders-14261782.
[21] Am 8. August erklärte die US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland, die Vereinigten Staaten könnten sich “gezwungen“ sehen (“may be forced…“), im Niger einzugreifen, wenn die Junta sich weiter weigert, die konstitutionelle Ordnung wiederherzustellen. Siehe https://journalist101.com/2023/08/09/us-warns-coup-plotters-we-may-be-forced-to-invade-niger/.
[22] Dass Ouattara sich als Schützer demokratischer Werte aufspielt, ist nichts als chuzpe: Dass er ivorischer Präsident ist, hat er einem Staatsstreich qua Verfassung zu verdanken – ein drittes Mandat war eigentlich unzulässig.
[23] Lionel Zevounou, Où va la Cedeao? 9.8.2023, https://afriquexxi.info/Ou-va-la-Cedeao-Quelques-reflexions-juridiques-a-partir-du-cas-nigerien, Übersetzung GL. Auch die Folge dieses Absatzes stützt sich auf diesen Artikel des Juristen und Dozenten an der Pariser Nanterre-Universität Lionel Zevounou.
[24] Diese und ähnlich konkrete Auskünfte aus Niamey stammen von einer dort lebenden nigrischen Freundin. Stand 10. August.
[25] Zu den 21% siehe Leslie Varenne, Niger: de la révolution de palais à l’échiquier mondial. Note, IVERIS (Institut de veille et d'étude des relations internationales et stratégiques) 3.8.2023, https://www.iveris.eu/list/notes/570-niger__de_la_revolution_de_palais_a_lechiquier_mondial.
[26] Laut Alassane Ouattara (in seiner Presseerklärung in Abidjan am 10.8. nach seiner Rückkehr vom ECOWAS-Gipfel) sind Bankabhebungen generell sogar auf 10.000 Francs CFA (15,2 Euro) beschränkt worden. Auf den sozialen Netzen zirkuliert ein nicht signiertes Video von dieser Pressekonferenz. Siehe auch https://libreinfo.net/alassane-ouattara-cedeao/.
[27] In eine ähnliche Richtung argumentiert die Internationale Föderation der Menschenrechtsligen (Fédération internationale pour les droits humains/FIDH): FIDH, Niger: les sanctions de la CEDEAO ne doivent pas viser la population. Déclaration, 4.8.2023, https://www.fidh.org/fr/regions/afrique/niger/niger-les-sanctions-de-la-cedeao-ne-doivent-pas-viser-la-population.
[28] Laut Planung 500 Mio. USD pro Jahr.
[29] Siehe RFI, Niger: mise à l'arrêt de la construction du barrage hydroélectrique de Kandadji, RFI 10.8.2023, https://www.rfi.fr/fr/afrique/20230810-niger-mise-%C3%A0-l-arr%C3%AAt-de-la-construction-du-barrage-hydro%C3%A9lectrique-de-kandadji.
[30] Dass die ECOWAS dem Niger Nachhilfe in Sachen Demokratie erteilt, hat viel Absurdes an sich. In Anlehnung an Lionel Zevounou ließe sich sagen, dass in Westafrika bestenfalls Kap Verde keine Fassadendemokratie ist, dass es sonst in Westafrika kein Musterbeispiel für Demokratie gibt, “es sei denn, man verwechselt Machtwechsel mit Demokratie“. Siehe Lionel Zevounou, Où va la Cedeao? 9.8.2023, https://afriquexxi.info/Ou-va-la-Cedeao-Quelques-reflexions-juridiques-a-partir-du-cas-nigerien.