Über fortgesetzte Verbrechen in Gaza und wie sich dagegen vorgehen lässt. Ein Gespräch mit Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten Gebiete Palästinas. Ein Beitrag  von Hendrik Pachinger/Junge Welt

 

Kritiker des Internationalen Gerichtshofs (IGH) und des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) sagen, beide Institutionen seien einseitige politische Instrumente mächtiger Nationen. Ende Januar hat der IGH Israel zu Schutzmaßnahmen verpflichtet, um einen Völkermord im Gazastreifen zu verhindern. Ende Mai rief das UN-Gericht Israel dazu auf, seine Offensive in Rafah zu stoppen. Mitte Mai beantragte der Chefankläger des IStGH Haftbefehle gegen Führer der Hamas und Israels Premierminister Benjamin Netanjahu wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit im Zusammenhang mit den Angriffen vom 7. Oktober 2023 und dem Krieg im Gazastreifen. Zeigen diese Entscheidungen eine fortschrittliche Wende an?

Die Kritik richtet sich eher gegen den IStGH als gegen den IGH. Problematisch ist vielmehr, dass viele Maßnahmen, die der IGH anordnet, einfach nicht befolgt werden. Der IStGH wird hingegen dafür kritisiert, dass es viel zu lange dauert, bis er Klagen wegen Menschenrechtsverletzungen überhaupt annimmt. Demgegenüber sind die jetzigen Haftbefehle eine geradezu revolutionär schnelle Reaktion auf die Vorgänge im Gazastreifen. Das muss so weitergehen, dann kann das Gericht dazu beitragen, eine bessere und friedliche Zukunft für die Palästinenser wie auch für die Israelis aufzubauen.

Gleichwohl werden Anweisungen der Gerichte von den USA und Israel ignoriert. Gibt es Länder, die außerhalb des Rechts stehen? Ist das Völkerrecht ein zahnloser Tiger?

Nein, das Völkerrecht ist kein zahnloser Tiger, es ist ein Tiger, dem das Maul gestopft wird. Entscheidungen bleiben ohne Konsequenzen, und zwar aus politischen Gründen. Daran lässt sich die Verlogenheit eines Systems ablesen: Formal als ein multilaterales System aufgebaut, spiegelt es die Weltordnung nach der Zeit des Zweiten Weltkriegs wider. Bestimmte Länder sind einflussreicher als andere. Bestimmte Länder sind so mächtig, dass sie entscheiden können, für wen und in welchem Umfang das Völkerrecht gilt oder nicht. Ja, es gibt sogar Länder, die sich so verhalten, als stünden sie über dem Gesetz. Viele Länder verletzen das internationale Recht. Das ist keine Seltenheit. Das ist sogar eher die Regel als die Ausnahme. Diese Länder müssen dann aber mit diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen rechnen. Sanktionen werden auf internationaler Ebene erwogen, während etwa die Vereinigten Staaten derlei nicht zu befürchten haben, ebensowenig Israel, das unter US-amerikanischem Schutz steht.

Den Angriff auf Rafah im Süden des Gazastreifens rechtfertigte Israel als militärische Notwendigkeit. Ist das plausibel?

Nur sehr wenige Aktionen seit dem 7. Oktober lassen sich mit militärischen Notwendigkeiten begründen. Ich habe zusammen mit meinem Team alle Angriffe auf Krankenhäuser und Schulen untersucht. Also alle Angriffe in »Sicherheitszonen«, für die es Evakuierungsbefehle geben sollte. Da bleibt nur sehr wenig, was gerechtfertigt werden könnte. Und wenn ich sage »sehr wenig«, dann bin ich großzügig. Die Tatsache, dass Israel seine Angriffe auf die vertriebene Bevölkerung in Rafah am Tag nach der vom IGH ergangenen Aufforderung verstärkte, ist Teil eines Musters: Jedes Mal, wenn sich auf internationaler Ebene etwas bewegte, sei es vor dem IGH, seien es die Haftbefehle des IStGH-Chefanklägers, kam es zu einer Zunahme der Gewalt, zu Angriffen auf Palästinenser und auch auf Helfer. Es gibt ein Muster rachsüchtiger Vergeltungsmaßnahmen. Diesen Sadismus betrachte ich als die Hauptantriebskraft gegen die Palästinenser. Seit Dezember erhalte ich Berichte von freigelassenen Menschen, die schwer misshandelt wurden. In den ersten fünf Monaten seit dem 7. Oktober wurden 27 Menschen in israelischen Gefängnissen getötet, vermutlich durch Folter. Das alles ist nicht neu, hat aber seit dem 7. Oktober einen weiteren Höhepunkt erreicht.

IStGH-Chefankläger Karim Khan hat Haftbefehl sowohl gegen Hamas-Anführer als auch gegen Israels Premier und dessen Verteidigungsminister wegen Verbrechen gegen die Menschheit beantragt. Heißt das, dass die Verbrechen beider Seiten gleichgestellt werden?

Nein, das bedeutet es nicht. Es gibt Verbrechen, die Israel zuzuschreiben sind, und Verbrechen, die der Hamas zuzuschreiben sind. Da findet erst einmal kein Aufwiegen statt. Israel und einige westliche Länder sind nun aber entsetzt, dass Israel auf die gleiche Stufe wie die Hamas gestellt wurde. Palästinenser und andere wiederum sind umgekehrt ebenfalls entsetzt, weil sie nicht verstehen, wie es möglich ist, dass Täter und Opfer auf die gleiche Stufe gestellt werden. Grundsätzlich ist es aber keine Frage, dass nicht nur Israel, sondern auch die Hamas Verbrechen begangen haben. Wichtig ist jedoch, den Kontext zu sehen, um keine Geschichtsklitterung zu betreiben. Die gewalttätige Hamas ist ein Nebenprodukt der langwierigen Unterdrückung durch Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten. Dort herrscht eine Art von Siedlerkolonialismus, auch wenn die Menschen im Westen das häufig nicht sehen wollen. Ich nenne das koloniale Amnesie. Aber die Aneignung von Land und Ressourcen, die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung sind unzweifelhaft ein siedlerkoloniales Unterfangen und gemäß Völkerrecht kriminell. Da wird es nun schwierig, eine ausgewogene und neutrale Haltung einzunehmen. Es handelt sich eben nicht um einen Konflikt zwischen gleichberechtigten Parteien. Wir sprechen hier nicht von zwei Nationalstaaten wie im Falle Russland gegen die Ukraine, sondern von einem Volk, dessen Selbstbestimmungsrecht von Israel vollständig verweigert wird.

Muss angesichts dieser Umstände die jeweilige Situation, in der Palästinenser und Israelis Krieg führen, unterschiedlich bewertet werden?

Definitiv. Es gibt unterschiedliche Kriegsgründe und eine Asymmetrie der Kriegführung. Die meisten westlichen Staaten erkennen Palästina nicht an, behandeln die Palästinensische Autonomiebehörde aber praktisch so, als wäre sie ein Staat im Westjordanland. Ostjerusalem ist nach dieser Sicht einfach ein Teil Jerusalems, der Gazastreifen von der Hamas besetzt. Dieser Zustand ist aber das Resultat einer Fragmentierung, die Israel dem palästinensischen Volk aufgezwungen hat. Die Schaffung des Staates Israel ist für diese Teilung verantwortlich. Ursprünglich hatten die Vereinten Nationen 1947 der arabischen Bevölkerung 45 Prozent des Territoriums zuerkannt. Heute sind davon nur noch 22 Prozent übriggebliebenen. Doch auch diesen Rest will Israel den Palästinensern nicht überlassen, sondern behauptet, die Palästinenser seien eine Sicherheitsbedrohung. Aber diese Sicherheitsbedrohung ist das Ergebnis von Unterdrückung. Täglich besteht das Risiko, dass dein Haus zerstört wird, dass dein Vater und deine Mutter am Checkpoint getötet werden. Dass Siedler kommen, um dein Land zu stehlen, dich aus deinem Haus zu werfen, wenn du noch darin schläfst. Ich kann nicht akzepktieren, dass jemand von der Solidarität mit den israelischen Geiseln der Hamas spricht, aber nicht darüber reden will, dass jedes Jahr 700 palästinensische Kinder verhaftet werden. Die Kinder werden verprügelt, oft gefoltert. Bis zu zwei Tagen werden sie in Einzelhaft gehalten, ohne einen Anwalt, ohne die Eltern. Teilweise sind sie erst zwölf Jahre alt. Nur eine kleine israelische Minderheit sieht all das und stellt sich klar auf die Seite der Palästinenser. Das sind die Menschen, die wir unterstützen müssen. Wenn von Befreiung die Rede ist, dann geht es Palästinensern und den Israelis, die eine Entkolonialisierung fordern, um ein Land, in dem alle die gleichen Rechte genießen können. Es spielt keine Rolle, welcher Staat das ist. Ein Volk muss die Möglichkeit haben, frei zu sein und zu wählen.

Einige Länder in Europa haben Palästina kürzlich als Staat anerkannt. Gibt es denn überhaupt noch eine realistische Aussicht auf eine Zweistaatenlösung?

Palästina als Staat anzuerkennen ist eher ein ungewöhnlicher Schritt für Länder, die seit 30 Jahren die Zweistaatenlösung als einzig mögliche Lösung predigen. Wenn nun aber eine der beiden Seiten nicht gleichermaßen unabhängig und souverän sein kann, ist ein eigener Staat nicht möglich. Die westlichen Länder waren nicht in der Lage, diesen Prozess zu unterstützen, weil sie Israels Expansion in palästinensisches Land nicht gestoppt haben. Damals hätte Druck auf Israel ausgeübt werden müssen, damit es die vollen Staatsbürgerrechte ohne Diskriminierung für alle anerkennt.

Warum hatte der Angriff der Hamas am 7. Oktober so verheerende Folgen?

Ich hatte beim Anblick der Bilder keine Zweifel daran, dass die Hamas oder auch diejenigen, die sich der Hamas am 7. Oktober anschlossen, Kriegsverbrechen begangen haben. Ein Angriff auf Militärbasen ist nicht per se ein Verbrechen. Natürlich gibt es dabei bestimmte Bedingungen, die erfüllt sein müssen, etwa das Prinzip der Vorsicht und der Menschlichkeit gegenüber den Kriegsgefangenen. Aber Angriffe auf Zivilisten sind nicht zu rechtfertigen. Zivilisten dürfen nicht getötet werden, man darf nicht mit ihnen auf brutale Art und Weise umgehen. Sie dürfen nicht als Geiseln genommen werden. Diese Akte waren eindeutig Kriegsverbrechen. Und es waren womöglich sogar Verbrechen gegen die Menschheit, sollte es sich dabei um ein systematisches Vorgehen der Hamas und Anderer gehandelt haben. Das rechtfertigt aber nicht den Krieg gegen Gaza. Der Schock, den dieser Überfall innerhalb der israelischen Gesellschaft auslöste, war auf vielen Ebenen zu spüren. Ich glaube, dass die Israelis und das jüdische Volk im Allgemeinen so stark durch ihre Geschichte traumatisiert sind, dass sie sich an diesem Tag völlig nackt und der Gewalt schutzlos ausgeliefert gefühlt haben.

Warum hält dieser Schock immer noch an?

Der Schock rührt auch daher, dass es von Beginn an viele Lügen und Fehlinformationen gab, wie zum Beispiel die von den enthaupteten Babys. Dabei musste auch die israelische Armee diese Behauptung als Falschinformation bezeichnen. Zudem ist klar, dass es sexuelle Gewalt gegeben hat, aber die Nachricht, es sei bei dem Angriff der Hamas zu Massenvergewaltigungen gekommen, ist bis heute nicht eindeutig erwiesen. Ich will nicht sagen, es ist nicht passiert. Aber es gibt bis heute noch keine Beweise für Massenvergewaltigungen. Und trotzdem reden die Leute weiter darüber. Das hat den Schock noch vergrößert. Es hält die Erinnerung an die Bilder aufrecht. Aber was in den letzten acht Monaten geschehen ist, hätte in den westlichen Ländern zu Reaktionen führen müssen. Man hätte den Israelis sagen müssen, bis hierhin und nicht weiter. Was ihr erlebt habt, mussten die Palästinenser schon oft erleben. Es gab so viele 7. Oktober in Gaza, im Westjordanland, in Ostjerusalem, innerhalb Israels, in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila. Palästinenser haben so oft durch israelische Hand leiden müssen, es wäre der Zeitpunkt gewesen, den Frieden einzuleiten. Anfangs hatten die Israelis noch das Recht, sich auf israelischem Boden zu verteidigen, doch dann wurde diese verrückte ideologische Position, die Netanjahu vertritt, gefördert. Jetzt soll es bis zum »totalen Sieg« gehen. In Wahrheit bedeutet das die Tötung von 40.000 Menschen, Folter und Qualen, ohne Frage ein Völkermord. Und die westlichen Länder haben das unterstützt.

Die Lage in den besetzten Gebieten spitzt sich seit Jahren immer weiter zu. Die extrem rechte Regierung Netanjahu ist für zahlreiche Gewalttaten verantwortlich. Was charakterisiert diese Regierung?

Keine israelische Regierung zuvor war so hartnäckig bestrebt, die letzten Reste des Westjordanlandes zu kolonialisieren. Gleichzeitig wurde die Blockade des Gazastreifens aufrechterhalten. In den 16 Jahren der Blockade gab es einschließlich des laufenden sechs größere Kriege. Dabei tötete die israelische Armee vor dem 7. Oktober fast 5.000 Menschen, darunter 1.200 Kinder. Seit 2017 wird auch offen von Regierungsmitgliedern über die finale Unterwerfung der Palästinenser gesprochen. Diese Regierung lässt den Palästinensern nur noch drei Möglichkeiten. Entweder sie gehen freiwillig oder sie bleiben als Untertanen, das heißt, sie haben weniger Rechte als die Israelis, oder sie werden getötet. Generell hat sich die Situation verschlechtert, im Westjordanland gab es zwölf Pogrome, im Gazastreifen ebenfalls zwölf. 2023 wurden Dschenin und Nablus bombardiert, die Bevölkerung wurde belagert. Während dieser 16monatigen Belagerung starben 426 Palästinenser und sechs Israelis. Die Situation war also bereits vor dem 7. Oktober sehr, sehr gewalttätig.

Und in diesem Klima konnte die Hamas zum Gegenschlag ausholen?

Die Hamas konnte mit ihrem Angriff alle überraschen. Sie konnten die verdrängte Palästina-Frage wieder brandaktuell machen und das wahre Gesicht der israelischen Besatzung, der israelischen Apartheid präsentieren. Israels Ruf ist für immer ruiniert, das Land spielt in der Welt keine Rolle mehr. Auch wenn westliche Politiker weiter ihre Lügen verbreiten: der Kaiser ist nackt, jeder kann es sehen. In einem Bericht des Auswärtigen Amtes habe ich gelesen, die Hamas müsse sich an den Waffenstillstand halten. Die Hamas hat aber bereits gesagt, dass sie sich an einen Waffenstillstand und an die UN-Sicherheitsratsresolution halten werde. Israel hingegen sagt, es werde den Krieg bis zum endgültigen Sieg fortsetzen. Was soll also der Kommentar des deutschen Außenministeriums? Warum beschuldigt es weiterhin die Hamas, wenn doch klar ist, dass Israel sich nicht an die Bestimmungen hält?

Es wird hierzulande immer wieder behauptet, dass man aus den Äußerungen einzelner Mitglieder der israelischen Regierung keine generelle Absicht zum Völkermord ableiten kann. Eine solche Vernichtungsabsicht ist jedoch die Voraussetzung für entsprechende Klagen vor dem IGH. Kann denn aus solchen Aussagen die Absicht zum Genozid abgeleitet werden?

Nach meiner Auffassung belegen solche Erklärungen die Intention zu Völkermord und zu Aufwiegelung zum Völkermord. Gleichzeitig ermöglichen sie einen solchen durch verbale Entgrenzung. Das gilt als Teil eines Genozids und basiert auf den Bewertungskriterien, die von internationalen Gerichten bestätigt wurden. Wir sehen doch, wie die gesamte zivile Infrastruktur, die Krankenhäuser, alle Universitäten, alle Schulen angegriffen wurden. Das zielt auf die Zerstörung einer Volksgruppe ab. Das soziale Gefüge des Gazastreifens ist zerstört, seine kulturelle Identität beseitigt worden. Etwa 17.000 Kinder wurden bisher getötet, mindestens 70.000 weitere sind Waisen. Tausende von Kindern wurden verstümmelt. Ich habe solche Kinder gesehen. Nicht nur ein paar, sondern Dutzende. Eine ganze Generation wurde verstümmelt. Und dann die Lebensbedingungen, die seit den letzten fünf Monaten herrschen, der Hunger, der Anblick von Menschen, die jeden Tag zu Hunderten vor ihren Augen sterben und leiden. Die gesamte westliche Gemeinschaft schaut hierbei nicht nur gleichgültig zu wie bei anderen Krisen, sondern unterstützt die Täter vielmehr.

Wie verhalten sich israelische Stellen bei der Aufklärung von Menschenrechtsvergehen? Gibt es vereinzelte Kooperation?

Es gibt jahrzehntelange Untersuchungen, Analysen und Berichte von Menschenrechtsorganisationen, einschließlich israelischer Vereinigungen, inwieweit Israel wirklich unfähig oder aber nicht willens ist, gegen Palästinenser begangene Verbrechen zu untersuchen und zu verfolgen. Sie kamen zum Ergebnis, dass überhaupt nur ein Prozent aller Beschwerden, die von Palästinensern oder Israelis gegen israelische Siedler oder Soldaten eingereicht werden, untersucht werden. Nur ein winziger Prozentsatz von ihnen wird dann verfolgt, es gibt also keinerlei Aufarbeitungswillen seitens der Behörden. Bei den Palästinensern verhält es sich umgekehrt. 99 Prozent der Palästinenser, gegen die die Armee oder andere Israelis Anzeigen erstattet haben, werden angeklagt. Darüber hinaus gibt es Palästinenser, die ohne Anklage und ohne Prozess verhaftet und festgehalten werden.

Welche Möglichkeiten gibt es, internationales Recht durchzusetzen? Wie kann das gegen Israel mit seinen mächtigen Unterstützern in den USA und in der EU gelingen?

Ein Mittel heißt Sanktionen: die Aussetzung der diplomatischen und politischen Beziehungen, Reduktion der wirtschaftlichen Beziehungen. Das ist das einzige, was die Achtung von Recht und Ordnung, die Rechtsstaatlichkeit in den besetzten palästinensischen Gebieten, in Israel und in den Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern wieder ein wenig herstellen kann. Die Apartheid in Südafrika wurde noch gewalttätiger, als sie ihrem Ende entgegenging. Die letzten Jahre waren extrem brutal, und niemand konnte sich das Ende der Apartheid in Südafrika vorstellen, bis es dann doch geschah. Die Sanktionen und Boykotte waren dabei immens wichtig, da sich die westlichen Staaten bis zuletzt mit Südafrika solidarisiert hatten. Das Schockierende an der heutigen Situation ist, dass sogar Regierungen islamischer Länder ihre Bürger bestrafen, wenn diese auf die Straße gehen und sich für Gerechtigkeit in Israel und Palästina einsetzen. Sie bestrafen Studenten, sie bestrafen Solidaritätsaktivisten, sie bestrafen einfache Menschen, die sich mit den Palästinensern solidarisieren. Das ist beispiellos. Es geht auch um die Ernsthaftigkeit von Demokratien, etwa die des Westens. Sie sind nicht in der Lage, die Folgen der weißen Vorherrschaft zu tragen. Das Ergebnis ist, dass die Unterstützung Israels konsequenter betrieben wird als die Achtung der Meinungsfreiheit, des Rechts auf Protest und der Vereinigungsfreiheit. Dies geschieht in vielen europäischen Ländern und natürlich in den USA.

Was kann getan werden, um den Nahostkonflikt einer Lösung näherzubringen? Die Arabische Liga verlangt gar eine UN-Intervention. Ist das nicht völlig unrealistisch?

Es muss so etwas wie eine internationale Verantwortung geben, die Pflicht eines jeden Landes, einen Schritt zu unternehmen, um die Palästinenser zu schützen. Es ist schwer vorstellbar, dass dies je passieren wird, aber es sollte irgendwann passieren. Die Mitgliedstaaten sollten sich zusätzlich beratschlagen, wie der Schutz der Palästinenser in den besetzten Gebieten durch eine Präsenz direkt gewährleistet werden kann, die nicht von Israel genehmigt werden muss. Israel hat keine moralische oder rechtliche Befugnis, über das Leben der Palästinenser zu entscheiden. Es agiert nur als De-facto-Macht, die in Wirklichkeit eine Besatzungsmacht ist. Es muss als der Pariastaat behandelt werden, der es ist.

aus: Junge Welt, 5.7.2024