Günther Lanier präsentiert sein Buch, das im Oktober 2017 im guernica Verlag erschienen ist. Der erste Teil des 552-seitigen Buchs beschäftigt sich mit Geschichte und Politik Burkina Fasos, der zweite Teil mit der Situation der Frauen in dem westafrikanischen Land. 

Ist es die weltweit letzte “wirkliche“ Revolution, die im August 1983 in Ouagadougou, im Herzen des Sahel, die von den französischen Kolonialherren eingesetzten Statthalter vom Thron stößt und in der Folge überall, in den Bezirken der Hauptstadt, in Betrieben und im Heer ebenso wie im abgelegensten Dorf, Revolutionsverteidigungskomitees einsetzt? Während vier kurzer Jahre wird versucht, landesweit die Verhältnisse von Grund auf zu verändern. Frauen werden endlich ernster genommen und die bis dahin politisch weitgehend stummen LandbewohnerInnen rücken ins Zentrum wirtschaftspolitischer Aufmerksamkeit. Erstmals geht es um “echte“ Entwicklung, nicht um Mehrung der Reichtümer der winzigen, aus- und inländischen Elite. Dass nichts mehr ist wie früher[1], verdeutlicht der Name: Aus dem kolonialen und postkolonialen Obervolta wird das Land (Faso) der Integren (Burkina), aus seinen Leuten (bè)[2] werden Burkinabè. Bis heute sind sie stolz auf dieses ihr revolutionäres Erbe – auch wenn es dann anders weiterging.

Im Oktober 1987 wird der charismatische, tatsächlich um sein Land statt persönliche Vorteile bemühte Thomas Sankara umgebracht. Der Auftraggeber dieses Mordes, die Nummer zwei der Revolution, rückt an die vakante Staatsspitze nach. Dass er längst zu den KlassenfeindInnen übergelaufen ist, wird schnell klar. Denn sogleich wird mit der “Rektifikation“ begonnen, will heißen mit einer behutsamen Wiedereinrichtung des neoliberalen politökonomischen Umfeldes, das den GeschäftemacherInnen des globalisierten Kapitalismus recht und vor allem billig ist.

Erster Teil: Burkina Fasos Geschichte und Politik

Die historisch-politische erste Hälfte des Buches greift freilich weiter in die Vergangenheit zurück. Sie beginnt mit einem Überblick über die Zeit vor der Integration ins Weltsystem – eine weitestgehend[3] schriftlose Zeit, insofern war sie “prähistorisch“. Nie und nirgends gab es damals eine politische Einheit oder ein Siedlungsgebiet, das dem heutigen nationalen Territorium entsprochen hätte. Die soziokulturellen Unterschiede zwischen den hier lebenden, etwa sechzig Ethnien waren beträchtlich. Im Zentrum des heutigen Burkina lebten die überaus hierarchischen Mossi[4], im Osten die ebenfalls staatenbildenden Gourmantché, auch die Peulh im Norden errichteten Reiche, wenn auch erst deutlich später. Weiter westlich und südwestlich hingegen siedelten segmentäre, cheflose Ethnien – “akephal“, also kopflos, ist der Fachausdruck –, wo es jenseits der Großfamilien- oder bestenfalls Dorfvorstände keine höheren Autoritäten mehr gab.

Die Mossi leiten ihre Herkunft von der Prinzessin Yennenga ab, einer großen Kriegerin und Initiatorin der Eroberung der Lande im Herzen “Burkinas“. Ihrer Stammmutter zum Trotz ist die Mossi-Gesellschaft streng patriarchalisch – ein Mangel, den sie mit allen andern, auch den wenigen matrilinearen[5] Ethnien, teilt. In der ersten Hälfte des Buches geht es somit mit wenigen Ausnahmen nur um Männer, Frauen kommen (in europäischen Gefilden ist es ja ähnlich) in der Geschichte (“history“) kaum vor – den Frauen in ihrer Gegenwart ist die zweite Buchhälfte vorbehalten.

1884/85 findet auf Bismarcks Einladung die Berliner Konferenz statt, die den Wettlauf der europäischen Kolonialmächte um Afrika auslöst. Eines der Kollateralopfer ist Burkina, denn der aufteilenden Unterwerfung entkommt fast niemand. Nachdem die Grenzen der Kolonialimperien unter europäischen Mächten ausgemacht sind, sichern der unzimperliche Einsatz jeweils nötiger Brutalität und waffentechnologische Überlegenheit die tatsächliche französische Landnahme, wobei der Widerstand der akephalen Gesellschaften teils erst nach Jahrzehnten gebrochen ist. Weitestgehend autarke, auf Subsistenzwirtschaft beruhende und autozentrierte politökonomische Systeme[6] werden quasi über Nacht Teil des Weltsystems – und zwar am äußersten Rand seiner Peripherie. Die während der etwa 120 Jahre seit der Eroberung weiter zunehmende Globalisierung sorgt dafür, dass sich daran bis heute wenig geändert hat.

Nach der Einrichtung der Kolonie “Obervolta“ bemüht sich ihr Gouverneur Hesling um eine auf Baumwolle basierende Inwertsetzung, der damalige Ausdruck für Entwicklung. Doch er wird von Paris zurückgepfiffen. Abseits der maritimen kolonialen Handelsrouten und ohne bedeutende Bodenschätze, waren es vor allem die Menschen, die zur Ausbeutung bestimmt waren. Arbeitskräftereservoir für besser ausgestattete Küstenländer, insbesondere die Côte d’Ivoire, war die im französischen Überseeimperium zugeteilte Funktion[7]. Beim ivorischen “Großen Bruder“ leben noch heute drei bis vier Millionen, also etwa ein Fünftel der Burkinabè. Investitionen in Obervolta selbst beschränkten sich auf die für die Administration des Territoriums und eine sehr beschränkte ökonomische Ausbeutung nötigen. Dabei sollte die Kolonie Paris möglichst wenig auf der Tasche liegen: Die von allen Einheimischen zu zahlende Kopfsteuer bedeutete eine tiefgreifende qualitative Veränderung, leitete sie doch den Übergang von der Subsistenz- zur (Teil-)Geldwirtschaft ein.

Wie die meisten anderen seiner Kolonien entlässt Paris auch Obervolta 1960 in eine sehr relative Unabhängigkeit – deren vordergründigstes Symbol ist der CFA-Franc[8], der noch heute als Zahlungsmittel dient und dessen Konvertibilität und Kurs von der französischen Nationalbank garantiert werden. Die neuen Herren des Landes ändern tatsächlich nicht viel, über zwanzig Jahre lang bleibt alles grundsätzlich beim Alten, wenn auch die Taschen, in oder[9] für die sie wirtschaften, nunmehr vermehrt einheimische sind.

Nach der Beseitigung des Störenfrieds Sankara und auch anderer Revolutionsgenossen, reiht sich der zum neoliberalen Wohlverhalten konvertierte Blaise Compaoré hier als Handlanger und Vollstrecker der Interessen des nationalen und internationalen Kapitals ein. Geschickt taktierend sichert er seine Macht in alle Richtungen ab, “kauft“ fast alle, die zur Gefahr werden könnten, beteiligt sie an der Macht, lässt sich mit überwältigenden Mehrheiten wieder und wieder zum Präsidenten wählen. Da ihm die nach wie vor “unterentwickelte“ burkinische Wirtschaft selbst zu wenig anzapfbare Einkünfte bietet, bessert er diese im Ausland mit Waffen- und Blutdiamentenhandel auf – dafür wird er manchmal von Ex- oder Neo-Kolonialherren auch milde ermahnt. Erst ab der Jahrtausendwende scheint es ihm zu gelingen, sein eigenes Land ausreichend als Einnahmequelle aufzubereiten, während sich sein Machtzirkel immer mehr um seinen bald “Kleiner Präsident“ genannten kleinen Bruder François dreht. Gleichzeitig bietet ihm der Bürgerkrieg in der Côte d’Ivoire (2002-11) die Möglichkeit, sich international als Mediator hervorzutun. Dort ist er keineswegs unparteiisch, hat er doch die Rebellen ausgebildet und lässt sie mit Waffen beliefern. Das macht ihn aber zum unumgehbaren Spieler im ivorischen Konflikt. Er gewinnt an Statur und da er das Glück hat, auf der richtigen Seite (der von Paris, Washington & Co) zu stehen, wird er achtbar und lässt tatsächlich so etwas wie Frieden verhandeln.

Im Inneren ziehen ab 2008 Gewitterwolken auf. Zehn Jahre vorher hatte die Ermordung Norbert Zongos – eines Journalisten, der zu neugierig gewesen war, was den Foltermord des Chauffeurs des o.e. “Kleinen Präsidenten“ anbelangt – noch unter den Teppich gekehrt werden können, wenn auch unter beträchtlichen Anstrengungen. Von Februar bis Mai 2008 kommt es zu Hungerrevolten, da protestieren nicht nur, wie sonst “üblich“, SchülerInnen und StudentInnen. Das semiautoritäre – so der politologische Fachausdruck – Regime wurschtelt sich irgendwie durch. Das ist auch die Strategie, die gegenüber den 2011er Unruhen angewandt wird, als HändlerInnen, SchülerInnen, StudentInnen, vor allem aber auch das Militär rebellieren. Als sich die elitäre Präsidialgarde den Protesten anschließt, flüchtet Blaise kurz aus seinem Präsidentenpalast.

Zum Überlaufen bringt das Fass schließlich der Versuch Compaorés, sich mittels abermaliger Verfassungsänderung den Thron auf Lebenszeit zu sichern. Serail-interne Manöver François’ haben zudem ehemalige Granden in Oppositionelle verwandelt. Ab 2013 werden geschickt orchestrierte Proteste in Ouagadougou und anderen Städten immer größer und Ende 2014 ist es dann soweit: Nach 27 bleiernen Jahren wird Blaise mit Schimpf und Schande verjagt. Die Euphorie lässt viele auf eine grundsätzliche Veränderung hoffen. Doch niemand hat an einen so umfassenden Erfolg geglaubt, und niemand steht bereit, die Macht, die auf der Straße liegt, zu ergreifen. So wird sie dem Heer angeboten, dann auf ausländischen Druck wieder weggenommen. Die “internationale Gemeinschaft“ erteilt der Übergangsregierung einen rigorosen Auftrag – innert zwölf Monaten glaubhafte demokratische Wahlen zu organisieren –, sodass am Fundament des politökonomischen Systems nur ja nicht gerührt werden kann. Trotz einer kurzen Störung (ein Putschversuch der Präsidialgarde) können die Wahlen Ende November 2015 über die Bühne gehen. Das Ergebnis straft alle Hoffnungen auf Wandel Lügen. Mit Roch Marc Christian Kaboré wird Blaises einstiger Kronprinz – knapp zwei Jahre nur hat er in der Opposition verbracht – zum neuen Staatschef gewählt. Seither geht das Allermeiste seinen gewohnten Gang. Nur der Frust wächst, hat aber bisher kein einendes Thema gefunden, an dem sich Proteste entzünden könnten, die einen Unterschied machen.

Zweiter Teil: Burkina Fasos "ewig fremde Frauen"

Frauen – ihnen widmet sich die zweite Hälfte des Buches – dürfen im burkinischen Patriarchat vor allem eines: arbeiten. Von früh bis spät. Für Männer und Kinder. Oft auch statt der Männer.

Aber: Als die Frauen am 27. Oktober 2014 in Ouagadougou in Massen auf die Straße gingen und die Spateln[10] erhoben, quasi die Insignien ihrer reproduktiven Macht, als sie also ihr geballtes Missfallen öffentlich zum Ausdruck brachten, da war es um Blaise geschehen. Wenige Tage später ergriff er die Flucht. In extremis hätten die Frauen ihren Widerstand noch verschärfen können, dazu hätten sie sich nackt ausziehen müssen. Das war nicht mehr nötig.

[11]

Ein knappes Jahr später wiederholte sich diese Geschichte. Die Präsidialgarde, die Blaise auch nach seinem Sturz treu blieb, inszenierte einen Putsch gegen die Übergangsregierung, ihr Chef Diendéré übernahm die Macht im Staat. Diesmal waren es die Frauen der zweiten Stadt des Landes, Bobo-Dioulasso, die mit den aus ihren Küchen an die Öffentlichkeit gebrachten Spateln keinen Zweifel daran ließen, dass es mehr als genug war. Alle, die Widerstand gegen den Putsch leisteten, wussten, jetzt geht es aufwärts. Und tatsächlich: Wenige Tage später blieb Burkinas bestausgebildeten Soldaten, eben jenen der Präsidialgarde, nichts mehr übrig, als die Macht wieder den ZivilistInnen zu überlassen.

Wenn Burkina bis heute überlebt hat, die Volkswirtschaft ebenso wie die einzelnen Haushalte, dann dank seiner Frauen. Ihr Beitrag zur nationalen Ökonomie – insbesondere zur Landwirtschaft, die nach wie vor drei Viertel der burkinischen Bevölkerung beschäftigt und ernährt – wird mit 70% angegeben[12]. “Familienchef“ ist immer der Mann, wenn einer da ist – aber es gibt nicht viele Familien, wo der Ausfall der Frau nicht existenzbedrohend wäre. Macht sich der Mann aus dem Staub, ist das leichter verkraftbar[13].

Doch Undank ist der Welten, und da vor allem der Frauen Lohn. Wie auch in der Satten Welt bekommen diese statt des ihnen zustehenden Dankes oft erhebliche Gewalt ab. Nach einer ausführlichen Darstellung der Situation der burkinischen Frauen allgemein widmet sich daher das nächste Kapitel des Buches der viel zu vielen Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die zwei folgenden der Kinderhochzeit und den Hexereivorwürfen bzw. Hexenvertreibungen, das letzte schließlich der Exzision, derentwegen drei Viertel der burkinischen Frauen ohne Klitoris leben.

Schon beim Wiedergeben der historisch-politischen Buchhälfte habe ich in diesem Artikel einiges “nicht verraten“ – ich will ja, dass Sie das Buch lesen. Was die zweite, die Frauen betreffende Hälfte betrifft, sehe ich mich außerstande, diese Themen in der hier gebotenen Kürze abzuhandeln. Das Buch ist zuallererst eine Hommage ans alltägliche Überleben der burkinischen Frauen.
burkina faso frauentag klein
Land der Integren -

Burkina Fasos Geschichte, Politik und seine ewig fremden Frauen
Günther Lanier
552 Seiten, guernica-Verlag, Linz 2017
Preis 19,50 Euro (exkl. Versand)
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 Quellen:

[1] Ein Slogan aus der Übergangszeit, die auf den 2014er Volksaufstad folgt.

[2] “Burkina“ ist Mooré, Muttersprache ungefähr der Hälfte aller Burkinabè, “Faso“ ist Dioula und der Suffix “-bè“ ist Fulfulde, das sind die zweit- bzw. drittwichtigsten Landessprachen.

[3] Der Sahel war keineswegs von der Welt abgeschnitten, muslimische Händler bedienten sich der Schrift, hinterließen jedoch wenige Informationen über Land und Leute.

[4] Ihrer Sprache, dem Mooré, ist das Wort “Burkina“ entnommen.

[5] Matrilinearität bedeutet das Herleiten der Abstammung über die Mutter. Dem Patriarchat diametral entgegengesetzt wäre das (inexistente) Matriarchat.

[6] Das Mossi-Reich hatte es sogar weitestgehend geschafft, seine UntertanInnen vor dem Zugriff des europäischen SklavInnen-Dreieckshandels zu bewahren.

[7] Das System beruhte die längste Zeit auf Zwangsarbeit, erst kurz vor der Unabhängigkeit wurde diese abgeschafft.

[8] CFA steht heute für Communauté Financière d’Afrique, also Afrikanische Finanzgemeinschaft. Ursprünglich war seine Bedeutung Colonies Françaises d'Afrique, also Französische Kolonien Afrikas.

[9] Der Langzeit-Militär-, dann Zivil-Herrscher der späten 1960er und vor allem der 1970er Jahre, Lamizana, bereichert sich nicht selbst an seiner Herrschaft.

[10] Der tägliche tô, eine Art Sterz aus Hirse- oder heute Maismehl, wird mit diesen riesigen Holzlöffeln zubereitet.

[11] Hier die Spatel als Instrument des Protests. Foto GL 6.6.2017 bei der Buch-Präsentation von Peter Stepan (Hg.), L’insurrection populaire. Burkina Faso octobre 2014 in Ouagadougou. Original färbig.

[12] Die burkinische Frauenministerin sprach dabei von Schätzungen. Bei der Nahrungsmittelproduktion liegt der Frauenanteil laut derselben Ministerin bei 80%.

[13] Die letzten dreieinhalb Absätze sind ein nahezu wörtliches Zitat aus dem Kapitel 8 des Buches.