Interview mit Pater Javier Giraldo, Jesuit, Forscher und Menschenrechtsverteidiger in der Friedensgemeinde San José des Apartoadó, über die aktuelle Entwicklung in Kolumbien.
Die Friedensgemeinde San José de Apartadó hat sich 1997 inmitten des bewaffneten Konflikts als neutrale Gemeinschaft proklamiert, die sich in keiner Weise am bewaffneten Konflikt beteiligt, aber auch den bewaffneten Akteuren nicht weicht und kollektiven gewaltfreien Widerstand als Kleinbauern und Kleinbäuerinnen leistet. Diese Verpflichtung hat dazu geführt, dass über die Jahre mehr als 300 Menschen der Friedensgemeinde getötet wurden. Der Jesuit, Forscher und Menschenrechtsverteidiger hat die Friedensgemeinde von Anfang an begleitet. Darüber hinaus ist Pater Javier Giraldo Vizepräsident des Ständigen Tribunals der Völker. Michaela Söllinger, Friedensfachkraft des Versöhnungsbundes Österreich traf Pater Javier Giraldo in der Friedensgemeinde und sprach mit ihm über die neue Regierung Kolumbiens.
Frage: Wie hat sich die Situation in Kolumbien seit dem Amtsantritt der neuen Regierung verändert?
Pater Giraldo: Wir nähern uns jetzt dem Ende des ersten Jahres dieser Regierung. Sie hat viele Erwartungen geweckt. Die Linke und die Volksgruppen sind sich einig, dass wir so eine Regierung in Kolumbien seit der Unabhängigkeit von Spanien noch nie erlebt haben.
Wie das Ständige Tribunal der Völker in seinem Urteil feststellte, wurde in Kolumbien von Anfang an ein völkermörderischer Staat aufgebaut und gestärkt, der durch die Macht einer wirtschaftlichen und politischen Elite entstand. Diese Macht wurde mit Strategien der Auslöschung sozialer Schichten, die sich nicht den Interessen dieser Elite anpassten, gebildet. Deshalb öffnet die jetzige Regierung allen Gruppen, die in diesem völkermörderischen Staat keine Teilhabe hatten, große Perspektiven und hat bei ihnen große Freude auslöste.
Diese Regierung übernahm das Land inmitten einer sehr starken Polarisierung, in der rechte, pro-kapitalistische Gruppen, man könnte sagen mit faschistischen Komponenten, stark sind. Und das ist nicht nur in Kolumbien der Fall, sondern es gibt ein lateinamerikanisches oder eher ein universelles Phänomen des Aufstiegs der Rechten.
Es war von vornherein klar, wie schwierig es sein würde, in diesem Kontext einen Durchbruch zu erzielen. Ein großes Hindernis ist der institutionelle Rahmen Kolumbiens. Wir haben eine Verfassung aus dem Jahr 1991, die scheinbar eine demokratische ist, die aber vor allen wegen Gruppen, die an der Macht waren, mehr als 70 Reformen durchlaufen und die Institutionen an die Bedürfnisse der Eliten angepasst hat. Dieser institutionelle Rahmen lässt nicht viel Spielraum zu. Er soll sicherstellen, dass es keine grundlegenden Veränderungen gibt. Deshalb müssen Präsident Petro und sein Regierungsteam überlegen, wie sie in diesem Kontext agieren können. Eine der Entscheidungen, die sie getroffen haben, besteht darin, einen Raum für einen breiten Pakt zu öffnen, den sie als Historischen Pakt bezeichnen und der die Gruppen der Mitte und der Rechten einlädt, sich an Reformen, die vor allem für die am stärksten ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen als sehr dringend angesehen werden, zu beteiligen.
Das bedeutet auch, dass sie Vereinbarungen treffen müssen, die sie zwingen, an diese Gruppen der Mitte und der Rechten Macht abzugeben, sie als Minister*innen oder hohe Beamt*innen einzubinden. Dadurch werden die Möglichkeiten für dringende Reformen begrenzt. Zunächst wurden einige dringende Reformen wie die Steuerreform und ein Entwicklungsplan gebilligt. Damit ist aber auch die Opposition selbst gewachsen, d.h. der rechte Flügel beginnt, die Entwicklung der Regierung zu boykottieren. Im Kongress verhindern Allianzen rechter Gruppen die Verabschiedung von Reformen. Auch die Massenmedien befinden sich in den Händen der mächtigsten Wirtschaftsgruppen und blockieren die Vorschläge und Reformen der Regierung offen oder subtil.
Das bedeutet, dass sich am Ende des ersten Regierungsjahrs widersprüchliche Diskurse abzuzeichnen beginnen. Die Opposition radikalisiert ihren Diskurs und greift die Regierung an. Auch die Regierung und Präsident Petro beginnen, ihren Diskurs zu radikalisieren.
Die derzeitigen Regierungsvertreter*innen haben für die momentane Phase eine sehr realistische Formulierung: „Wir haben die Regierung, aber wir haben nicht die Macht.“ Die Macht liegt hauptsächlich bei den traditionellen Parteien, dem Kongress, den Medien und der Wirtschaft sowie den staatlichen militärischen Kräften, die immer noch sehr präsent sind. Bis jetzt war es unmöglich, bei den militärischen Kräften grundlegende Veränderungen herbeizuführen.
Der Diskurs der Regierung ist insofern radikaler geworden, als dass der Präsident sagt, dass er gewählt worden sei, um dringende Reformen durchzuführen, die jetzt blockiert werden. Also ruft er das Volk, die sozialen Bewegungen dazu auf, sich direkt auf der Straße in Demonstrationen zu äußern. Es gibt hier jedoch eine Tradition der Verfolgung derjenigen, die protestieren. Der soziale Protest wurde in den letzten Jahren sehr hart bestraft und hat Millionen Opfer gefordert. Deshalb haben die Menschen immer noch große Angst davor, sich durch öffentliche Kundgebungen Gehör zu verschaffen. Die Versuche, Demonstrationen zur Unterstützung der Regierung zu organisieren, waren also nicht sehr erfolgreich.
Es gibt viele Theorien darüber, was im zweiten Jahr dieser Regierung passieren könnte. Es gibt sogar Analyst*innen, die an einen Staatsstreich denken. Andere Analyst*innen glauben nicht, dass es so weit kommen wird, weil sich hier seit 1991 ein Diskurs der Verteidigung der Demokratie entwickelt hat. Aber diese Demokratie ist nicht mehr als eine formale. Die sozialen Spannungen sind ausgeprägt. Die Bedrohungen und Ängste sind sehr groß. Tötungen sozialer Anführer*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen haben in den letzten Jahren zugenommen. Dazu kommen noch die Ermordungen der demobilisierten Mitglieder der ehemaligen FARC-Guerilla, mehrere Hundert sind bereits ermordet worden.
Die Regierung spricht von einem totalen Frieden (Paz Total). Kommt diese Initiative bei den Gemeinschaften an?
Der umfassende Friede ist einer der Banner dieser Regierung, der mit dem Schema der versuchten Friedensabkommen der letzten vierzig Jahre bricht - mit einem Schema, das sich als völlig nutzlos erwiesen hat. Ich habe immer auf drei große Fehler in den Friedensabkommen der letzten 40 Jahre hingewiesen. Erstens wurden die Wurzeln der Gewalt in diesen Friedensverhandlungen nie berührt. Zweitens: Wenn die Abkommen unterzeichnet wurden, kam es in der Regel zu einem Massaker an den Unterzeichner*innen und zu einem ausufernden Massaker an sozialen Anführer*innen der Graswurzelbewegungen. Das erklärt, warum kurz nach der Unterzeichnung eines Abkommens über weitere Friedensverhandlungen nachgedacht wurde. Das führt uns zum dritten Punkt, einem ständigen Recycling der Gewalt.
Es gibt nicht nur eine Organisation, die zu den Waffen gegriffen hat, sondern es gibt viele Faktoren der Gewalt. Alle Analysen zeigen, dass der Drogenhandel eine sehr wichtige Rolle bei der Gewalt spielt: bei der Finanzierung von Guerillagruppen, paramilitärischen Gruppen und dem Staat selbst. Der Paramilitarismus ist ein wichtiger Faktor, der die Gewalt in Kolumbien erklärt, und er ist eine staatliche Politik. All dem muss entgegengewirkt werden, aus diesem Grund will man Verhandlungen oder Dialoge mit allen gewaltverursachenden Gruppen aufnehmen.
Und hat irgendetwas davon die Gemeinschaften erreicht, die unter der Gewalt leiden?
Noch sehr wenig, denn all diese Gruppen sind immer noch fest verankert, vor allem in der Peripherie, in den Gebieten, in denen die ärmsten und schwächsten Gemeinschaften leben. Hier in Urabá zum Beispiel, wo sich die Friedensgemeinde San José de Apartadó befindet, leiden wir seit vielen Jahren unter der totalen paramilitärischen Herrschaft. Hier regiert nicht der Staat, sondern der Paramilitarismus. Seine Macht in dieser Region ist ungebrochen, und die Gemeinden hier beklagen sich, dass keine Änderung dieser Herrschaft in Sicht ist. Das ist ein langfristiger Prozess, und der ist nicht einfach.
Weitere Hinweise:
Friedensgemeinde: https://cdpsanjose.org/
Versöhnungsbund: