Positionspapier der Solidarwerkstatt zum Nahost-Konflikt:

Was ist das Grunddilemma des Israel-Palästina-Konflikts? Wie schauen unsere Leitlinien zur Lösung dieses Konflikts aus? Für welche politischen Lösungen setzen wir uns ein? Was können wir hier und heute tun? (Anmerkung: Dieses Positionspapier wurde im Dezember 2011 beschlossen, in seinen grundlegenden Analysen und Forderungen erscheint es uns auch heute zutreffend zu sein - vielleicht mehr denn je).


1. Vorspann
2. Grunddilemma
3. Unsere Leitlinien
4. Politische Lösungen
5. Was können wir hier und heute tun?


1. Vorspann

„Großbritannien rief zur Bildung eines Hochkomitees auf, das sich aus Vertretern sieben europäischer Staaten zusammensetzte. 1907 wur­de dem britischen Premierminister Sir Henry Campbell-Bannerman der Bericht dieses Komitees unterbreitet. Darin hieß es, die arabischen Länder und die mus­limisch-arabische Bevölkerung, die im Osmanischen Reich lebte, stellten für die europäischen Staaten eine massive Bedrohung dar; folgende Vorgehensweisen wurden empfohlen:
1) Zerfall, Teilungen und Abspaltungen in der Region zu fördern.
2) Künstliche politische Einheiten zu schaffen und sie der Kontrolle der impe­rialistischen Länder zu unterstellen.
3) Jede Art von Einheit zu bekämpfen, sei sie intellektuell, religiös oder histo­risch fundiert und praktische Maßnahmen zu ergreifen, um die Einwohner der Region zu spalten.
4) Zu diesem Zweck einen „Pufferstaat“ in Palästina zu schaffen, in dem eine starke ausländische Bevölkerungsgruppe leben sollte, die ihren Nachbarn feindlich gesinnt und den europäischen Staaten und deren Interessen gegen­über positiv eingestellt sein würde.“
(zit. nach: Peace Research Institute in the Middle East - Berghof Conflict Research, Das Historische Narrativ des Anderen kennen lernen - Palästinenser und Israelis, März 2003)

"Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen."
(Theodor Herzel, Der Judenstaat, 1896, in: im Kapitel: Allgemeiner Teil: Palästina oder Argentinien?)

„Warum sollten die Araber Frieden schließen? Wäre ich ein arabischer Führer, würde ich niemals mit Israel verhandeln. Das ist ganz natürlich: Wir haben deren Land genommen. Sicher, Gott hat es uns versprochen, aber was geht die das an? Unser Gott ist nicht deren Gott. Wir stammen aus Israel, aber das ist 2000 Jahre her, und was interessiert die das? Es gab Antisemitismus, die Nazis, Hitler, Auschwitz, aber war das deren Schuld? Das Einzige, was die sehen ist: Wir kamen her und stahlen ihr Land. Warum sollten die das akzeptieren?“
(Ben Gurion, erster Premierminister Israels, in: Das jüdische Paradox: Eine persönliche Erinnerung von Nahum Goldmann; Ex-Präsident des Jüdischen Weltkongress; Frankfurt 1988).  


2. Das Grunddilemma

Diese drei Eingangsstatements skizzieren das Grunddilemma des Israel-Palästina-Konflikts: Der Zionismus speist sich aus der Leidensgeschichte des jüdischen Volkes, die in der Massenvernichtung durch den Nationalsozialismus kulminierte. Die Durchsetzung des Ziels, einen eigenen jüdischen Staat zu errichten, gelang letztlich nur im Bündnis mit dem westlichen (zunächst britischen) Imperialismus, dem es wohl zu allerletzt um die Sicherheit der Juden und zu allererst um die Kontrolle dieser strategischen Region ging.

Das Opfer dieser Allianz waren die PalästinenserInnen, deren Land Schritt für Schritt geraubt, die zur Flucht oder zu einem Leben unter Besatzung und Blockade gezwungen wurden. Auf ihrem Rücken exkulpier(t)en sich die Machthaber in Deutschland und Österreich von den Gräuel des Holocaust. Die USA haben nach dem 2. Weltkrieg Großbritannien und Frankreich als Hegemon und Unterstützer Israels in dieser Region abgelöst. Neuerdings entspinnen sich immer engere Beziehungen zwischen den nach rechts abdriftenden israelischen Eliten und den zur Großmacht drängenden deutschen Eliten. Deutschland ist nach den USA zum zweitgrößten Waffenlieferanten Israels aufgestiegen. Eine wechselseitige Instrumentalisierung der besonders schaurigen Art deutet sich an: Eine rechtsaußen Regierung in Israel spricht Deutschland von der Last der Vergangenheit frei, damit Berlin ohne die verbrecherische Bürde des 20. Jahrhunderts Großmachtspolitik im 21. betreiben zu können; Deutschland verspricht im Gegenzug – und unter Verweis auf die besondere Verantwortung Deutschlands - dem Apartheid-Regime in Israel Schutz und Beistand angesichts einer erlahmenden US-Dominanz in Nahost.

Auch wenn sich also in den letzten Jahrzehnten vieles geändert hat, die „Teile-und-Herrsche“-Grundkonstellation hat sich nahtlos erhalten: Israel als enger Verbündeter des Westens, dem einerseits sämtliche Völker- und Menschenrechtsvergehen nicht nur nachgesehen sondern mit überbordender Waffenhilfe goutiert werden, das sich andererseits aber gerade auf Grund dieser Einbindung in endlose Feindseligkeiten mit der arabischen/muslimischen Welt verstrickt und dadurch umso abhängiger von westlicher Rückendeckung wird. Das hält Israel an der Leine, die PalästinenserInnen unter der Knute und damit die Region unter Kontrolle von USA und EU. Nebenbei ergeben sich vorzügliche Absatzmärkte für die Rüstungsindustrie, die sowohl Israel als auch die erzreaktionären islamistischen Diktaturen am Golf bedient. Der Motor des „war on terror“ und „clash of civilization“ kann kräftig weiter brummen. Selbst der traditionell antisemitische Rechtsextremismus in Europa – von HC Strache bis Anders Breivik -  beschwört mittlerweile Israel als den „Hort westlicher Zivilisation“ gegen die „islamische Barbarei“.


3. Unsere Leitlinien 

Als Solidarwerkstatt gibt es für uns zwei wesentliche Leitlinien in diesem Konflikt:

- Besatzung, Blockade, Vertreibung und Unterdrückung müssen enden, die PalästinenserInnen haben das Recht als Gleiche unter Gleichen in einem souveränen Staat zu leben. Ohne Gerechtigkeit kann es keinen dauerhaften Frieden geben.
- Die Existenz Israels als einer sicheren Heimstatt für Juden und Jüdinnen sowie für alle dort lebenden Menschen muss gesichert werden.

Wir gehen davon aus, dass beide Ziele erreichbar sind, wenn es gelingt, den Einfluss von Kolonialismus und Ethnizismus zurückzudrängen und zu überwinden. D. h. die Menschen in dieser Region können Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit erreichen,
- wenn sie sich aus der politischen Umklammerung durch die Großmächte – allen voran USA und EU – lösen; diese unterdrückt nicht nur die PalästinenserInnen, sondern auch die Juden/Jüdinnen, indem sie als Kanonenfutter für westliche Geopolitik – belobigt mit abendländischen Kulturkampfparolen – instrumentalisiert werden.*)
- wenn sie sich aus der ideologischen Umklammerung durch den Ethnizismus lösen, der den Konflikt als Kampf völkischer bzw. kulturell-religiöser Kollektive verbrämt.

Der Kampf gegen Kolonialismus und Ethnizismus sind zwei Seiten einer Medaille. Denn koloniale Unterdrückungspolitik sucht sich ihre Legitimation letztlich immer in irgendeiner Form von Herrenmenschendünkel und Überlegenheitgswahn. Die Ethnisierung von Konflikten macht diese letztlich unlösbar und lässt damit die dauerhafte Präsenz der Großmächte als „Sicherheitsgaranten“ unverzichtbar erscheinen. Die Ethnisierung von Konflikten dient den Eliten sowohl in Israel als auch in arabischen Ländern dazu, von den inneren Problemen abzulenken und demokratische Bewegungen im eigenen Machtbereich zu bekämpfen. Auch der Versuch der Unterdrückten, sich mit Hilfe rassistischer Deutungen zur Wehr zu setzen, ist immer zum Scheitern verurteilt und führt nur tiefer in den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt. Wir treten für gewaltfreie Lösungen ein und verurteilen insbesondere jede Form der Terrorisierung der Zivilbevölkerung. Sowohl Antisemitismus als auch Islamophobie gilt es entschieden zu bekämpfen.


4. Politische Lösungen 

Der derzeitige Zustand ist unhaltbar, denn er bedeutet Ein-Staaten-Lösung auf Apartheid-Grundlage, wo PalästinenserInnen BürgerInnen 2. und 3. Klasse sind. Dazu gibt es zwei Alternativen: 

Zwei-Staatenlösung: d.h. die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967, wie es auch in wiederkehrenden UN-Resolutionen verlangt wird. Die Solidarwerkstatt hat den Vorstoß der palästinensischen Vertreter für die Anerkennungen eines solchen Staates durch die UNO unterstützt, da diese Initiative helfen kann, die tragische Spaltung der Palästinenser zu überwinden und ihre Verhandlungsposition gegenüber einer israelischen Politik zu stärken, die mit dem völkerrechtswidrigen Siedlungsbau in den besetzten Gebieten fortfährt und glaubt, die Verhandlungspartner der Gegenseite selbst bestimmen zu können.

Andererseits teilen wir die wachsenden Bedenken fortschrittlicher Palästinenser und Israelis gegenüber einer Zwei-Staaten-Lösung: Diese wird durch die reale Politik Israels selbst zunehmend verunmöglicht, indem das palästinensische Territorium durch israelische Siedlungen, Militärstützpunkte, Apartheid-Straßen, Absperrungen, Check-Points usw. zu einem Flickenteppich wirtschaftlich nicht lebensfähiger „Bantustans“ zusammenschrumpft. Ein solches Gebilde wäre kein souveräner Staat, sondern erst recht wieder von äußerer Unterstützung abhängig; die Demütigung würde in anderer Form – siehe Gaza – prolongiert. Die Ethnisierung des Konflikts droht dadurch eher befeuert als gedämpft zu werden, sodass sich die Großmächte ein Dauermandat für politische und militärische Einmischung ausstellen können. Schon jetzt wird in der EU das Eintreten für eine „Zwei-Staaten-Lösung“ mit der Stationierung von UN-, NATO- bzw. EU-Truppen auf dem Gebiet des zukünftigen Palästinas gekoppelt.  

Zunehmend an Bedeutung gewinnen daher die Vorstellungen von einem gemeinsamen binationalen Staat Israel/Palästina auf demokratischer Grundlage, d.h. one (wo)man, one vote – gleiche Rechte und Pflichten für alle auf diesem Territorium lebenden Menschen. Damit könnte sowohl die Problematik der israelischen Siedlungen im Westjordanland als auch des Rückkehrrechts palästinensischer Flüchtlinge entschärft werden. Ein solcher gemeinsamer Staat kann nicht auf aus- und abgrenzenden ethnizistischen Zuschreibungen beruhen, er bräuchte eine tiefergehende politische und soziale Fundierung, die diese kulturellen Gräben überbrückt: Absicherung sozialer Existenz- und demokratischer Mitgestaltungsrechte für alle, Souveränität gegenüber den Großmächten, friedlicher Ausgleich mit den Nachbarstaaten. Föderative Lösungen, d.h. Beibehaltung einer israelischen und einer palästinensischen Entität bei gleichzeitigem Aufbau gemeinsamer Institutionen und vergemeinschafteter Politikfelder könnten einen solchen Prozess fördern, indem gegenseitige Vorbehalte und Ängste allmählich abgebaut werden.

Ein solches Israel/Palästina sichert nicht nur die Existenz aller auf seinem Territorium lebenden BürgerInnen und Religionsgruppen ungleich nachhaltiger als die derzeitige Politik der waffenstarrenden Feindseligkeit, er könnte den demokratischen Aufbruch in der arabischen Welt festigen, ja sogar Strahlkraft für fortschrittliche Lösung in vielen Konfliktregionen dieser Welt entfalten, wo sich unter neokolonialem Einfluss ethnischer Hass und staatliche Zerfallsprozesse ausbreiten.  

Es ist auffallend, dass diese „Ein-Staaten-Lösung auf demokratischer Grundlage“ in den herrschaftlichen EU-Debatten vollkommen tabuisiert wird. Das Standardargument, es käme der „Vertreibung der Juden ins Meer“ gleich, ist vorgeschoben und absurd. Gerade ein demokratisches, multiethnisches Israel könnte wohl nur mehr schwerlich als Hassobjekt für islamistische Kampagnen taugen. Der tiefere Grund für die Tabuisierung dieser Debatte ist wohl vielmehr darin zu suchen, dass damit der Intervention der Großmächte in dieser Region der Boden entzogen werden würde, weil das imperiale Muster von Teile-und-Herrsche nicht mehr greift. Umgekehrt gilt: Eine Politik, die Israel als „westlichen Vorposten“ in „Feindesland“ positioniert, gefährdert die Existenz dieses Staates und seiner BürgerInnen am brutalsten. Dass angesichts des absehbaren Schwindens westlicher Vorherrschaft Apologeten der derzeitigen Politik Tel Avivs bereits Atomkriegspläne andenken, lässt ahnen, welche Barbarei droht, wenn nicht ein Ausweg aus dem Teufelskreis von Unterdrückung und Gewalt gelingt.


5. Was können wir hier und heute tun?

Für einen solchen gemeinsamen demokratischen multiethnischen Staat müssten freilich auf beiden Seiten die fortschrittlichen, antirassistischen und antikolonialen Kräfte ungleich stärker werden, als das derzeit der Fall ist. Die Solidarwerkstatt versucht ihren bescheidenen Beitrag dazu zu leisten, indem wir z.B. israelischen Friedens- und Menschenrechtsorgani-sationen, die die Besatzungspolitik der israelischen Regierung bekämpfen, und palästinensischen Gruppen, die in Opposition zur Hamas eine Demokratisierung und Säkularisierung des Lebens in Gaza fordern, auch hierzulande Gehör verschaffen.

Der wichtigste Beitrag, den wir hier und heute für Frieden und Gerechtigkeit im Nahen Osten leisten können, ist es, um eine andere österreichische Außenpolitik zu ringen. Österreichs Außenpolitik unternimmt derzeit faktisch keinen Schritt mehr ohne Rücksprache in Brüssel und Berlin – und ist damit Teil des Problems und nicht Teil der Lösung in diesem Konflikt. Parallel mit der zunehmenden deutsch-israelischen Militärkooperation unterhält das österreichische Bundesheer seit 2008 ein militärisches Kooperationsabkommen mit der Israelischen Armee. Österreich stimmte im Block mit den anderen EU-Staaten 2010 in der IAEO einen Antrag nieder, der Israel aufforderte, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten.

Dabei könnte gerade ein kleines, neutrales Land wie Österreich – gemeinsam mit anderen neutralen und blockfreien Staaten - wichtige Initiativen für einen Friedensprozess im Nahen Osten setzen; das hat Kreisky in den 70er Jahren bewiesen. Dafür braucht es aber den Mut für eine von der EU unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik.

Eckpfeiler einer solchen österreichischen Nahost-Politik müssten sein:

- Aktive Vermittlung von Verhandlungen zwischen den gewählten VertreterInnen Israels und Palästinas, deren Ziel das Ende von Besatzung, Blockade, Vertreibung und Gewalt sein muss

- Initiativen für einen atomwaffenfreien Nahen Osten; gerade die im Jahr 2012 dazu geplante UN-Konferenz bietet dafür eine gute Gelegenheit **)

- Sofortige Beendigung der Militärkooperation des österreichischen Bundesheeres mit der Israelischen Armee- Humanitäre Hilfe für die notleidenden Menschen in dieser Region, Unterstützung von Flüchtlingen und Asyl für Deserteure.

- Unterstützung des palästinensisch-israelischen Dialog auch auf der zivilgesellschaftlichen Ebene

- Einsetzen für einen Waffenexportstopp an alle Länder dieser Region; aus dem ÖIAG-Aufsichtsrat bzw. den Aufsichtsräten staatsnaher Unternehmen müssen die VertreterInnen jener Rüstungskonzerne, die mit ihren Waffenlieferungen in den Nah-Ost-Raum die Eskalation der Gewalt mitzuverantworten haben (z.B. Siemens, Daimler, Thyssen-Krupp) sofort abberufen werden

- Ausstieg aus den Gremien der EU-Außen- und Sicherheitspolitik (Verteidigungsagentur, Battle-Groups, Politisches- und Sicherheitspolitisches Komitee, Diplomatischer Dienst,…)


Vorstand der Solidarwerkstatt, 18.12.2011

 



*) Das Aufbrechen der Allianz mit imperialistischen Ländern betrifft aktuell in erster Linie Israel. Historisch gesehen finden wir aber auch auf palästinensischer Seite Versuche, Verbündete bei den Großmächten zu finden, etwa die grauenhafte Kollaboration des Großmuftis von Jerusalem al-Husseini mit Nazi-Deutschland.

**) Anmerkung 5.8.2014: Ein Zustandekommen dieser Konferenz ist va am Widerstand von USA und Israel bis heute gescheitert.