Neoliberale EU/IWF-Abkommen führen zu sozialen Protesten der armen Bevölkerungsschichten. Abgesichert wird der westliche Zugriff durch NATO-Anbindung.

Seit Juni brodelt es in Kenia. Vorwiegend die jüngeren Generationen gehen auf die Straße und der Unmut über eine soziale Perspektivenlosigkeit, die sich in den letzten Jahren noch verfestigt hat, entlud sich in landesweiten Protesten, besonders in der Hauptstadt Nairobi. Vielen der Demonstranten gilt der Präsident William Ruto und seine Regierung als Handlanger westlicher ausländischer Interessen, die zulasten der einfachen Menschen und Unterschichten im Lande durchgesetzt werden sollen. Funke im Pulverfass war das geplante Steuergesetz, das den unteren und arbeitenden Klassen noch mehr abverlangt hätte. Bei den Protesten wurde auch die für ihre Rücksichtslosigkeit bekannte kenianische Spezialpolizei und die Armee eingesetzt, deren Agieren einige Tote und viele zum Teil schwer verletzte Demonstranten zur Folge hatte. Es wurde sogar über Entführungen und Verstümmelungen von Oppositionellen berichtet.

Westen schweigt

Man stelle sich vor, dies wäre in einem vom selbsternannten „Werte-Westen“ als „autoritärer Schurkenstaat“ identifizierten Land passiert! Schnell wäre die Sanktionsmaschinerie in Gang gesetzt worden, inklusive Drohung mit einer „humanitären Intervention“. Im Fall des Volksaufstandes in Kenia wartete man aber vergebens auf eine drastische Verurteilung der Staatsgewalt durch die Staatenlenker der USA und EU und ihrer Leitmedien. Diese Doppelmoral und Heuchelei verwundern nicht, sieht man sich nur die Rolle an, die der kenianischen Regierung zuteilwurde. In Afrika, besonders in der Sahelzone, zeichnen sich seit einiger Zeit tektonische geopolitische Verschiebungen ab. Die einstigen Kolonialländer drehen zunehmend ihren ehemaligen kolonialen und postkolonialen Herren aus Westeuropa den Rücken zu und gehen sukzessive eine Kooperation mit den heutigen globalen Hauptgegnern des politischen Westens, der VR China und der Russischen Föderation, ein. Auf ökonomischem Gebiet meist mit der VR China im Zuge der „Neuen Seidenstraße“, militärisch mit Russland, das diesen Ländern Militärberater und meist Söldner zur Abwehr islamistischer Fundamentalisten schickt.

 Natürlich geht es hier auch der VR China und Russland um geopolitische Vorteile und ökonomische Interessen, aber immerhin, den Ländern des „globalen Südens“ inklusive Afrika bietet sich heute zumindest ein alternativer politischer Vektor an, den es vor 20, 30 Jahren so noch nicht gab. Und das nutzen immer mehr Länder.

NATO und EU festigen Stellung

Kenia erscheint hier wie einer der letzten „pro-westlichen“ Außenposten in Afrika. Erst vor kurzem schloss die kenianische Regierung ein Wirtschaftsabkommen mit der EU ab. Die Abkommen mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) werden von der kenianischen Regierung treu erfüllt. Wie es den EU-Wirtschaftsabkommen mit afrikanischen Ländern seit Jahrzehnten immanent ist, soll vor Ort das „Investitionsklima verbessert“ (vulgo Freiheit für westliche Investoren) und der „Markt geöffnet“ werden. Richtung EU dürfe aber schon auch exportiert werden. Bedenkt man die ökonomische Übermacht EU-europäischer Konzerne im Vergleich zur nach wie vor im Wesentlichen in regionalen Wirtschaftskreisläufen organisierten kenianischen Ökonomie, so wird das Resultat nicht anders als bei bisherigen EU-Abkommen in anderen afrikanischen Ländern ausfallen: Nämlich zulasten der heimischen afrikanischen Produzenten. Besonders in Berlin wird Präsident Ruto hofiert. Gleich zweimal besuchte er 2023 die BRD und wurde dort bei einem Treffen mit Investoren von Kanzler Scholz als „Afrika-Star“ inszeniert.

Die „Empfehlungen“ des IWF laufen meist auf Privatisierung des öffentlichen Eigentums, Liberalisierung von Dienstleistungen und Steuererhöhungen für die unteren Klassen hinaus. Um die Schulden Kenias tilgen zu können, wollte die Regierung in Nairobi die Steuern auf Lebensmittel und andere elementare Erzeugnisse weiter drastisch erhöhen. Doch schon jetzt können viele Menschen angesichts der in den vergangenen Jahren stark gestiegenen Lebenshaltungskosten kaum überleben. Der Gesetzentwurf war einer Empfehlung des Internationalen Währungsfonds (IWF) gefolgt.

Neoliberale Schocktherapie

Seit Präsident Rutos Amtsantritt verfolgt Kenia einen neoliberalen Kurs und treibt eine rücksichtslose Privatisierung des öffentlichen Sektors sowie der Gesundheitsversorgung voran. Die Protestierenden machen der Regierung den Vorwurf, sie unterwerfe sich dem „Diktat des IWF“. Auch die grassierende Korruption wird von den Protestierenden thematisiert. Lewis Maghanga von der „Revolutionär-Sozialistischen Liga Kenias“ bezeichnet in einem Interview für die deutsche Zeitung „junge Welt“ das heutige Kenia gar als „Neokolonie des Imperialismus“ und kritisiert vor allem die fehlende Nahrungsmittelsouveränität.

Damit Kenia nicht vom Kurs abfällt, wurde das Land vor einigen Wochen während eines Besuches des kenianischen Präsidenten in Washington von Joe Biden zum „Major Non-NATO Ally“ ernannt, d.h. zu einem NATO-Premium-Partner in Afrika. Als so ein „Premium-Partner“ wird Kenia privilegierten Zugang zu hochmoderner Militärausrüstung auf NATO-Standard, Ausbildung und Krediten zur Erhöhung der Rüstungsausgaben haben. Kenia ist auch Teil der sogenannten „Ukraine Defense Contact Group“, einer Koalition von ca. 50 Nationen, die unter der Ägide der NATO die Bewaffnung der Ukraine organisieren. In Kenia unterhält die USA auch zwei Stützpunkte, die für die NATO strategisch umso wichtiger sind, je mehr afrikanische Länder einen eigenständigeren Entwicklungsweg wählen.

Kleiner Erfolg der Volksbewegung

Da die Proteste nicht abrissen und immer intensiver wurden, musste Präsident Ruto vorerst einmal zurückrudern und kippte das geplante Steuergesetz. Nach Meldungen gehen die Proteste der Jungen und der unteren Klassen jedoch weiter. Zu groß ist der Zorn über das soziale Elend und die Korruption. Es bleibt abzuwarten, ob Kenia in diesem wie oben beschriebenen „neokolonialen Status“ verharrt oder die Volksproteste mittel- und langfristig auch zu mehr Souveränität, Gleichheit und Selbstbestimmung führen.

David Stockinger