Eingrenzbar ist sie kaum, die an Frauen und Mädchen begangene Gewalt. Ungerechtigkeit und Diskriminierung sind eine – ubiquitäre – Form von Gewalt. Und es gibt sehr viel heftigere, nicht weniger weitverbreitete Formen von gender based violence. Solch Gewalt ist beileibe kein afrikanisches Phänomen. Aber sie ist AUCH ein afrikanisches Phänomen. Und nicht nur ein südafrikanisches.
Günther Lanier, Ouagadougou, 27.11.2019.
Der 25. November[1] wurde von der UNO zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen[2] auserkoren. Er ist zudem der erste der “16 Tage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen“, die bis zum 10. Dezember dauern, dem Internationalen Menschenrechtstag.
Das von der UNO für den heurigen 25. November ausgegebene Motto ist “Orange the World“[3] – die meinen Artikel begleitenden Fotos[4] sind mein Beitrag zum Orange-Färben der Welt.
Orange steht für eine bessere, eine strahlende Zukunft, frei von Gewalt. Und es steht für Solidarität[5].
“Gewalt“ hat dieselbe Wurzel wie “walten“, das indoeuropäische Verb bedeutete ursprünglich “stark sein, beherrschen“. Doch im Gegensatz zu “Stärke“ ist “Gewalt“ negativ besetzt. Kraft braucht keine Gewalt. Und Herrschaft ebenso wenig, auch wenn sie sich ihrer in der Praxis oft bedient[7].
Theoretisch hat der Staat seit der Moderne ein Gewaltmonopol.
Gewalt gegen Frauen zeigt deutlich auf, dass die Realität weit davon entfernt ist. Die meiste Gewalt gegen Frauen und Mädchen passiert im Privatbereich.
Deswegen auch die feministische Parole “Das Private ist politisch“.
Gewalt gegen Frauen ist die häufigste Menschenrechtsverletzung[8].
Ich habe mich in meinen Artikeln[10] und Büchern[11] immer wieder mit Gewalt gegen Frauen beschäftigt, ich will hier heute weder Zahlen noch konkrete Beispiele liefern.
Die Omnipräsenz eines erschreckenden Gewaltpotenzials ist nichts spezifisch Afrikanisches, auch nicht, wie nahe unter der gesitteten Alltagsoberfläche diese Gewalt wartet, und auch nicht, dass sich dieses Potenzial dann insbesondere gegen die richtet, die die Gesellschaft als “schwach“ konstruiert. Auch nicht afrikaspezifisch ist, dass die Gewalt ganz überwiegend aus nächster Nähe kommt. Theoretisiert haben andere[12], ich beschränke mich hier darauf, eine zu dem Thema in Burkina Faso von der UNO angefertigte Studie zusammenzufassen – sie ist mit kleinen Variationen wohl anderswo in Afrika ebenso gültig.
2006 gab das Generalsekretariat der Vereinten Nationen den Auftrag zur Enquete “Der Gewalt gegen Frauen ein Ende setzen“. Sie lenkte weltweit die Aufmerksamkeit auf das Ausmaß des Phänomens. Unter den darin gemachten Vorschlägen war ein von den UNO-Organisationen gemeinsam zu betreibendes Pilotprogramm. Dieses wurde in der Folge unter Federführung der IANWGE (Inter-Agency Network on Women and Gender Equality) und ihrer Gewalt gegen Frauen-task force in zehn Ländern verwirklicht. Burkina war eines dieser zehn Länder[14]. Als erste Etappe sah dieses Pilotprojekt eine Basisstudie vor. Sie wurde in sechs der dreizehn Regionen des Landes durchgeführt und lag Ende 2008 vor[15].
Die Studie identifizierte sechs Kategorien von Gewalt gegen Frauen:
* Physische/körperliche Gewalt: Verletzung der körperlichen Unversehrtheit der Frau. Diese geht in erster Linie vom Intimpartner aus. Adoptivtöchter, Dienerinnen, Serviererinnen und Prostituierte sind weitere Hauptbetroffene.
* Psychologische Gewalt[16]: Verletzung der Persönlichkeit der Frau, ihres Images, ihres Selbstwertes, ihres inneren Gleichgewichts. Innerfamiliär sind Beschimpfungen, Erniedrigungen, Drohungen, Erpressungen, Einschüchterungen zu verzeichnen, der Intimpartner kann seine Frau verstoßen, ihre Entscheidungsfreiheit, was ihr Leben betrifft, nicht respektieren; er kann – im Fall von Polygynie – ungeliebte Frauen oder solche in den Wechseljahren gegenüber ihren jüngeren Mit-Frauen abwerten, kann sterile Frauen fallenlassen und solche, die nur Mädchen gebären, vernachlässigen. Diese Art von Gewalt wird auch in der Schule, im Beruf und auf der Straße praktiziert.
* Sexuelle Gewalt: Hierunter fallen obszöne Worte, sexuelle Misshandlungen, Vergewaltigung, sexuelle Belästigung, Berührungen der Geschlechtsorgane und Ähnliches, wenn Zwang angewandt wird. Vergewaltigungen in der Ehe und Vergewaltigungen als Inzest benötigen besondere Aufmerksamkeit, da hier noch mehr Tabus im Spiel sind als bei anderen Formen sexueller Gewalt.
* Ökonomische Gewalt: “Kaum eine burkinische Ethnie gesteht der Frau ein Recht auf Besitz zu. Sie selbst ist in einem weiten Sinn Teil des Familienvermögens“[18]. Den Frauen ist der Zugang zu den Produktionsmitteln verwehrt, sie sind nur selten Eigentümerinnen von Grund und Boden, sie sind nicht frei, den Beruf ihrer Wahl auszuüben, haben nicht einmal vollständige Kontrolle über die Erträge ihres Kleinhandels. Nach dem Tod des Mannes werden sie oft ihres Besitzes beraubt, auch im Rahmen des Levirats.
* Politische Gewalt: Posten mit Entscheidungsmacht bleiben für Frauen un- oder schwer erreichbar.
* Kulturelle Gewalt[19]: Weibliche Genitalverstümmelung/Exzision; Levirat (die Witwe wird gezwungen, einen Verwandten ihres verstorbenen Mannes zu heiraten); Zwangsheirat (ohne Zustimmung der Betroffenen) und Kinderheirat (das legale Mindestheiratsalter für Mädchen ist 17); Vertreibungen wegen Hexereivorwürfen (betrifft vor allem alte, schwache Frauen mit wenig oder keinem sozialen Rückhalt)[20].
Der hier dargestellte Salamander galt einst als feuerfest.
Schön wäre es, wenn die viel zu viele gegen sie gerichtete Gewalt den betroffenen Mädchen und Frauen ebenso wenig anhaben könnte!
Und mögen – dieser Wunsch ist vielleicht realistischer – die Traumatisierten wie oben Phoenix aus Flammen und Asche wiederauferstehen!
Ob in der Satten oder in der Dritten Welt: Tun wir alles, um sie dabei zu unterstützen!
Besser noch: Lassen wir es gar nicht dazu kommen. Halten wir Augen und Ohren offen!
Endnoten:
[1] “Gefeiert” wird dieser Tag seit 1981. Das Datum wurde zu Ehren der drei Mirabal-Schestern gewählt, die am 25.11.1960 auf Geheiß des Diktators der Dominikanischen Republik, Rafael Trujillo, brutal ermordet wurden.
Die Mirabal-Schwestern, zusammengestellt von Alvaro Diaz y Adony Flores am 13.10.2016, orange eingefärbt von GL – das Original hat einen Blau-Stich, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:25_de_noviembre_d%C3%ADa_de_la_no_violencia_contra_la_mujer.jpg.
[2] Der “International Day for the Elimination of Violence against Women” wurde am 7.2.2000 von der UNO-Generalversammlung mittels Resolution 54/134 eingerichtet.
[3] Vollständig: “Orange the World: Generation Equality Stands Against Rape”. Siehe https://www.un.org/en/events/endviolenceday/.
[4] Das dem Artikel vorangestellte Bild zeigt brennendes Unkraut, Foto von Fir0002, nicht datiert, wahrscheinlich 2006 oder 2005, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fire02.jpg.
[5] Siehe Unesco, Orange the World Campaign, https://en.unesco.org/commemorations/eliminationofviolenceagainstwomenday/orangetheworld.
[6] Ohne Titel/Frauen“porträt“, gemalt von Laurent Ilboudo ca. 2007, Foto GL 26.11.2019.
[7] Wie sehr Gewalt zur Kultur der kenianischen Polizei gehört, zeigt z.B. Tessa Diphoom, Why decades of Kenya police reforms have not yielded change, The Conversation 25.11.2019, https://theconversation.com/why-decades-of-kenya-police-reforms-have-not-yielded-change-127332. Für nichtrechtfertigbare staatliche Gewalt gibt es leider auch sonst mehr als genug Beispiele: Tansania, Simbabwe, Guinea, Ägypten, Uganda…
[8] “Violence against women and girls is the most pervasive violation of human rights in the world today”. So beginnt Charlotte Bunch’s Frauen-Kapitel in Unicef, The Progress of Nations 1997, https://www.unicef.org/publications/files/pub_pon97_en.pdf, p.41.
[9] Lagerfeuer, Foto MarcusObal im Juli 2005, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:FIRE_01.JPG.
[10] Zuletzt Günther Lanier, Die “Rache“ der Vernachlässigten. Morde an Frauen und Fremden, Radio Afrika TV 11.9.2019, http://www.radioafrika.net/2019/09/11/die-rache-der-vernachlaessigten/. Und zwei Monate vorher Günther Lanier, Is it Really Love that Makes You Hurt Me? Women Beware of Your Partners! Radio Afrika TV 10.7.2019, http://www.radioafrika.net/2019/07/10/is-it-really-love-that-makes-you-hurt-me/.
[11] Kapitel 9-12 meines Burkina-Buches beschäftigen sich mit Gewalt gegen Frauen, zuerst allgemein, dann detaillierter mit Kinderheirat, Hexenvertreibungen und Exzision (Günther Lanier, Land der Integren. Burkina Fasos Geschichte, Politik und seine ewig fremden Frauen, Linz (guernica Verlag) 2017). In Günther Lanier, Afrika. Exkursionen an den Rändern des Weltsystems, Linz (guernica Verlag) 2019 sind die Kapitel 20 (Mauretanien), 39 und 77 (Burkina) der Gewalt gegen Frauen im engeren Sinn, viele mehr der Diskriminierung von Frauen gewidmet.
[12] Z.B. Diana E. H. Russell, The Politics of Rape. The Victim’s Perspective, Lincoln (Authors Guild Backinprint.com Edition) 1984/2003 (erste Publikation 1975); Sally Engle Merry, Gender Violence. A Cultural Perspective, Chichester (Wiley-Blackwell) 2006; Sally Engle Merry, Human Rights & Gender Violence. Translating International Law into Local Justice, Chicago (Univ.of Chicago Press/Chicago Series in Law and Society) 2006; INCITE! Women of Color Against Violence (Hg.), Color of Violence. The INCITE! Anthology, Cambridge, Massachusetts (South End Press) 2006.
[13] Feuer, Foto von MyName (Pedroserafin), nicht datiert, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Firetora.jpg.
[14] Neben Burkina Faso war Ruanda das einzige afrikanische Land in dieser Zehnergruppe. Die anderen acht waren Chile, Fidschi, Jamaika, Jordanien, Kirgistan, Paraguay, Philippinen, und Jemen.
[15] Wendyam Kaboré/Zaré, Yacouba Yaro, Ibrahim Dan-Koma, Etude de base du programme conjoint “Violences à l'égard des femmes au Burkina Faso“, Ouagadougou (Réseau inter-agences sur les femmes et l'égalité de genre/Groupe de travail sur les violences faites aux femmes) November 2008. Am Netz verfügbar ist eine frühe (Mai 2008), sehr unvollständige Version dieser Studie: http://www.action-sociale.gov.bf/index.php/politiques/programmes?download=108:programmes.
[16] Im Französischen geht “psychologische“ oft Hand in Hand mit “moralischer Gewalt“, die beiden unterscheiden sich bedeutungsmäßig kaum. Da der Ausdruck im Deutschen nicht üblich ist und eine falsche Fährte legt, lasse ich ihn weg.
[17] Wiedergeburt des Phönixes, angefertigt im Juni 2008 von Duilio1967, überarbeitet (Überschrift “Théâtre en Rond“ entfernt) GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Phenix_theatre-en-rond.jpg.
[18] Wendyam Kaboré/Zaré et al (a.a.O.), p.23.
[19] Ein unglücklicher Ausdruck. Impliziert er doch, dass es natürliche und künstliche/kulturelle Gewalt gibt.
[20] Die Darstellung der burkinischen Basisstudie ist mit kleinen Abweichungen ein Zitat aus dem bereits erwähnten Günther Lanier, Land der Integren. Burkina Fasos Geschichte, Politik und seine ewig fremden Frauen, Linz (guernica Verlag) 2017, pp.402f.
[21] Salamander aus Pedanios Dioskurides, Der Wiener Dioskurides: Codex medicus Graecus 1 der Österreichischen Nationalbibliothek fol. 423 recto. Bild und “Buch“ stammen aus Konstantinopel, sind um das Jahr 512 herum entstanden – das “Wiener“ im Namen kommt davon, dass die 485 großformatigen Pergamentblätter seit dem 16. Jahrhundert in der Wiener Hofbibliothek/Wiener Nationalbibliothek aufbewahrt werden. Seit 1997 gelten sie als UNESCO-Weltdokumentenerbe.
Nach damaligem Glauben konnte Feuer dem Salamander nichts anhaben, weshalb er hier inmitten von Flammen dargestellt ist; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Salamander_(Wiener_Dioskurides).jpg; keine Angaben, wer die Abbildung wann gescannt hat.