Am 20. August 2018 war es endlich soweit: Nach acht grauenhaften Jahren verließ Griechenland das Krisenprogramm von EU und IWF. Doch das Martyrium geht weiter – voraussichtlich bis 2060.

 

Die Basler Zeitung bemerkte: „Kein anderes europäisches Land musste in der Nachkriegszeit eine derart brutale Rosskur erdulden.“ (18.8.2018). Eine „Kur“ war es jedoch nicht, eher die Erdrosselung von Wirtschaft und Sozialsystem. Einige Zahlen: Verglichen mit dem Vorkrisenstand ist die Wirtschaftsleistung Griechenlands um ein Viertel geschrumpft, die verfügbaren Einkommen sind durchschnittlich sogar um ein Drittel eingebrochen. Die Staatsverschuldung explodierte von 120 Prozent auf fast 180 des BIP. 22% der GriechInnen gelten als extrem arm, d.h. sie sind nicht mehr in der Lage, ihre grundlegenden Bedürfnisse selbst zu befriedigen.

Auch wenn es 2017 ein bescheidenes Wachstum des BIP von 1,4% gab, ist wirtschaftlich nach wie vor kein Licht am Ende des Tunnels in Sicht: Die Arbeitslosigkeit ist immer noch auf 20%, die Jugendarbeitslosigkeit auf über 40%. Zwar hat es in den letzten Jahren einen Rückgang der Arbeitslosen gegeben, dieser ist aber vor allem darauf zurückzuführen, dass insbesondere die jungen und gut qualifizierten GriechInnen scharenweise das Land verlassen. Mehr als eine halbe Million griechischer Lohnabhängiger haben das Land im Verlauf der Krise verlassen. Der IWF geht in einem „best case“-Szenario davon aus, dass Griechenland frühestens in zehn Jahren konjunkturell wieder das Niveau von 2007 erreichen könne – wenn es nicht zwischenzeitlich wieder zu einer Rezession kommt.

EU-Twopack: Unter Kuratel bis 2060

Mit dem Auslaufen des letzten der drei sogenannten „Rettungspakete“ im August wird sich für die Griechen wenig ändern. Eurogruppe, EU-Kommission und EZB haben dafür gesorgt, dass Hellas noch Jahrzehnte unter neokolonialer Vormundschaft bleibt. Das sog. „Twopack“, zwei Verordnungen aus dem Jahr 2013, geben den EU-Institutionen dafür das rechtliche Instrument in die Hand. Unter dem Schlagwort „verstärkte Überwachung“ sieht das Twopack vor, dass die EU-Institutionen das Land solange weiter unter Kuratel behalten können, bis 75 Prozent der Schulden bei den „Rettungsfonds“ EFSF und ESM sowie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) beglichen sind. Und das kann noch lange dauern. Eine vollständige Rückzahlung der Kredite ist derzeit bis 2059 geplant. Eine jüngst beschlossene Streckung der Tilgung verschiebt das Fälligkeitsdatum noch weiter nach hinten. Selbst wenn der auf sehr optimistischen Annahmen beruhende Rückzahlungsplan eingehalten wird, wird es bis ca. 2060 dauern, bis die 75 Prozent-Marke erreicht ist.

Was bedeutet das konkret: Für den betroffenen Mitgliedsstaat gelten im Zeitraum der verstärkten Überwachung besondere Informationspflichten gegenüber den „Institutionen“. Vierteljährliche „EU-Überprüfungsmissionen“ sollen dafür sorgen, dass sämtliche der zuvor vereinbarten neoliberalen „Reformen“ umgesetzt werden.

„Eventualmechanismus“

Damit nicht genug: Denn zu den beschlossenen Maßnahmen gehören nicht nur jene gehören, die in den Programmen festgeschrieben und bzw. großteils längst umgesetzt wurden. Vielmehr akzeptierte Griechenland 2016 als Auflage zur Auszahlung der zweiten Kredittranche des dritten Programms einen „Eventualmechanismus“, der vorsorglich in Gesetzesform gegossen wurde und automatisch in Kraft tritt, sobald die Kommission bei einer Überprüfung der Haushaltslage eine „Evidenz für das Verfehlen der jährlichen Primärüberschussziele“ feststellt. Das jährliche Primärüberschussziel liegt bei 3,5 Prozent bis 2022– danach noch 2,2 Prozent bis zum Jahr 2060. Selbst der IWF hält das für unrealistisch.

„Korrekturmaßnahmen“

Es ist also wahrscheinlich, dass der Mechanismus früher oder später ausgelöst wird. Was passiert dann? Analog zum Ausmaß der von der Kommission ermittelten Verfehlung sollen sämtliche Ausgabenposten des Staates (mit einigen vorab festgelegten Ausnahmen) bis zu einer Grenze von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung gekürzt werden. Das könnte immerhin zusätzliche Kürzungsmaßnahmen in einem Volumen von gut 3,5 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten. Außerdem sieht das Two-Pack-Regelwerk vor, dass die EU-Kommission dem Rat „Korrekturmaßnahmen“ vorschlagen kann, die dann automatisch als angenommen gelten, wenn nicht innerhalb von zehn Tagen eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten dies ablehnt. Eine sehr hohe Hürde, die der Kommission praktisch freie Hand gibt. Sind die Korrekturmaßnahmen auf diesem Weg beschlossen, gelten sie als offizielle Forderung der EU gegenüber Griechenland.

Das Damoklesschwert der EZB

Da die „Institutionen“ im Zeitraum der verstärkten Überwachung nicht mehr mit Nicht-Auszahlung von Kredittranchen drohen können, werden die geldpolitischen Druckmittel entscheidend. Es kommt also die Europäische Zentralbank (EZB) ins Spiel. Sie hat bereits 2015 Griechenland in die Knie gezwungen, indem sie den Ankauf griechischer Anleihen stoppte und auch die sogenannten Notkredite drosselte. Dieses Demoklesschwert schwebt in den nächsten Jahrzehnten über Griechenland. „Demokratie“ a´la Brüssel.

(Oktober 2018)