ImageFolgenden Beitrag über die Neuorganisation fortschrittlicher Kräfte in der Türkei haben wir von der Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF) erhalten. Die Parteien und Organisationen, die unter dem Namen “Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit” in einem gemeinsamen Bündnis zur Parlamentswahl am 12. Juni antraten und 36 Abgeordnete ins türkische Parlament schickten, wollen nun eine gemeinsame Partei gründen. Der stellvertretende Vorsitzende der Partei der Arbeit (EMEP) Ender Imrek, der dem Vorbereitungsausschuss angehört, im Interview mit "YeniHayat/NeuesLeben".



Neues Leben (NL): Welche Ziele will die “neue Partei” verfolgen? Und wie sieht der Terminplan aus?

Ender Imrek (EI): Der “Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit” war eine Möglichkeit, mit gemeinsamen unabhängigen Kandidaten die 10-Prozent-Hürde zu überwinden. Hätte man bereits vor den Wahlen die Vorbereitungen abgeschlossen, hätten diese Kräfte auch als Partei die Hürde überwinden und mit zahlreichen Abgeordneten ins Parlament einziehen können. So musste man vor der Wahl auf die Teilnahme an der Wahl als Partei verzichten und konnte trotz der vielen undemokratischen Hindernisse einen großen Erfolg erzielen. Neben der quantitativen Steigerung von 22 auf 36 Abgeordneten gelang uns auch die Vertretung von türkischen und kurdischen Kreisen und deren gemeinsamer Kampf. Der Block stellt für das türkische und kurdische Volk, für die unterdrückten und ausgebeuteten Massen, für demokratische und sozialistische Kräfte nicht nur ein Wahlbündnis dar. Vielmehr hat er sich zu einem politischen Mittelpunkt für den Kampf um Demokratie weiterentwickelt. Viele haben sich von den bürgerlich-etablierten Parteien abgewendet und setzen große Hoffnungen in den Block. Einige Parteien und Organisationen, die zuvor dem Block ferngeblieben waren, zeigen inzwischen großes Interesse an unserem Bündnis.

Er wird inzwischen als eine zentrale demokratische Kraft wahrgenommen, die die richtigen Lösungen für die kurdische Frage, für wirtschaftliche, soziale und politische Probleme hat. Daraus resultierte das Bedürfnis, den Block umzuformen und zu einer Partei weiterzuentwickeln. Nach den Diskussionen der letzten Monate sind wir heute an dem Punkt angelangt, dass zuerst ein Kongress geschaffen wird, der auch Kräfte einbindet, die einer gemeinsamen Partei fernbleiben würden. Mit dem erstrebten Türkei-Kongress wollen wir auch den Weg für eine Partei ebnen. Am 15. und 16. Oktober werden in Ankara 825 Delegierte aus allen 81 Provinzen der Türkei zusammenkommen und den Kongress abhalten. Die programmatische und formelle Arbeit wird von einer Gruppe von 100 Menschen geleistet, die einer gewählten Türkei-Versammlung angehören werden. Unser Ziel ist es, zu der Kommunalwahl im Jahre 2014 mit der neuen Partei anzutreten.

NL: Worin wird sie sich von den bürgerlich-etablierten Parteien unterscheiden?

EI: Der Kongress hat bis jetzt ein Programm ausgearbeitet, das sich in allen Punkten von denen der bürgerlich-etablierten Parteien unterscheidet und diese angreift. Es wird eine Organisation sein, die den Kampf gegen Imperialismus, Besatzungen, Kolonialismus und Kriege aufnimmt. Ihr Ziel wird es sein, die Einheit der Arbeiterklasse, der Werktätigen, der Völker, der unterschiedlichen kulturellen Identitäten und Frauen zu erreichen, sowie die Rechte und Freiheiten zu erkämpfen, die ihnen in der 87-jährigen Geschichte der Republik versagt wurden. Sie wird antikapitalistisch und gegen Kriege, gegen den Faschismus und gegen Militärputsche sein. Sie wird sich für demokratische Rechte und Freiheiten einsetzen und für die völlige Beseitigung der heutigen Verfassung sein, die ein Überbleibsel der Militärjunta der 80`er Jahre ist. Sie wird sich für die demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage, für die Gewährung von regionalen Autonomierechten für Kurden, für die Beendigung der Unterdrückung von unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften, für Bildung in den unterschiedlichen Muttersprachen, für den Schutz von Umwelt und kulturellen Reichtümern stark machen. Man kann auch sagen, dass der Kongress und die Partei eine Art Volksfront sein wird, die für die Stärkung der Organisation und des Kampfes der Ausgebeuteten und Unterdrückten eintritt.

NL: Konnte man bis jetzt in der Zusammensetzung die gewünschte Breite erreichen?

EI: Wir sehen, dass unsere Arbeit auf großes Interesse und Begeisterung stößt. Das wurde z.B. auf einem Treffen mit Intellektuellen, Wissenschaftlern und Künstlern deutlich, das wir vor einigen Tagen in Istanbul verwirklicht haben. Unsere Kontakte zu Gewerkschaften, Berufsverbänden etc. machen uns große Hoffnungen. Zu der Umweltbewegung, die sich gegen die grenzenlose Erschließung von natürlichen Lebensräumen durch imperialistische Konzerne einsetzt, haben wir gute Kontakte. Auf lokaler und regionaler Ebene arbeiten wir mit Verwaltungsstellen von Gewerkschaften und mit Anwalts- und Ärztekammern eng zusammen. Mancherorts sind die genannten Verbände ganz offiziell feste Mitglieder der Ortsgruppen. Trotzdem wollen und können wir nicht behaupten, dass die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in erster Linie auf die Zusammenarbeit mit uns setzt. Ich möchte jedoch unterstreichen, dass die Entwicklungen in dieser Hinsicht Grund zu großer Hoffnung geben.

NL: Wird die kurdische Frage den Arbeitsmittelpunkt der neuen Partei bilden, oder wird sie sich allen Problemen der Türkei widmen?

EI: Natürlich wollen wir uns mit allen Problemen der Türkei beschäftigen. Der Programmentwurf ist ein Beleg dafür. Und auch das spätere Parteiprogramm wird sich daran orientieren. In dem Programm haben wir verschiedene Abschnitte, wie Arbeit, demokratische Rechte, kulturelle Identitäten und Glaubens-gemeinschaften, Geschlechtergleich-stellung, Umweltschutz, Jugend etc. Das Spektrum umfaßt also alle möglichen Bereiche. Die Lösung der kurdischen Frage gehört genauso dazu, wie der antikapitalistische Kampf. Die kurdische Frage ist ein wichtiger Bereich, der ganz dringend auf eine Lösung wartet. Ein sofortiger Waffenstillstand, die Aufnahme von Gesprächen, die Freilassung von politischen Gefangenen sind brennende Forderungen. Deshalb nimmt dieser Bereich einen wichtigen Platz in unserer Arbeit ein. Der Kongress und die Partei werden sich für die nationale Gleichberechtigung der Kurden, für die verfassungsrechtliche Gewährung ihrer Rechte einsetzen.

NL: Einige linke Parteien in der Türkei haben beschlossen, ihre Bemühungen mit Distanz zu verfolgen. Aus welchem Grund? Und wie sehen Sie das?

EI: Bei den Vorbereitungen haben wir Kontakt zu allen Gruppierungen aufgenommen und Gespräche geführt. Wir haben uns darum bemüht, dass alle Kräfte, die mit der derzeitigen politischen Lage unzufrieden sind, die mehr Rechte für Arbeiter und demokratische Freiheitsrechte fordern, die sich gegen die Angriffe des Kapitals positionieren, die sich als sozialistische Kräfte definieren, bei uns vertreten sind. Diese Bemühungen werden wir auch in Zukunft fortsetzen. Allerdings haben Gruppierungen und Parteien wie die ÖDP, TKP, “Volkshäuser” etc., die bei dem Wahlbündnis nicht mitmachen wollten, ihre Distanz bewahrt und sind den Vorbereitungen für die Gründung der neuen Partei ferngeblieben. Wir glauben, dass der eigentliche Grund dafür in ihrer Haltung in der kurdischen Frage liegt. Denn die von ihnen vorgeschobenen Gründe und Argumente für die Distanzierung sind nicht nachvollziehbar. Die ÖDP argumentiert mit negativen Erfahrungen in der Vergangenheit. Andere sehen in uns eine Bewegung, die die kurdische Frage im Mittelpunkt ihrer Arbeit hätte. Doch: Der Programmentwurf des Kongresses beschäftigt sich nicht ausschließlich mit der kurdischen Frage. Er beinhaltet revolutionäre Lösungsansätze für alle Probleme der Türkei. Er hat einen antikapitalistischen Charakter und setzt sich auch für die Forderungen der Arbeiterklasse ein. Die kurdische Frage, die seit über drei Jahrzehnten unzählige Todersopfer gefordert hat, darf jedoch nicht ganz übersehen oder übergangen werden.

NL: Welche Erwartungen haben Sie an die fortschrittlichen Kräfte in Deutschland und Europa?

EI: Wir müssen mit allen fortschrittlichen Kräften solidarisch sein. Dies ist erforderlicher denn je. Wir brauchen Solidarität und Methoden, die den Kampf der Menschen in Europa gegen die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise, den Kampf der Völker in arabischen Ländern und den Kampf der Kurden miteinander verbinden.

Wir brauchen eine Solidarität gegen diejenigen, die die AKP als Garant für die Demokratisierung der Türkei vermarkten. Wir müssen unseren gemeinsamen Kampf gegen Kriege verstärken. Wir müssen enge Kontakte zu fortschrittlichen europäischen Parteien und Organisationen aufbauen. Wir wissen auch, dass Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Europa unsere Arbeit mit großem Interesse verfolgen. Wir müssen Wege und Methoden entwickeln, um ihre Unterstützung und Solidarität zu verstärken.

Übersetzung von Mehmet Çallı
17. Oktober 2011