Gespräch des Werkstatt-Blatts mit Georg von Riseup4Rojava aus Wien über die kurdische Freiheitsbewegung, den Angriffskrieg der Türkei und die Doppelmoral der EU.

Werkstatt-Blatt: Du engagierst dich in der Solidarität für Rojava bzw. die kurdische Freiheitsbewegung. Was sind deine Beweggründe?

Georg: Ich habe die kurdische Freiheitsbewegung über den Klima-Aktivismus kennengelernt. Der Kapitalismus präsentiert sich heute als einzige Alternative, wir sollten die Vernichtung unserer Lebensgrundlage, den Krieg und die Sklaverei akzeptieren. Doch die Revolution in Rojava zeigt, dass Sozialismus im 21. Jahrhundert möglich ist. Auf den Grundpfeilern Ökologie, Frauenbefreiung und radikale Demokratie wird in Rojava kontinuierlich an der Transformation der Gesellschaft gearbeitet. Statt einen Staat zu gründen und die Fehler des Realsozialismus zu wiederholen, fokussiert die Revolution auf die Entwicklung einer, wie sie sagen, moralisch-politischen Gesellschaft, welche sich in der Autonomen Selbstverwaltung Nord-Ostsyriens ausdrückt. Das ist für mich eine große Quelle von Hoffnung und Inspiration.

Seit dem Beginn der Existenz der Selbstverwaltung wird diese von der Türkei angegriffen. Am 19. November startete die Türkei eine neue Großoffensive, welche seit Monaten in Vorbereitung ist. Mit etwa 100 Kampfflugzeugen wurden Ziele auf einer Länge von 700 km bombardiert, darunter viele zivile Ziele: Krankenhäuser, Schulen, Weizensilos, Elektrizitätswerke, sowie Benzin- und Gasversorgung[^1]. Dabei wurde die ökonomische Lebensgrundlage der zivilen Bevölkerung zerstört, um sie in die Flucht zu treiben, also ethnische Säuberungen zu betreiben. Seither dauern die Angriffe unter Einsatz schwerer Artillerie an, eine Bodenoffensive steht bevor.

Als Vorwand für den Angriff dient eine Bombenexplosion am 13. November in einer berühmten Einkaufsstraße in Istanbul. Just am Tag nach dem Anschlag wurde die "PKK/PYD/YPG" als Urheberin ausgemacht, ohne dabei handfeste Beweise zu nennen. Die beschuldigten Organisationen haben eine Beiteiligung deutlich von sich gewiesen. Sogar die FAZ bezeichnet das türkische Narrativ als "seltsam"[^4]. Kurdische Organisationen gehen von einem False-Flag Angriff aus[^5].

Die türkische Armee greift seit Jahren kurdische Gebiete in Syrien und im Irak an. Gerade jetzt läuft wieder eine große Offensive. Welche Interessen stehen hinter diesen Angriffskriegen Erdoğans?

Zuerst möchte ich klarstellen, dass es im aktuellen Krieg nicht allein um die Interessen der Türkei geht. Die Angriffe sind mit den Großmächten der Region abgesprochen. Sowohl Russland als auch die USA haben den Luftraum in Syrien für türkische Kampfjets und Drohnen de facto freigegeben[^6].

Zum einen verfolgt Erdoğans Regime machtpolitische Interessen: 2023 wird in der Türkei gewählt, doch die schwere Wirtschaftskrise und die brutale Unterdrückung des kurdischen Volkes und jeglicher demokratischen Opposition lassen Erdoğans Wählerbasis schrumpfen. 1923 wurden die aktuellen Grenzen der türkischen Republik im Vertrag von Lausanne festgelegt, doch türkische Nationalisten träumen von einem großtürkischen Reich, dessen Grenzen weit in den Irak, nach Syrien und nach Zentralasien hineinreichen.

Zum anderen hofft die Türkei, Öl- und Gasquellen in Südkurdistan unter ihre Kontrolle zu bringen. Hier gibt es eine Überschneidung mit den Interessen Europas, das dringend Alternativen zu russischem Gas braucht und schon seit Jahrzehnten auf die enormen Gasreserven des Mittleren Ostens schielt. Fast sämtliche Pipeline-Routen verlaufen durch die Türkei. Vor zehn Jahren wurde das NABUCCO Gaspipeline Projekt stark diskutiert, welches Gas aus Azerbaijan und Südkurdistan durch die Türkei bis nach Wien transportieren sollte. Das Projekt scheiterte damals an fehlenden Lieferzusagen. Es ist auffällig, dass innerhalb kurzer Zeit die vier führenden österreichischen Politiker Ludwig, Nehammer, Sobotka und Van der Bellen auf Besuch bei Erdoğan waren. Für Europa geht es um sehr viel: Ohne günstiges Gas aus Russland oder dem Mittleren Osten werden große Teile des Industriekapitals abwandern.

Doch es ist auch ein Krieg gegen die Ideologie der Selbstverwaltung. Die imperialistischen Kräfte haben große Angst, dass die Menschen im Mittleren Osten und darüber hinaus ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen. Der Slogan der kurdischen Frauenorganisationen, 'Jin, Jiyan, Azadi' ('Frauen, Leben, Freiheit') hallt aktuell durch die Straßen des Iran und versetzt die Herrschenden in Furcht und Schrecken.

Welche Auswirkungen hat die türkische Politik auf das Leben der Menschen in den kurdischen Gebieten?

Die Selbstverwaltung steht seit Jahren unter einem Embargo, um den Willen der Bevölkerung zu brechen. Seit Jahren führt die Türkei einen Krieg niedriger Intensität. Fast täglich gibt es Berichte von Drohnenangriffen auf politische Schlüsselpersonen, besonders auf die Selbstorganisierung der Frauen. Teil der Kriegsführung ist auch die Kontrolle des Wassers: Die türkischen Staudämme, gebaut mit Technologie von Andritz aus Graz, schneiden der Landwirtschaft das Wasser ab. Auch Wasserwerke auf besetztem Gebiet, welche selbstverwaltete Städte versorgen, wurden abgedreht, was zu einer Cholera Pandemie führte[^7]. Dazu kommen islamistische Schläferzellen, welche die Bevölkerung terrorisieren. So haben dieses Jahr IS-Zellen mit Unterstützung des türkischen Geheimdiensts einen Angriff auf das IS-Gefangenenlager in Heseke durchgeführt, wo unter andrem viele IS-Kämpfer:innen aus europäischen Ländern inhaftiert sind. Diese unmoralische Art der Kriegsführung ist angelehnt an 'Counter Insurgency' Taktiken, die von westlichen Imperialisten entwickelt wurden, um revolutionäre Bewegungen in ihren Kolonien niederzuschlagen. Diese Angriffe haben jedoch nicht zum gewünschten Ziel geführt, deshalb eskaliert das türkische Regime den Krieg.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Türkei Krieg gegen die Kurd:innen in Syrien führt: Als die Türkei 2018 und 2019 weite Gebiete besetzte, wurden hunderttausende Kurd:innen vertrieben, um in Camps in der Region, in Südkurdistan, in der Türkei, oder in Europa zu leben. Anschließend wurden neue Siedlungen gebaut und islamistische Kräfte angesiedelt[^11]. Auf diese Weise wird versucht, einen 'grünen Gürtel' zu etablieren, der die Siedlungsgebiete der Kurd:innen voneinander trennt.

Zusätzlich führt die Türkei seit Frühling einen sehr intensiven Krieg gegen die sogenannten Medya Verteidigungsgebiete, das Herz und Gehirn der PKK in den Bergen Südkurdistans. Nach Berichten der Volksverteidigungseinheiten (HPG) wurde dabei über 2000-mal verbotenes Giftgas eingesetzt.

Die EU begründet ihre harten Wirtschaftssanktionen gegen die Russische Föderation mit dem völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Über die völkerrechtswidrigen Angriffskriege der Türkei schweigt sich die EU dagegen aus oder reagiert bestenfalls mit unverbindlichen Erklärungen. Wie erklärst du dir diese Doppelmoral?

Während Europa auf Putins Verbrechen mit einem Wirtschaftskrieg antwortet, sind die Verbrechen Erdoğans kein Hindernis, die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit mit seinem Regime weiter auszubauen. Während die Zeitungen täglich voll sind mit Nachrichten über Putins Angriffskrieg, schweigt die Presse zum Einsatz von Giftgas gegen die Freiheitsbewegung. Diese Doppelmoral schreit zum Himmel.

Doch die Doppelmoral von Nationalstaaten ist nichts Neues. Seit es Nationalstaaten gibt, werden im Namen von Demokratie, Freiheit und Frieden Massaker an Minderheiten durchgeführt, um die Bevölkerung zu homogenisieren. Einen Höhepunkt der Gewalt stellt der Kolonialismus dar, der bis heute die Basis des Reichtums der industrialisierten Welt ist.

Trotzdem haben es die Staaten bis jetzt geschafft, den Schein von Moral zu wahren und ihr Wahrheitsregime aufrecht zu halten. Den Begriff hat Roberto Nigro geprägt, er baute auf den Arbeiten von Michel Foucault zum Thema Macht und Wahrheit. Doch die Widersprüchlichkeiten spitzen sich mit jeder Krise weiter zu und das Wahrheitsregime bekommt Risse. Entscheidend ist, ob es der Gesellschaft gelingt, diese Risse auszuweiten und mit Wahrheit zu füllen, oder ob es den Herrschenden gelingt, in diesen Rissen faschistische Ideologie zu säen.

Was kann und muss man in dieser Situation von der österreichischen Regierung fordern?

Unsere zentrale Forderung ist ein Ende des Angriffskriegs und eine Untersuchung der Einsätze von Chemiewaffen. Wir fordern, dass Völkerrecht eingehalten wird. Damit die Organisation zum Verbot chemischer Waffen (OPCW) tätig werden kann, muss ein Staat eine Untersuchung fordern. Dafür gibt es ausreichend Hinweise: Die Berichte der kurdischen Organisationen vor Ort[^8], die offenen Aussagen des türkischen Verteidigungsministers im Parlament, sowie ein Bericht der Ärzt:innen zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW)[^9] sprechen klare Worte. Österreich hat eine moralische Verpflichtung, nicht wegzuschauen, wenn Völkerrecht mit Füßen getreten wird.

Doch es geht um mehr als Moral: Die Erosion von Völkerrecht ist eine alarmierende Entwicklung. Sie zeigt, dass die Herrschenden keine Lösung mehr im bestehenden rechtlichen Rahmen finden und damit den Weg für eine Eskalation des dritten Weltkriegs ebnen. Dieser Krieg wird vor unserer Haustüre nicht halt machen, wir sind Teil davon.

Die Angriffe auf die demokratische Selbstverwaltung sind auch Angriffe auf die Hoffnung, dass eine demokratische Lösung und ein friedliches Zusammenleben der Völker möglich ist. Die Revolution macht vor keinen Grenzen Halt, sie ist auch unsere Revolution. Deshalb gilt es, sie zu verteidigen!

Kurden 2

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Die türkischen Angriffe zielen vor allem auf zivile Infrastruktur, wie Energieversorgung, Lebensmittel und Gesundheitsinfrastruktur. Das Bild zeigt Schäden am Gaskraftwerk in Siwêdiyê bei Dêrik nach dem Luftangriff vom 23.11. Von 9 Turbinen laufen nur mehr 2, was die Stromversorgung der Bevölkerung stark einschränkt[^3].

Kurden 3

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Aufgrund der Angriffe auf Schulen, wie zuletzt im Dorf Koran, östlich der Stadt Kobanê werden derzeit 22.000 Schüler:innen um ihr Recht auf Bildung gebracht. [^10]


Fußnoten:

[^1]: [Rojava Information Center, 04.12.2022: Bericht zu den Angriffen der Türkei auf Nord-und Ostsyrien, sowie die Auswirkungen auf den Kampf gegen IS](https://rojavainformationcenter.com/2022/12/turkeys-attacks-in-north-and-east-syria-al-hol-camp-and-the-battle-against-isis/),

[Rojava Information Center, 22.12.2022: Zusammenfassung der türkischen Angriffe auf Nord- und Ostsyrien](https://rojavainformationcenter.com/2022/11/summary-report-turkeys-attacks-on-north-and-east-syria-nes-22-november-2022/)

[^2]: [Rojava Information Center, 22.11.2022: Bericht über Zeugenaussagen zur Doppelattacke in Teqil-Bequil](https://rojavainformationcenter.com/2022/11/witness-testimonies-from-turkeys-double-tap-attack-on-teqil-beqil/)

[^3]: [ANF News, 29.11.2022: Rojava: Gas- und Stromversorgung in Angriffsgebieten zusammengebrochen](https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/rojava-gas-und-stromversorgung-in-angriffsgebieten-zusammengebrochen-35181)

[^4]: [FAZ, 16.11.2022: Brief aus Istanbul - Ein Anschlag, so blutig wie seltsam](https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istanbul/brief-aus-istanbul-ein-anschlag-so-blutig-wie-seltsam-18463882.html)

[^5]: [Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 21.11.2022: Die türkischen Luftangriffe und der herbeigesehnte "Casus Bellli"](https://civaka-azad.org/der-herbeigesehnte-casus-belli/)

[^6]: [Zeynep Boran: Angriffsdeal zwischen Moskau und Ankara](https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/angriffsdeal-zwischen-moskau-und-ankara-35110)

[^7]: [Human Rights Watch, 07.11.2022: Syria: Parties to Conflict Aggravate Cholera Epidemic - Turkish Authorities Disrupting Water Supply; Syrian Government Obstructing Aid](https://www.hrw.org/news/2022/11/07/syria-parties-conflict-aggravate-cholera-epidemic)

[^8]: [Volksverteidigungszentrum (NPG), 18.10.2022: Erklärung zum Einsatz chemischer Waffen durch die türkische Armee in Südkurdistan](https://anfdeutsch.com/kurdistan/npg-veroffentlichen-namen-von-17-durch-chemiewaffen-gefallenen-34495)

[^9]: [IPPNW, October 2022: Is Turkey violating the Chemical Weapons Convention?](https://www.ippnw.de/commonFiles/bilder/Frieden/2022_IPPNW_Report_on_possible_Turkish_CWC_violations_in_Northern_Iraq.pdf)

[^10]: [Human Rights Watch, 07.12.2022: Northeast Syria: Turkish Strikes Exacerbate Humanitarian Crisis - Critical Infrastructure Targeted; Basic Rights Endangered](https://www.hrw.org/news/2022/12/07/northeast-syria-turkish-strikes-exacerbate-humanitarian-crisis)

[^11]: [Rojava Information Center, June 2022: State of the Occupation Q4 - Documenting rights abuses in turkish occupied regions of north and east Syria](https://rojavainformationcenter.com/storage/2022/07/Q4-Occupation-Report.pdf)