Weltweit gibt es 55 Millionen Binnenflüchtlinge, also Flüchtlinge im eigenen Land. Sie gelten als eine der verwundbarsten Gruppen. Sigrid Lamberg, Projektleiterin bei Ärzte ohne Grenzen, berichtet am 19. Juni 2021 beim Umbrella-March in Linz über ihre Erlebnisse im Kongo, die unter die Haut gehen.

März, 2021 Ostkongo.

Es ist 2 Uhr früh.
Der zuständige Arzt der Nachtschicht ruft mich an. Er hat Panik, sagt dass viele Eltern ihre Kinder aus dem Krankenhaus mitnehmen und weglaufen und dass auch unser Personal teilweise das Krankenhaus verlässt, weil sie Angst haben, dass die Rebellengruppen unser Dorf und das Krankenhaus überfallen. Seit Tagen kommt es rund um unser Dorf, in der Ituri-Provinz im Ostkongo, zu schweren Gefechten zwischen bewaffneten Gruppierungen.

Ich versuche ihn zu beruhigen und erkläre, dass wir im ständigen Austausch mit den Kontaktpersonen der Rebellen sind und sie uns versichert haben, dass sie unser Dorf nicht angreifen werden. Die Worte sind aber nicht stark genug gegenüber den Erinnerungen.

Nach dieser Nacht sind nur mehr 6 Patient*innen im Krankenhaus und in der Morgenbesprechung berichtet das medizinische Personal teilweise unter Tränen von den dramatischen Szenen der vergangenen Nacht. Eltern, die ihre Kinder von den Sauerstoffgeräten in der Intensivstation abhängten und mitnahmen, obwohl ihnen unser Team erklärte, dass dies für gewisse Kinder das sicher Todesurteil sein wird.

In der Region (Djugu Territorium in der Ituri Provinz im Ostkongo) kommt es in den letzten vier Jahren immer wieder zu Kämpfen und Überfällen von unterschiedlichen Rebellengruppen. Menschen werden am Feld ermordet, mit Macheten zerstückelt, Krankenhäuser angezündet, Leute auf offener Straße gelyncht oder lebendig verbrannt. Diese Gewaltexzesse führen immer wieder zu Fluchtbewegungen – die Menschen siedeln sich aber nicht weit wegen von ihren Dörfern an, in der Hoffnung bald dorthin zurückkehren zu können. Doch darauf warten sie bereits Jahre.

Wir, MSF/Ärzte ohne Grenzen, stellen in der Gegend die Basisgesundheitsversorgung in 23 Flüchtlingslagern für über 60.000 Personen sicher – mit all den Limits.

Menschen die auf der Flucht sind im eigenen Land, Binnenflüchtlinge, werden im internationalen Sprech als IDPs (Internally displaced people) bezeichnet und stellen die größte Gruppe der Flüchtlinge weltweit dar.

Der UNHCR zählt knapp 55 Millionen IDPs – soviel wie noch nie zuvor. Alleine in Kongo sind rund 5,5 Millionen Personen im eigenen Land auf der Flucht und stellen somit hinter Syrien mit 6,5 Millionen IPDs die meisten Binnenflüchtlinge.

IDPs gelten als einer der verwundbarsten Gruppen an Menschen auf dieser Welt. Denn der internationale Schutz von Binnenflüchtlingen ist völkerrechtlich nicht geregelt; die Genfer Flüchtlingskonvention gilt nicht für diese Gruppe von Flüchtlingen. Und sie flüchten oftmals von den eigenen Regierungen/Regimen, bleiben im eignen Land, wo sie genau diesen wieder ausgesetzt sind.

Sie sind oftmals auch gezwungen, in Gegend ihrer Heimatgebiete abzuwandern, wo sie schwerlich Zugang zu humanitärer Hilfe erhalten können.

In Gegenden, in denen Staat nicht vorhanden ist, wo die Polizei oder die Arme nicht präsent ist oder wo der Staat selbst der Aggressor ist, kann kein Schutz für Binnenflüchtlinge gewährleistet werde.

IDPs werden vermehrt auch zum politischen Spielball, passen nicht ins Konzept der regierenden Gruppierungen oder sollen lieber wieder in ihre angestammten Gebiete zurückkehren, obwohl es die Sicherheitslage nicht zulässt.

2020 habe ich im Jemen gearbeitet. Das Land ist nach 6 Jahren Bürgerkrieg zerstört und die Menschen versuchen, irgendwie über die Runden zu kommen. 3,5 Millionen Jemenit*innen sind im eigenen Land auf der Flucht – in einem Land, wo es nicht wirklich Zufluchtsstätten gibt. 2020 kam es nach sehr heftigen und langanhaltenden Regenfällen zu enormen Überschwemmungen in einzelnen Teilen des Landes.

Das Regime im Norden erkennt aber viele Flüchtlingslager nicht als solche an. Sie sagen, in dem von ihnen kontrollierten Gebieten, gibt es dieses „Phänomen“ nicht. Damit kann auch eine Koordination der Versorgung z.B. durch die UN nicht gewährleistet werden. NGOs bekommen keine Genehmigung, Hilfslieferungen in die Lager zu bringen, da für das Regime die Lager nicht existieren. Die Zivilbevölkerung zahlt den Preis – nach 6 Jahren Krieg ist die Infrastruktur des Landes komplett kaputt, das Gesundheitssystem funktioniert nicht mehr und die Bevölkerung verarmt.

Ostkongo, 2017

Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen, vielleicht sechs Jahre alt, der mit seiner Mutter und seinen fünf Geschwistern in einem aus Stauden, Plastiksackerln und Blättern gebauten Unterschlupf, der vielleicht so groß war wie ein zwei-Personen-Zelt, in einem Flüchtlingslager lebte. Wir - Ärzte ohne Grenzen - betreuten zu diesem Zeitpunkt ca. 16 Flüchtlingslager in und rund um die Stadt Kalemie (Tanganika-See/Ostkongo), wohin aufgrund gewaltsamer Konflikte über 120.000 Menschen geflohen sind.

Über Nacht hat es enorm geregnet und der Junge zeigt mir die Überreste des weggewaschenen Manijok-Mehls. Das Mehl, das aus den Manijokwurzeln gewonnen wird, zählt zu den Grundnahrungsmitteln im Kongo. In den Augen des kleinen Buben stand purer Verzweiflung, weil ihm bewusst war, was das bedeutet. Hunger für sich und für seine Familie.

Hunger, der die Eltern dazu treibt, für Kinder Suppe aus Erde zu kochen. Damit sie zumindest etwas im Magen haben, wie mir mal eine Mutter erklärte. Situationen, die man nicht glaubt, dass sie existieren auf dieser Welt, bis man sie mit eigenen Augen gesehen hat.

Damals in Kalemie haben uns die staatlichen Behörden vor Ort zweimal keine Erlaubnis gegeben, Zeltplanen an die Familien im Lager zu verteilen.

Das Argument der Behörde war genauso simple wie zynisch: Wenn ihr ihnen ein Stück Plastik gebt, dann gehen sie nie wieder zurück in ihre Dörfer. Dörfer die aufgrund von gewaltsamen Konflikten niedergebrannt wurden und wo sie nicht zurückkehren konnten, da ihnen niemand garantierte, dass sie nicht ermordet werden.

Ich erinnere an Gespräche mit Kolleg*innen aus dem Südsudan. Nach über 50 Jahren Bürgerkrieg, haben fast alle Menschen mehrfache Fluchterfahrung im eigenen Land. Sie erzählen, was es heißt und wie es ist in einem Flüchtlingslager aufzuwachsen. Was es aus einem macht. Oftmals denke ich an diese Gespräche zurück und ihren Mut, trotz all dem jeden Morgen wieder aufzustehen. Das Stückchen Hoffnung zu suchen, dass es doch besser wird. 

Ich könnten euch noch ganz viele dieser Geschichten erzählen, viele Bilder, die sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt haben.

Im Art 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lesen wir:

ALLE MENSCHEN SIND FREI UND GLEICH AN WÜRDE UND RECHTEN GEBOREN.

Damals an der Uni haben wir über diesen Satz theoretisiert, aber nach mehr als 10 Jahren Tätigkeit bei Ärzten ohne Grenzen und all den Dingen, die ich dort gesehen habe, kann ich sagen, dass dem nicht so ist.

Ein freies und würdevolles Leben ist ein Privileg von sehr Wenigen. Dies schon mal zu begreifen, ist ein wichtiger Schritt. Umso mehr macht es mich wütend und traurig zu sehen, mit welchem Zynismus, Härte und Kälte über Flüchtlinge geredet und geurteilt wird.

Menschen, die sich auch nur ein sicheres, freies und würdevolles Leben wünschen.

Daraus ein Verbrechen zu machen, ist ein Verbrechen.

(Juni 2021)