Vor zwei Jahren zog die NATO aus Afghanistan ab. Der Krieg gegen die afghanische Bevölkerung aber hält an. Die westlichen Sanktionen gegen die Taliban sorgen für Hunger und Elend. Ein Beitrag von Joachim Guilliard, Erstveröffentlich in Junge Welt, 16.8.2023.

Im Sommer 2021 musste sich die NATO nach zwanzig Jahren Krieg geschlagen geben und Afghanistan verlassen. Am 15. August übernahmen die Taliban die Macht. Die USA, die das Land im Oktober 2001 mutwillig überfielen, und ihre Verbündeten, die sich an seiner anschließenden Besatzung beteiligten, ließen Afghanistan in einem katastrophalen Zustand zurück. Sie stahlen sich anschließend nicht nur aus der Verantwortung für das angerichtete Desaster, ihr Embargo, das seit der Machtübernahme der Islamisten das ganze Land trifft, lastet seitdem schwer auf der Bevölkerung. Die Sanktionen werden dennoch auch von linken, feministischen und Menschenrechtsgruppen unterstützt. Für die Afghaninnen und Afghanen ist der NATO-Krieg noch nicht zu Ende.

Die USA rechtfertigten ihren schon länger geplanten Angriff auf das Land am Hindukusch mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Da dem damaligen Taliban-Regime keinerlei Beteiligung nachgewiesen werden konnte, war er jedoch eindeutig eine völkerrechtswidrige Aggression.¹ Die nachfolgende Besatzung wurde zunehmend mit der Notwendigkeit der Stabilisierung, der Demokratisierung und des Wiederaufbaus des Landes begründet, tatsächlich verfolgte sie das Ziel, mit brutaler Gewalt ein prowestliches Regime zu festigen. Dabei stützten sich die USA und ihre NATO-Verbündeten, so der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig, auf »eine Warlord-Kaste, die die Hilfsgelder aufsaugte und unter den Augen des NATO-Militärs mit Bestechung und Waffengewalt die neuen, demokratischen Institutionen kaperte«.²

Das Ergebnis war ein korruptes und kleptokratisches Regime in Kabul, das auf tönernen Füßen stand. Es hatte kaum Rückhalt im Land, nicht mal in der mit enormen Summen aufgepäppelten afghanischen Armee. Es brach unmittelbar mit dem Abzug der US-Truppen zusammen und brachte die von der Entscheidung Washingtons überraschten Verbündeten in eine prekäre Lage. Die fast kampflose Einnahme der Hauptstadt machte schließlich das ganze Ausmaß des Scheiterns der NATO deutlich.

Dagegen hatte sich die linke Regierung unter Mohammed Nadschibullah 1989 auch nach dem Rückzug der Sowjetarmee noch drei Jahre lang gegen die vom Westen ausgerüsteten Mudschaheddin behaupten können, bis 1992 mit dem Untergang der Sowjetunion deren Unterstützung verlorenging.

Die Mehrheit im Land hat die westlichen Truppen von Anfang an nicht als Befreier, sondern als Invasoren betrachtet. Der Krieg und die Besatzungspolitik, die vermutlich rund 800.000 Menschen direkt oder indirekt das Leben kosteten, förderten den Widerstand weit über die Taliban hinaus. Nur durch breite Unterstützung der Bevölkerung konnten diese zwanzig Jahre lang gegen die größte Militärmacht der Welt bestehen und schließlich gewinnen.

Nur eine dünne prowestliche Schicht, die eng mit den westlichen Kräften zusammenarbeitete, konnte von der Besatzungspolitik profitieren, während sich die Lebensverhältnisse der Mehrheit unter der Besatzung bald wieder verschlechterten – trotz der hehren humanitären Ziele, mit denen die ständige Fortsetzung des Krieges offiziell gerechtfertigt wurde. 2016 lag der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsschwelle leben musste, mit 54,5 Prozent auf dem Niveau vor dem Sturz der Taliban-Herrschaft.³

Die westlichen Mächte gaben enorme Summen für den Krieg und die Besatzung des Landes aus, allein die USA über zwei Billionen US-Dollar, und auch die BRD ließ sich die Teilhabe bis zu 50 Milliarden Euro kosten.⁴ Gleichzeitig haben sie es aber versäumt, eine auch nur halbwegs überlebensfähige Wirtschaft aufzubauen, sie schufen statt dessen eine klassische Besatzungsökonomie: Nach Zahlen der Weltbank machten die humanitäre Hilfe, westliche Entwicklungsgelder und die Aufwendungen für das afghanische Militär vor dem Abzug der westlichen Truppen 43 Prozent des gesamten afghanischen Bruttoinlandsprodukts aus.

Die NATO-Streitkräfte und westliche Organisationen brachten weiteres Geld ins Land, das vor allem in Dienstleistungen für diese floss. Die von westlichen Zahlungen abhängigen Sektoren wurden aufgebläht, während die industrielle Produktion systematisch vernachlässigt wurde. Hinzu kamen beträchtliche Einnahmen aus dem Drogenanbau und -handel, den die Taliban zuvor weitgehend eliminiert hatten.⁵ Ein funktionsfähiger Agrarsektor hingegen konnte sich nicht etablieren. Die schlimmsten Dürreperioden seit Jahrzehnten verstärken die Not jetzt zusätzlich.

Der Westen verhinderte gleichzeitig die Integration Afghanistans in regionale Politik- und Wirtschaftsbündnisse und sorgte so für eine Abkopplung des Landes von den Weltmärkten und den Nachbarländern.

Zahlungen eingestellt

Nach der Machtübernahme der Taliban folgte die Rache der NATO-Mächte für die demütigende Niederlage auf dem Fuße. Rund drei Viertel der öffentlichen Ausgaben waren bis dahin vom Ausland finanziert worden, hauptsächlich vom Westen. Bezahlt wurden davon 400.000 Angestellte im öffentlichen Dienst, Lehrer, Ärzte usw. sowie Entwicklungsprojekte wie Schulen und Krankenhäuser. Diese Zahlungen wurden nun über Nacht gestoppt.

Die Taliban waren für die USA zwar Partner bei den langjährigen Friedensverhandlungen gewesen – die unter dem ungeduldigen US-Präsidenten Donald Trump zu Verhandlungen über die Abzugsmodalitäten mutierten –, die von ihnen gebildete Regierung wird von Washington und dessen Verbündeten jedoch bisher nicht anerkannt. Da nun die gegen die Taliban verhängten Sanktionen sich auch gegen die von ihnen besetzten oder kontrollierten Institutionen richten, blockieren sie nun faktisch das ganze Land. Die afghanische Wirtschaft kollabierte dadurch völlig.

Durch den Wegfall der früheren Zahlungen und den generellen Zusammenbruch der Wirtschaft fehlen natürlich auch die für den Import nötigen Gelder. Dies wird noch dadurch verschärft, dass die westlichen Staaten die Reserven der afghanischen Zentralbank beschlagnahmt haben – sieben Milliarden US-Dollar auf Konten in den USA und rund 2,1 Milliarden US-Dollar bei Banken in Deutschland und der übrigen EU.⁶ Aus Sicht der UN-Sonderberichterstatterin über unilaterale Zwangsmaßnahmen, Alena Douhan, ist dies ein eklatanter Verstoß gegen internationales Recht und geht auch am offiziellen Ziel vorbei. Schließlich gehört das Geld einer Zentralbank nicht denen, die die Regierung stellen, sondern dem Land und dessen Bevölkerung.

Da Afghanistan zudem vom globalen Finanzsystem abgeschnitten wurde, haben selbst Hilfsorganisationen enorme Probleme, ihre Projekte weiterzubetreiben.⁷ Dies und der Devisenmangel machen den direkten Transfer von Geld nach Afghanistan nahezu unmöglich. Die NGOs sind daher gezwungen, Geldtransfers über alternative, informelle Zahlungskanäle abzuwickeln, wie die im Nahen und Mittleren Osten verbreiteten Hawala-Netzwerke. Sie sind selbstverständlich langsamer, unsicherer und teurer.

Hungersnot droht

All dies geschieht in einer äußerst prekären Situation, in der nach Schätzungen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) 28,3 Millionen Menschen, das heißt zwei Drittel der insgesamt 40 Millionen Einwohner, auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, 20 Millionen an Nahrungsmittelmangel leiden, mehr als sechs Millionen unmittelbar mit einer Hungersnot konfrontiert und vier Millionen bereits schwer unterernährt sind, darunter 3,2 Millionen Kinder.⁸

Während die Preise für Energie, Nahrungsmittel und andere Hilfsgüter infolge des Wirtschaftskrieges gegen Russland dramatisch stiegen, brachen die Hilfszahlungen für Afghanistan ein. Der Spendenaufruf der Vereinten Nationen für 2023 hat ihren Angaben zufolge bis April des Jahres nur fünf Prozent der dringend benötigten 4,6 Milliarden Dollar (4,2 Milliarden Euro) eingebracht. Viele Familien haben längst alles, was sie besitzen, verkauft und hätten nun bereits, so heißt es in einem Bericht des UN-Entwicklungsprogramms UNDP, »auf die schmerzhafte Praxis zurückgegriffen, Familienmitglieder zur Ware zu machen, Kinder zu Arbeitern und Töchter zu Bräuten«. UNDP-Vertreter in Afghanistan warnen, »wenn die ausländische Hilfe in diesem Jahr reduziert wird, könnte Afghanistan von der Klippe in den Abgrund stürzen«.⁹

Unterstützt werden könnten derzeit lediglich zehn Millionen Menschen, teilte die WFP-Landesdirektorin für Afghanistan, Mary-Ellen McGroarty, Ende Juli mit. Besonders betroffen sind wie immer die Jüngsten. Laut UN-Kinderhilfswerk UNICEF sind über eine Million Kinder unter fünf Jahren so schlecht ernährt, dass sie medizinisch behandelt werden müssten. Doch auch der Gesundheitssektor ist völlig kollabiert.¹⁰»Ich habe noch nie eine Krise erlebt, die so schnell und in einem solchen Ausmaß eskaliert ist wie die in Afghanistan«, stellt McGroarty fest. WFP-Chef David Beasley beschrieb die Lage als »Hölle auf Erden«. Der Brüsseler Thinktank International Crisis Group befürchtet, »Hunger und Elend« könnten nach dem Abzug der NATO-Truppen »mehr Afghanen töten als alle Bomben und Kugeln der letzten zwei Jahrzehnte«.¹¹

Das Taliban-Regime hat die Situation indes selbst noch weiter verschärft. In den ersten Monaten hatten die zurückhaltenden Maßnahmen der neuen Regierung gegenüber Frauen die Hoffnung genährt, sie würden eine moderatere, pragmatischere Politik als zwanzig Jahre zuvor betreiben. Doch offensichtlich setzten sich die extrem konservativen Kräfte durch, die versuchen, so Matin Baraki in seinem kürzlich erschienen Buch, ein »theokratisch-absolutistisches Regime« zu etablieren.¹²

Schritt für Schritt wurden Frauen und Mädchen aus dem öffentlichen Leben verbannt. Die Taliban verpflichteten sie bald wieder zur vollständigen Verhüllung in der Öffentlichkeit und verboten ihnen im Dezember 2022, entgegen anfänglichen Zusagen, den Besuch von weiterführenden Schulen und Universitäten. Kurz darauf erließ der Wirtschaftsminister ein Beschäftigungsverbot für Frauen, das auch die Mitarbeit in Hilfsorganisationen, mit Ausnahme medizinischer Einrichtungen, umfasst. Da diese für ihre Frauenprojekte und den Zugang zu von Frauen geführten Haushalten auf Mitarbeiterinnen vor Ort angewiesen sind, setzten viele NGOs ihre diesbezügliche Tätigkeit vorläufig aus. Mittlerweile können sie diese aber in vielen Regionen – in Absprache mit den dortigen Taliban-Verantwortlichen – wieder mit Beteiligung afghanischer Frauen fortsetzen.¹³

Grausames Embargo

Im Westen wurden auch schon vor dem Beschäftigungsverbot für Frauen meist allein die Taliban für den wirtschaftlichen Zusammenbruch und die verheerenden Lebensverhältnisse verantwortlich gemacht. Vertreterinnen und Vertreter von Hilfsorganisationen hatten dem jedoch entschieden widersprochen. Diese Krise »wurde von der internationalen Gemeinschaft verursacht«, versichert etwa Samira Sayed Rahman vom International Rescue Committee (IRC). Sie und ihre Kollegen weisen auch nachdrücklich darauf hin, dass humanitäre Hilfen nicht ansatzweise reichen, um die Notlage zu überwinden. Dies sei nur mit einer Wiederbelebung der Wirtschaft durch Aufhebung der Blockaden zu erreichen. »Humanitäre Hilfe allein kann weder die Gehälter im öffentlichen Sektor Afghanistans noch eine intakte Wirtschaft ersetzen«, so Ralph Achenbach von der deutschen Sektion des IRC. »Das afghanische Volk braucht funktionierende Banken und Märkte, um zu überleben.«¹⁴

Humanitäre Hilfe sei zwar unerlässlich, heißt es auch in einem Appell von über 50 hochrangigen UN-Diplomaten und Menschenrechtsexperten an die Staatschefs der führenden NATO-Staaten, sie sei aber »keine Alternative zum normalen Funktionieren der Wirtschaft und des Bankensystems, die maßgebend für die Erbringung grundlegender Dienstleistungen sind«. Die Unterzeichner des Aufrufs der Initiative »United Against Inhumanity« fordern vor allem die Freigabe der Reserven der afghanischen Zentralbank, deren Einfrieren die »Armut, Not und Verzweiflung der afghanischen Bevölkerung« verschärft habe. Die dadurch ausgelöste Liquiditätskrise, die auch den Zugriff auf Erspartes blockiert, habe zusammen mit der Inflation und dem Verlust von Arbeitsplätzen dazu geführt, dass sich die meisten Afghaninnen und Afghanen selbst das Notwendigste, wie Nahrung, Treibstoff und Unterkunft, nicht mehr leisten können. »8,7 Millionen verarmte Bürger seien vom Hungertod« bedroht und verzweifelte Familien »zu herzzerreißenden Entscheidungen«, wie »den Verkauf ihrer minderjährigen Mädchen in die Ehe im Tausch gegen Lebensmittel«, gezwungen.¹⁵

Die USA und die EU halten jedoch ungeachtet der verzweifelten Situation unbeirrt an ihren Embargomaßnahmen fest. Die Bundesregierung erkenne die Taliban-Regierung nicht an, daher liege es auf der Hand, dass Deutschland der Taliban-Regierung kein Geld zukommen lassen könne, äußerte beispielsweise Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz (SPD), die in ihrer Fraktion für Afghanistan zuständig ist.

22 deutsche Nichtregierungsorganisationen hingegen hatten im Februar in einem Brief an Bundesaußenministerin Annalena Baerbock appelliert, die humanitäre Arbeit »wieder in vollem Umfang zu ermöglichen – politisch wie finanziell« – und dem Versprechen der Bundesregierung nachzukommen, »die Menschen in Afghanistan nicht im Stich zu lassen«.¹⁶ Auch die stellvertretende UN-Generalsekretärin Amina Mohammed warnt eindringlich davor, humanitäre Hilfslieferungen wegen der frauenfeindlichen Politik der Taliban zu stoppen, denn die unangenehme Wahrheit sei, »dass Frauen und Kinder in Afghanistan ohne Hilfe aus dem Ausland sterben«.¹⁷

Außenministerin Annalena Baerbock will dennoch selbst humanitäre Hilfen für Afghanistan von der Einhaltung von Frauenrechten abhängig machen. Ihr Ministerium hat den deutschen Beitrag von mickrigen 330 Millionen Euro im letzten Jahr auf 39 Millionen für 2023 reduziert, die afghanischen Gelder auf deutschen Konten bleiben eingefroren.¹⁸

Angesichts vom Hungertod bedrohter Kinder erinnert dies an die Haltung der von Baerbock als ihr Vorbild bezeichneten Madeleine Albright zum Embargo gegen den Irak. Die damalige Außenministerin der USA hatte 1996 die Frage, ob der dadurch verursachte Tod einer halben Million Kinder den »Preis wert« gewesen sei, bejaht.

Irrwitz der Blockaden

Am Beispiel Afghanistan zeigt sich so besonders deutlich der Irrwitz der westlichen Sanktionspolitik, die von vielen linken, feministischen und Menschenrechtsorganisation unterstützt wird. So rief Amnesty International den UN-Sicherheitsrat im Januar zu einem stärkeren Eingreifen auf, um dem »drastischen Niedergang der Rechte von Frauen und Mädchen in diesem Land Einhalt« zu gebieten.¹⁹ Die verheerenden Auswirkungen der Blockaden werden dabei jedoch völlig ignoriert, obwohl darunter Frauen und Kinder besonders leiden. Tatsächlich sind umfassende Wirtschaftsblockaden selbst drastische Menschenrechtsverletzungen, die Menschenleben kosten und von vielen Kritikern zu Recht als Verbrechen gegen die Menschheit angeprangert werden. Und in Afghanistan dienen sie offensichtlich auch vorwiegend der Fortsetzung des verlorenen Krieges.

Zweifelsohne verstößt die Politik der Taliban eklatant gegen Menschenrechte. Aber offensichtlich sind Handels- und Finanzblockaden nicht geeignet, eine Änderung zu erzwingen – im Gegenteil führt das konfrontative Vorgehen, wie zahlreiche Studien zeigen, zu einer Verhärtung der Haltung der angegriffenen Regierung und einem Verlust an Einflussmöglichkeiten von außen.²⁰

»Die Taliban sind derzeit die einzige reale, politische und militärische Macht«, konstatiert Matin Baraki in seinem aktuellen Buch, eine Alternative zu ihnen ist nicht in Sicht. »Sie müssen in die regionalen und internationalen Strukturen sowohl politisch als auch ökonomisch integriert werden. Dadurch und durch projektgebundene entwicklungspolitische Zusammenarbeit könnten sie zu Kompromissen und notwendigen Reformen motiviert werden.«²¹

Innerhalb der Taliban-Führung gibt es heftige Konflikte um die zukünftige politische Verfasstheit des Landes: zwischen den islamischen Fundamentalisten um ihren autoritären Chef Mullah Hibatullah Achundsada und jenen mit pragmatischen Ansätzen, die bemüht sind, das Regime aus der Isolation zu führen. Eine ganze Reihe von Ministern und anderer hochrangiger Taliban-Führer stellt sich entschieden gegen den aktuellen Kurs und kritisiert offen den diktatorischen Führungsstil von Achundsada. Im Kabinett kam es sogar zu einem mehrheitlichen Beschluss, das Arbeits- und Bildungsverbot für Frauen schleunigst wieder aufzuheben. Sollte Achundsada dies nicht akzeptieren können, müsse er zurücktreten.²² Ob sich der moderate Flügel der Islamisten durchsetzen kann, bleibt abzuwarten. Doch statt sie durch direkte Gespräche, unter Anerkennung der faktischen Machtverhältnisse, zu unterstützen, stärkt der Westen durch seine strikte Blockadepolitik auch hier die Hardliner.

Asiatische Integration

Daher werden es auch in Afghanistan nichtwestliche Akteure sein, die das Heft des Handelns in die Hand nehmen. So engagiert sich die Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit (SCO) verstärkt im Land. Insbesondere die Mitglieder China, Pakistan und Russland weiten ihre direkte humanitäre Hilfe aus und setzen sich für ein Ende der Wirtschaftssanktionen sowie die Wiederaufnahme internationaler Entwicklungshilfe für Afghanistan ein. China fordert alle Staaten auf, mit den De-facto-Behörden der Taliban zusammenzuarbeiten und so dem Land zu Stabilität und wirtschaftlicher Entwicklung zu verhelfen.²³

Afghanische Vertreter wurden allerdings zum letzten SCO-Gipfel im Juli nicht eingeladen, obwohl Afghanistan bereits Beobachterstatus in diesem regionalen Zusammenschluss hat. Für eine Intensivierung der Zusammenarbeit verlangen dessen Mitglieder neben einem entschiedeneren Kampf gegen terroristische, dschihadistische Gruppen im Land, deren Erstarken den Nachbarn große Sorgen macht, auch eine inklusivere Regierung. Sie müsse unter Beteiligung aller ethnischen, religiösen und politischen Gruppen gebildet werden und die Interessen aller Menschen, einschließlich Frauen, Kinder und ethnischer Minderheiten, schützen.²⁴ Hierin sehen Taliban-Führer sicherlich einen wesentlich stärkeren Anreiz für Zugeständnisse als im westlichen Blockadeansatz.

Auch die Aussicht auf wirtschaftliche Projekte dürfte hier hilfreich sein. So hat ein chinesisches Unternehmen mit Kabul einen Vertrag über die Aufnahme der Ölförderung im Norden Afghanistans abgeschlossen, und ein weiteres verhandelt über den Betrieb einer Kupfermine. Afghanistan kann sich nun auch der chinesischen »Belt and Road Initiative«, der »Neuen Seidenstraße« anschließen. Die Außenminister Chinas, Pakistans und Afghanistans verständigten sich Anfang Mai bei Gesprächen in Islamabad darauf, den dazugehörenden chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor auf Afghanistan auszuweiten. Bedeutender noch ist, wie die Washington Post im Juli berichtete, das enorme Interesse Chinas an der Erschließung des großen Reichtums an Lithium und anderer für Hochleistungsbatterien und Elektrofahrzeuge wichtiger Mineralien des Landes. Dies würde auch erhebliche Investitionen in die Infrastruktur Afghanistans erfordern, denn noch fehlen, um Minen effizient betreiben zu können, Straßen, Eisenbahnen, Erzverarbeitungsanlagen und Kraftwerke. China zeigt sich offenbar dazu bereit.²⁵

Anmerkungen:

1 Norman Paech: Afghanistan – wer schützt das Völkerrecht?, Verfassungsblog, 26.10.2021

2 Thomas Ruttig: Zuviel Geld für die falschen Leute: Die NATO hat die Warlords in Afghanistan gestärkt – nicht die DemokratieTagesspiegel, 29.4.2021

Afghanistan Index: Tracking variables of reconstruction and security in post-9/11 Afghanistan, Brookings Institution, August 2020

4 Joachim Guilliard: Kleingerechnet: Die Kosten des Afghanistan-Kriegs. Schätzungsweise bis zu 51 Milliarden Euro statt der offiziellen 17,3 Milliarden, junge Welt, 6.10.2021

5 Kai Kleinwächter: Afghanistan – Scheitern westlicher GeostrategieTelepolis, 23.7.2022

Die vergessene humanitäre Katastrophe, Internationale Kam­pagne fordert Freigabe der Reserven der afghanischen Zentralbank auch durch Berlin, www.german-foreign-policy.com, 15.3.2022

Katastrophe am Hindukusch: Afghanistan hungert – und der Westen trägt eine MitschuldDeutsche Welle, 7.8.2022

WFP Afghanistan: Situation Report 18 January 2023, WFP, 25.1.2023

Zahl der Armen in Afghanistan hat sich verdoppeltDW, 8.4.2023

10 Katastrophe am Hindukusch (Anm. 7)

11 Hungerkatastrophe in Afghanistan: Vom Westen im Stich gelassenARD-»Monitor«, 10.2.2022

12 Matin Baraki: Afghanistan. Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg, Köln 2023, S. 167

13 Afghanistan-Politik der Bundesregierung: Streiten, ob Hilfe wirklich richtig ist, Hilfsorganisationen drängen auf stärkeres Engagement, NDR Info, 27.4.2023

14 Finanzsanktionen gegen Taliban unmenschlich?DW, 16.2.2022

15 Offener Brief: Freigabe der eingefrorenen Gelder Afghanistans, United Against Inhumanity, 7.3.2022

16 Afghanistan-Politik der Bundesregierung: Streiten, ob Hilfe wirklich richtig ist (Anm. 13)

17 UN fordern Fortsetzung der Afghanistan-HilfeDW, 25.1.2023

18 Ebd.

19 Afghanistan: UNO-Sicherheitsrat muss Ende der Misshandlung von Frauen und Mädchen durch die Taliban einfordern, Amnesty International, 12.1.2023

20 Nicholas Mulder: A Leftist Foreign Policy Should Reject Economic SanctionsThe Nation, 20.11.2018 u. Lisa Hultman, Dursun Peksen: Successful or Counterproductive Coercion? The Effect of International Sanctions on Conflict Intensity, in: Journal of Conflict Resolution, Vol 61 (2015), Issue 6

21 Baraki (Anm. 12.), S. 169

22 Ebd., S. 177

23 SCO Members Lack Unity on Taliban Terrorism ConcernsVoice of America, 22.6.2023

24 Außenministertreffen zwischen China, Russland, Pakistan und Iran über Afghanistan, china.org.cn,14.4.2023

25 Rich lode of EV metals could boost Taliban and its new Chinese partners, Washington Post, 20.7.2023