Malalai Joya, die bekannte afghanische Frauenrechtlerin, die sich sowohl gegen das Taliban-Regime als auch die US-Besatzung wehrte, bezeichnete den „Kampf gegen den Terror“ als „die größte Lüge des Jahrhunderts“ (1). Ein Blick auf das von geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen geleitete Verhältnis westlicher Großmächte zum religiösen Fundamentalismus unterstreicht diese Aussage.

Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts war die Auslegung des Islam in der täglichen Praxis stark durch die jeweiligen Volksgruppen und Stämme geprägt. Der Aufstieg fundamentalistischer Strömungen erklärt sich nicht einfach aus der Mentalität der Menschen, sondern ist in hohem Ausmaß das Ergebnis der Einmischung besonders auch westlicher Großmächte und ihrer Verbündeten in der Region. Bereits ein halbes Jahr vor dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan starteten die USA mit der „Operation Cyclon“ die militärische Unterstützung fundamentalistischer Mujahedin-Gruppen gegen die Regierung der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA), die sich 1978 an die Macht in Kabul geputscht hatte. Der Versuch der DVPA, die Neuverteilung von Grund und Boden, Frauengleichberechtigung und Bildungsreformen ohne Rücksicht auf regionale Besonderheiten und religiöse Traditionen brachial von oben durchzusetzen, stieß – insbesondere in den ländlichen Regionen – auf breiten Widerstand. Dieser Widerstand war zunächst vor allem von Stämmen getragen. In den Flüchtlingslagern in Pakistan, in den Trainingscamps der westlichen Geheimdienste wurde eine fundamentalistische, frauenfeindliche Islamauslegung zum identitätsstiftenden Rahmen für diesen Widerstand.

Von Ende der 70er Jahre bis 1992 erhielten die Mujahedin schätzungsweise 5 Milliarden Dollar aus den USA, weitere 5 Milliarden kamen aus Saudi-Arabien, Pakistan und europäischen Staaten hinzu. Auch der französische Auslandsgeheimdienst und der britische MI6 unterstützten die Mujahedin. Ein gewisser Osama bin Laden baute bei Khost tief in den Bergen des Hindukusch einen von der CIA finanzierten Tunnelkomplex mit Militärdepots und Ausbildungszentren.

„Unsere Jungs“
Der Bürgerkrieg in Afghanistan endete nicht mit dem Abzug der sowjetischen Truppen und dem Sturz der DVPA-Regierung. Die siegreichen Mujahedin-Warlords waren ebenso fundamentalistisch wie korrupt. Jegliche Rechtssicherheit für die Menschen in Afghanistan brach zusammen. Die Taliban rekrutierten sich aus Koranschülern in den Flüchtlingslagern in Pakistan. Ihre Lehrer stammen aus der niederen Dorfgeistlichkeit, also ebenso vom unteren Ende der sozialen Hierarchie. Ihre glaubhafte, mit der Scharia begründete und praktisch exerzierte Aversion gegen Korruption öffnete ihnen 1996 den Weg zur gesamtstaatlichen Macht. Der pakistanische Geheimdienst ISI hat sie protegiert bzw. aufgebaut. Nasirullah Babar, Innenminister der beim Westen beliebten pakistanischen Regierung von Benazir Bhutto, bezeichnete die Taliban väterlich als „unsere Jungs“.

Kampf um Ölpipeline durch Afghanistan
Auch die USA standen dem Aufstieg der Taliban zunächst durchaus positiv gegenüber. Sie schätzten die Taliban als Gegengewicht zum russischen und iranischen Einfluss und versprachen sich von deren repressiver Regierung eine Befriedung des Landes, um damit ein sicheres Investitionsklima zu schaffen. So plante die US-Erdölgesellschaft UNOCAL den Bau einer Erdölpipeline durch Afghanistan und Pakistan zum Indischen Ozean, um an die immensen Erdölvorkommen der kaspischen Region unter Umgehung Russlands und des Irans heranzukommen. Sowohl die Clinton- als auch die Bush-Regierung umwarben die Taliban, um sie für dieses Pipelineprojekt zu gewinnen. Die beiden französischen Geheimdienstexperten Jean-Charles Brisard und Guillaume Dasquie berichten in ihrem Buch „Bin Laden, die verbotene Wahrheit“ von den Versuchen der Bush-Regierung noch im Frühjahr 2001, die Taliban zum Einlenken zu Gunsten der US-amerikanischen Erdölpläne zu gewinnen. Sie zitieren einen US-Diplomaten aus Verhandlungen zwischen der Bush-Regierung und den Taliban im Februar 2001 in Washington: „Entweder ihr nehmt unser Angebot an, dann rollen wir Euch einen goldenen Teppich aus, oder aber wir begraben Euch unter einem Bombenteppich“.
Als die Verhandlungen mit den Taliban scheiterten, bereitete das Weiße Haus den gewaltsamen Regime Change in Kabul vor. So berichtete BBC-News am 18.9.2001, dass amerikanische Regierungsbeamte dem ehemaligen pakistanischen Außenminister Niaz Naik bereits Mitte Juli, also Monate vor den Terroranschlägen in New York und Washington, über Pläne für einen Militärschlag gegen das Talibanregime unterrichtet hätten. „Das weiterreichende Ziel war, das Taliban-Regime zu stürzen und eine Übergangsregierung mit moderaten Afghanen an seine Stelle zu setzen.“ Die Militäraktionen würden beginnen, „bevor der Schnee in Afghanistan fällt, spätestens Mitte Oktober“. Bekanntlich starteten die USA am 7.10.2001 die Militäroffensive gegen Afghanistan.

Erdgas-Pipelineprojekt TAPI…
Nachdem die Taliban mit Bombenteppichen von der Macht in Kabul vertrieben worden waren, wurden bald neue Pläne für ein großes Pipelineprojekt durch Afghanistan gewälzt. UNOCAL hatte sich mittlerweile zurückgezogen. Der Name des neuen Projekts: Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-Pipeline (TAP). Das Ziel war es, die immensen turkmenischen Gasvorkommen über Afghanistan zum Indischen Ozean in Pakistan zu leiten. Im Dezember 2002 unterzeichneten die Staatschefs von Turkmenistan, Afghanistan und Pakistan einen Vertrag zum Bau der Pipeline. Ab 2008 stieß schließlich auch Indien zu den zukünftigen Nutzern der Pipeline dazu, die nun als TAPI jährlich rund 30 Milliarden Kubikmeter Gas transportieren und sich insgesamt über 1.814 Kilometer bis nach Fazikla an der pakistanisch-indischen Grenze erstrecken soll.

… erhält Unterstützung der Taliban
Doch das Projekt kam zunächst nur schleppend voran. Hauptgrund für die Verzögerungen: Auf afghanischem Gebiet sollte die Pipeline über Gebiet verlaufen, das weitgehend von den Taliban kontrolliert wurde. Ab 2015 begann Turkmenistan mit dem Verschweißen der Rohre, mit dem Bau des afghanischen Abschnitts wurde im Februar 2018 begonnen. Im Februar 2021 reiste eine Taliban-Delegation nach Turkmenistan. Dort bekräftigten die Taliban ihre Unterstützung für die Pipeline und gelobten, deren Sicherheit zu garantieren. Das dürfte auch die westlichen Großmächte gefreut haben – aus geopolitischen Gründen, wie ein Mitarbeiter von „Intelligence Fusion“, einem britischen Beratungsunternehmen für Konzerne und Staaten in Krisengebieten, analysiert: „USA und EU sind scharf darauf, diese Pipeline durchzusetzen, weil dieses Projekt den Iran umgeht und weil es den Einfluss Russlands und Chinas zurückdrängt, zwei Rivalen der USA, die zentralen Einfluss in der zentralasiatischen Region gewonnen haben.“

Souveränität Afghanistans
Wenn jetzt innerhalb weniger Tage die politische Macht in die Hände der Taliban gefallen ist, bedeutet dies nicht, dass die territoriale Integrität Afghanistans wieder hergestellt ist. Es bestehen rivalisierende Kräfte außerhalb des Talibannetzwerks und dieses selbst ist mit Sicherheit nicht so homogen, wie es das propagandistische Geschrei unserer Medien unterstellt. Afghanistan bleibt im Fadenkreuz konkurrierender Großmächte. Es muss alles unternommen werden, um zu verhindern, dass diese neuerlich innerafghanische Rivalitäten für ihre Interessen missbrauchen und einen Bürgerkrieg entfachen. Die Wiederherstellung der Souveränität Afghanistans muss der erste Punkt auf der Agenda werden. Diplomatische, politische und wirtschaftliche Beziehungen müssen zu deren Stärkung beitragen. Blindwütige Sanktionspolitik gefährdet diese Ziele.
Freilich kann dies nicht bedeuten, gegenüber Menschenrechtsverletzungen und Frauenfeindlichkeit zu schweigen. Stärkung der afghanischen Souveränität ist die Voraussetzung um positiv zur sozialen Entwicklung, zur Stärkung von Menschen- und insbesondere Frauenrechten beitragen zu können. Die Großmächte haben diese Realität längst zur Kenntnis genommen. Es ist Zeit, dass das kleine Österreich seine Außenpolitik der letzten 30 Jahre einer gründlichen Revision unterzieht. Anstatt wie ein Claqueur in der fünften Reihe mitzuschreien, wenn es darum geht, ein Volk hinzurichten, gilt es die immerwährende Neutralität ernst zu nehmen.

Quellen:



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