Der EU-Militärausschuss und der Rat der Verteidigungsminister hat die EU-Agentur Institut für Sicherheitsstudien (EU-ISS) damit beauftragt, für den EU-Gipfel Ende 2013 ein Strategiepapier über die Zukunft der EU-Rüstungspolitik vorzulegen. Unter dem Titel „Die Zukunft ermöglichen – Europäische Militärkapazitäten 2013-2025: Herausforderungen und Wege“ ist dieses nun vor kurzem erschienen - und hat es in sich.
Zunächst würdigt das EU-ISS die bisherigen „Erfolge“ der EU-Militarisierungspolitik: „Die EU ist de facto die zweitgrößte Militärmacht der Welt. […] Die Europäischen Militärkräfte sind sicherlich beeindruckend. […] Die EU hat eine der fähigsten und effektivsten Streitkräfte der Welt“ (S. 9). Besonders gelobt werden die Militärreformen der letzten Zeit, wie die Umstellung auf Profi-Armeen, die Schaffung neuer Militärdoktrinen und –strukturen: „Insbesondere während der letzten zwölf Jahre haben die Europäer ihre Expeditionsstreitkräfte signifikant verbessert, sowohl quantitativ als auch qualitativ.“ (S. 11) Die EU-Rüstungsindustrie sei „lebhaft und lebendig, mit renommierte Fachwissen, und beträchtlichem Anteil am globalen Markt." (S. 15) Das grenzt an Understatement: Immerhin ist die EU in den letzten Jahren zum Rüstungsexportweltmeister aufgestiegen.
Doch nachdem das EU-ISS im Lobgesang für die militaristischen Leistungen der EU im letzten Jahrzehnt, geschwelgt hat, verfällt die Studie in wohl kalkulierten Trübsinn: Denn der „Verlust an Schwungkraft ist offensichtlich“; „das weite Spektrum und die hohe Anzahl an Militäroperationen haben, in Verbindung mit matten Militärbudgets und noch immer bescheidenen Einsatzniveaus, die bestehenden EU-Militärkapazitäten zunehmend überdehnt und damit Besorgnis über die Nachhaltigkeit der aktuellen Verpflichtungen, geschweige denn zukünftiger, ausgelöst.“ (S. 12) Insbesondere hätten seit der „finanziellen Krise“ die Europäer die Militärhaushalte „beträchtlich reduziert“. Die möglichen Folgen sind für das EU-ISS katastrophal: In der 3 bis 5 Jahren drohen die Armeen der EU-Staaten zu „Bonsai-Armeen“ zu schrumpfen, denen vollends die Kraft zu „Expeditionskriegsführung“ abhanden komme. In 5 bis 8 Jahren drohe dann der „rüstungsindustrielle Exodus“ und in 8 bis 12 Jahren die „de facto kriegswirtschaftliche De-Industrialisierung“ des alten Kontinents. (S. 12) Das ganze sei umso bedrohlicher, als das EU-ISS die „gelbe Gefahr“ in Anmarsch sieht: „Der Reichtum, die industrielle Kraft und die wissenschaftlichen Kapazitäten der asiatischen Mächte haben begonnen, die relative militärische Schneide des Westens zu reduzieren.“ (S. 19) Insbesondere China habe so massiv aufgerüstet, dass es bei fast der dreifachen Bevölkerungszahl schon auf etwas mehr als die Hälfte der EU-Militärausgaben kommt. Und die NATO-Mächte haben nur mehr die sechseinhalb-fachen Militärausgaben Pekings. Solchermaßen eingestimmt auf den drohenden Untergang des Abendlandes, umreißt das EU-ISS kühn jene „Wege“, die „unausweichlich“ seien, „um den Europäern die Zukunft zu ermöglichen“:
Gebiete von „privilegiertem EU-Interesse“
Die EU brauche zunächst eine klare Vorstellung ihrer „strategischen Interessen“, wozu u.a. zählen: „Sicherung der Seewege und strategischen Kommunikationsinfrastrukturen - einschließlich maritimer Nadelöhre, Energiepipelines und Computersysteme; Schutz der Energieversorgung, der Rohstoffe in Überseegebieten und entfernten Regionen (einschließlich der Handelssysteme) vor der Ausbeutung oder der Annexion durch fremde Akteure". (S. 17) Denn das will man ja schließlich selber tun. Die „Gebiete von privilegiertem Interesse“ illustriert das EU-ISS mit einem Schaubild (sh. hier) samt Erläuterung: „Östliche und südliche Nachbarschaft, die Nachbarn der Nachbarn (von Mali bis Somalia, vom Golf bis Zentralasien), die zentralen Seewege im Indo-Pazifik (von Suez bis Shanghai) und der erweiterte Norden (Arktis und ihr Umfeld).“ (S. 17)
Vornepräsenz und Angriffskriege
Die EU müsse sich „darauf konzentrieren, ihre Fähigkeit zu verbessern, ihre Streitkräfte zeitweilig in die geographischen Regionen ihres privilegierten Interesses zu projizieren bzw. dauerhaft auszudehnen.“ (S. 32) In der Sprache des EU-ISS heißt das „Vornepräsenz“ und „expeditionary/offensive force projection“, was man etwas salopp durchaus mit „Angriffskrieg“ übersetzen kann. Dieses Konzept wird anhand einiger Szenarien veranschaulicht:
Auf den „Aufstieg und die Expansion eines großen mächtigen Landes in Ostasien, "der das Kräftegleichgewicht stört“, reagiert die EU mit der Entsendung „nahezu dauerhafter Seepatrouillen“ in 10.000 km Entfernung vom „homeland“- einschließlich Fregatten, größerer Schiffe und U-Boote, amphischer Schiffe und Hubschrauberträger.“ (S. 27).
Angesichts eines „Machtkampfs im Indo-pazifischen Raum“ entsendet die EU in einer Entfernung von 5.500 km „eine große Seestreitmacht“, die von den europäischen Militärstützpunkten in Djibouti, Diego Bardcia und Abu Dhabi unterstützt wird. (S. 28f)
Einem „humanitären Notfall in Zentralafrika“ begegnet die EU mit einer „humanitären Intervention“, der „Durchsetzung einer Flugverbotszone“ sowie „Luftschlägen mit Präzisionsmunition“. Um in 4.000 km Entfernung „Erstschläge“ durchzuführen, „Luftüberlegenheit“ zu sichern und „gegebenenfalls Bodentruppen“ einzusetzen, sind die afrikanischen EU-Militärbasen „von wesentlicher Bedeutung“. (S. 29)
Zentrale Infrastrukturen in Übersee wie z.B. der Suezkanal oder „maritime Nadelöhre“ im asiatischen Raum in einer Entfernung bis zu 6.000 km werden „durch islamistische Dschihadisten bedroht“, die dort „Steuern und Gebühren einheben“ wollen. „Europäische Schiff- und Energiekonzerne fordern zum Handeln auf“, woraufhin die EU „Luft- und Seeangriffe durchführt und die relativ primitiven Anti-Schiff-Systeme der Dschihadisten ausschaltet“, wobei Drohnen mit Präzisionsraketen, Kampfhubschrauber und Spezialstreitkräfte eingesetzt werden. (S. 30)
Ein „aggressives Regime im Nahen Osten“ kommt in den Besitz der Atomwaffe, „belästigt die kommerzielle Schifffahrt im Golf und unterstützt terroristische Dschihad-Gruppen“ in der Levante. „Die Situation eskaliert, als das Land zum Einfall in ein kleineres pro-westlichen Nachbarland ansetzt, dessen Freiheit als zentral für die Sicherheit der globalen Energieversorgung erachtet wird.“ Nun gibt es kein Federlesen mehr: „Mit einer Reichweite von 5.500 km“ interveniert „eine „großangelegte EU-Expeditionsstreitmacht, unterstützt von beträchtlichen und hochentwickelten See- und Luftplattformen sowie taktischen und strategischen Raketenabwehrsystemen, die am Golf, im Schwarzen Meer oder im östlichen Mittelmeer stationiert sind.“ (S. 31).
Drohnen und Todesstrahlen
Aufgrund der vorwiegend maritimen und Küstennatur dieser Regionen „privilegierten EU-Interesses“ sollten die Europäer „große Betonung auf die Aufrechterhaltung und Verstärkung ihrer See- und Luftstreitkräfte legen, genauso auf die logistischen Mittel, um sie zu unterhalten“ sowie auf „hochmobile, anpassungsfähige und technologisch hochentwickelte Streitkräfte.“ Besonderes Augenmerk müsse dabei Investitionen in „militärische Innovation“ beigemessen werden. Denn wie der „globale Wettkampf um Reichtum, Einfluss und Macht“ (S. 24) ausgehen werde, entscheidet sich nicht zuletzt daran, wer bei der „Revolution der Waffentechnik, die derzeit abläuft“, die Nase vorne hat. Das EU-ISS hebt dabei hervor:
Ferngesteuerte Waffensysteme in der Luft (Drohnen ) und zur See, bei denen die USA „enorme Erfahrung beim Einsatz für Überwachung und Luftangriffe im Nahen Osten und Zentralasien haben“. Die Europäer müssten schleunigst „nachrüsten“, denn „sonst haben sie nicht mehr länger die Mittel, um Seite an Seite mit den Amerikanern zu kämpfen.“ (S. 22)
Das „Zeitalter des ‚Todesstrahls’“ komme rasch heran: Diese „Direkt-Energie-Waffen“ aus Mikrowellen, Plasmastrahlern und Lasern „feuern nahezu mit Lichtgeschwindigkeit, mit extremer Genauigkeit, die leicht dosiert werden kann, um entweder nicht-tödliche oder potentiell enorme Zerstörungskraft gegen verschiedene Ziele zu richten.“ (S. 23)
„Euro-Militär“ bis 2025
Doch wie soll eine solche Fähigkeit zur waffenstarrenden globalen Weltmacht erreicht werden? Die Kernbotschaft des EU-ISS: Die EU-Mitgliedsstaaten müssen ihre Streitkräfte und militärischen Kapazitäten – über verschiedene Zwischenetappen – sukzessive zu einem „Euro-Militär“ (S. 51) integrieren. Dabei können einzelne „Regionalgruppen“ durchaus zügig voranschreiten. Besonders herausgehoben wird die französisch-britische Allianz beim Angriff auf Libyen und der Kooperation bei Atomwaffen und Flugzeugträgern. Letztlich gilt es aber, die militärische Schlagkraft unter einem zentralen EU-Kommando zu bündeln. Denn „die Bereitschaft der EU-Staaten ihre militärischen Fähigkeiten zu integrieren geht Hand in Hand mit ihren erklärten Ambitionen auf der Weltebene. […]Indem man die Streitkräfte der EU-Staaten unter einer EU-weiten Streitkräftestruktur zusammenbringt, würde man eine beträchtliche Gesamtkapazität zusammenbringen, die es den Europäern ermöglicht, die anspruchsvollsten Operationen zu unternehmen […] Eine engere politische Integration führt zu einem überlegenen Niveau militärischer Kapazitäten auf allen Gebieten und somit zu besseren Streitkräften.“ (S. 34) Bis 2025 sollte das hinzukriegen sein, mit den nächsten Schritten in diese Richtung sollte sofort begonnen werden wie z.B. einer Vereinigten EU-Küstenflotte, einem gemeinsamen EU-Militärtransportsystem, gemeinsamen Logistik-Drehkreuzen an den südlichen und östlichen EU-Grenzen als Sprungbretter für Militärinterventionen in der „europäischen Nachbarschaft“.
Rüstungsanleihen, Rüstungskommissar und Mammutmeetings
„Das wird kostspielig werden“ (S. 57), weiß das EU-ISS um die finanziellen Konsequenzen dieser Militarisierungspläne. Angesichts drakonischer Sparprogramme gebe „es aber wenig Hoffnung, die nationalen Militärausgaben in der absehbaren Zukunft zu steigern“. (S. 15) Doch diesem „Risiko“ könne begegnet werden, indem „die Europäer es gemeinsam tun“, sprich: Finanzierung „großangelegter militärischer Infrastrukturprogramme“ durch Rüstungsanleihen der Europäischen Investitionsbank „in Form von Projektbonds“ (S. 44). Die nationalen Parlamente sollen dabei „nach Vorbild des Europäischen Semesters“ (sh. EU-Sixpack, EU-Twopack) an die kurze Leine der EU-Technokratie gelegt werden. Auch die politische Zentralisierung sollte mit dem EU-Gipfel Ende 2013 auf die Tagesordnung gerückt werden. Angeregt wird nicht nur die Schaffung eines eigenen EU-Rüstungskommissars, sondern auch ein jährliches „Mammut“-Meeting der EU-Rüstungstechnokratie, bei dem alle nationalen Verteidigungs- und Wirtschaftsminister sowie deren Gegenüber in der EU-Kommission, Vertreter des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der EU-Rüstungsagentur zusammentreffen- Diese Zusammenkünfte sollen als „Antreiber und Katalysator“ (S. 56) für die weitere Zentralisierung der EU-Militärmacht fungieren. Die EU-Verträge müssten dafür nicht verändert werden, allenfalls könne „man das in einem späteren Stadium nachholen“. Ähnlich sei man ja auch bei der EU-Rüstungsagentur verfahren, die man 2004 eingeführt und erst fünf Jahre später durch die Änderung des EU-Vertrages „ex post facto“ legitimiert habe. (S. 56). Man merke sich: Wenn es um die Schaffung einer militärischen Weltmacht geht, ist Demokratie bestenfalls als „ex-post“-Akklamation elitärer Staatenlenker geduldet.
Welche Zukunft ermöglichen?
Das EU-Strategiepapier „Die Zukunft ermöglichen“ ist eine bittere Bestätigung des Titels des vor kurzem erschienen Werkstatt-Buches „Denn der Menschheit drohen Kriege.“ (1) Es bestätigt aber auch einmal mehr den Untertitel dieses Buches: „Neutralität contra EU-Großmachtswahn!“ Das heißt: Ein Kleinstaat inmitten Europas bricht aus der sich formierenden imperialen Großmacht aus und verweigert das Mitmarschieren bei Kriegen, um sich in weltoffenen Allianzen für Abrüstung, friedliche Konfliktbeilegung und den Abbau struktureller Gewalt einzusetzen. Hier liegt die Zukunft – wenn wir eine haben wollen.
Gerald Oberansmayr
(1) „Denn der Menschheit drohen Kriege... - Neutralität contra EU-Großmachtswahn“, Hg.: Solidar-Werkstatt-Österreich, Linz 2013, guernica Verlag.