Ein Land, das angegriffen wird, hat das Recht, sich zu verteidigen – auch mit Waffengewalt. Das gilt auch für die Ukraine, die am 24. Februar 2022 völkerrechtswidrig von der Russischen Föderation angegriffen wurde. Daraus leiten USA und EU das Recht ab, der Ukraine immer mehr Waffen zu liefern und Russland mit immer heftigeren Wirtschaftssanktionen zu belegen. Wer diese Politik kritisiert, wird rasch als Sympathisant der russischen Aggressoren an den Pranger gestellt, der eine unabhängige Ukraine in Frage stellt. Ein Blick in die Details der ukrainisch-russischen Gespräche im März 2022 zeigt, wie zweifelhaft diese westliche Erzählung ist.

Im Jahr 2021 zogen immer dunklere Wolken über der Ukraine auf. Russland intensivierte sein militärisches Säbelrasseln an der ukrainischen Grenze. Darüber wurde viel berichtet. Wenig Notiz wurde genommen, dass bereits im Frühjahr 2021 Präsident Selenskyj den Befehl gab, die militärische Rückeroberung der beiden Donbass-Republiken und der Krim vorzubereiten. Im Dekret Nr. 117 vom 24. März 2021 wies Selenskyj die Regierung an, einen „Aktionsplan“ zur Rückeroberung des Donbass und der Krim auszuarbeiten. Damit wäre das Minsker Abkommen, das eine Verfassungsänderung mit mehr Autonomie für die Republiken inklusive anschießender Referenden in Donezk und Lugansk im Osten des Landes vorsah, völlig zertrümmert worden.

Russische Vorschläge abgeschmettert

Der Westen duldete diesen Vertragsbruch Kiews nicht nur, er unterstützte ihn mit Waffenlieferungen, der Vorbereitung von westlichen Militärstützpunkten in der Ukraine, der Ausbildung der ukrainischen Streitmächte – und mit dem Abschmettern von russischen Verhandlungsangeboten. Denn am 17. Dezember 2021 öffnete sich nochmals eine große Chance auf eine friedliche Konfliktlösung: Russland unterbreitete den USA und den NATO-Staaten Vorschläge für Friedensverträge. Deren Kern: kein Beitritt der Ukraine zur NATO, Wiederherstellung eines neutralen Status der Ukraine, keine Stationierung von Kernwaffen außerhalb des jeweiligen Staatsgebiets, Einschränkung der Militärmanöver auf beiden Seiten (siehe hier). USA und EU wischten diese Verhandlungsangebote Moskaus sofort vom Tisch.

Natürlich rechtfertigt das nicht den Einmarsch russischer Truppen ab Februar 2022. Man sollte diese Vorgeschichte aber im Hinterkopf behalten, um die Ereignisse im März/April 2022 besser einordnen zu können. Denn bereits nach wenigen Wochen des Krieges kam es zu bemerkenswerten Gesprächen zwischen Vertretern der Ukraine und Russlands in der Türkei. In unseren Medien war nicht allzu viel davon zu erfahren. Warum? Es könnte damit zusammenhängen, dass die ukrainischen und russischen Vorschläge bereits nah beieinanderlagen und den Mächtigen in Brüssel und Washington so gar nicht Recht waren.

Ukrainisch-russische Vorschläge nah beisammen

Schauen wir uns diese Vorschläge an. Den Entwurf der ukrainischen Seite vom 29. März 2022 in Istanbul kennen wir im Detail. Das ist der russischen Journalistin Farida Rustamowa zu verdanken, die diese im Internet veröffentlichte. Der Kerngedanken ist die „Proklamation der Ukraine als neutraler Staat mit völkerrechtlichen Garantien zur Umsetzung des blockfreien und atomwaffenfreien Status“ (sh. Kasten unten).

Die Vorschläge der russischen Verhandlungsdelegation, ein 15 Punkte umfassendes Papier, sind im Wortlaut zwar nicht zu finden. Aber in den Financial Times findet sich zumindest eine Zusammenfassung des Inhalts:

    • Kiew gibt seine Ambitionen auf, der Nato beizutreten.
    • Die Ukraine verzichtet auf ausländische Militärbasen im Land.
    • Streifragen über das ukrainische Staatsterritorium sollen in einem späteren Schritt diskutiert werden.
    • Die Ukraine soll eine eigene Armee behalten.
    • Staaten wie die USA, Großbritannien und die Türkei sollen zusätzlich die ukrainische Sicherheit garantieren.
    • Die russischen Truppen ziehen sich im Gegenzug aus der Ukraine zurück. (zit. nach Stern, 17.3.2022)

Auch wenn man in Rechnung stellt, dass der Teufel bei solchen Verhandlungen im Detail steckt, so ist erkennbar: Ein Waffenstillstand und Verhandlungsfriede basierend auf Neutralität der Ukraine, Rückzug der russischen Truppen, Klärung der strittigen Territorialfragen auf dem Verhandlungsweg, waren in Reichweite.

Westliche Großmächte beunruhigt

Die westlichen Großmächte waren über den Verlauf der ukrainisch-russischen Gespräche offensichtlich schwer beunruhigt. Schließlich hatten sie 2014 den Staatsstreich in Kiew herbeigeführt, um die Neutralität der Ukraine, die bis 2014 dem Land den Frieden gesichert hatte, zu zerstören und das Projekt der NATO-Erweiterung fortzusetzen. Eine neutrale Ukraine war das Letzte, was EU und USA wollten. Die Reaktion des Westens erfolgte prompt: Die Ukraine wurde mit Waffen vollgepumpt und Russland ein immer schärferer Wirtschaftskrieg erklärt. Im Gegenzug wurde die ukrainische Führung auf einen „Siegfrieden“ und die „Ruinierung Russlands“ (Baerbock) eingeschworen – wohlwissend, dass das in eine unabsehbare Eskalation mit der Atommacht Russland führen kann.

Wirtschaftskrieg und Waffenlieferungen von USA und EU dienten spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht mehr im Geringsten dazu, Russland zu Friedensverhandlungen zu zwingen, sondern die Ukraine zu veranlassen, von diesen sofort aufzustehen. Damit wurde eine greifbare Friedensperspektive zerschlagen. Wirtschaftskrieg und Waffenlieferungen von EU und USA dien(t)en ebenso wenig dazu, die Souveränität der Ukraine zu sichern, sondern im Gegenteil: um sie zu demontieren. Denn für Staaten im Grenzgebiet von Großmächten ist die Neutralität die einzige realpolitische Option, um die Souveränität gegenüber rivalisierenden Militärblöcken zu bewahren bzw. zu verhindern, zwischen diesen zerrissen zu werden.

Nachhaltige Friedensperspektive: neutrale, souveräne und ungeteilte Ukraine

Für die Friedensbewegung, aber auch für ein neutrales Österreich, das diesen Namen verdient, ist es daher umso wichtiger, den Verhandlungsfaden zwischen Russland und der Ukraine wieder aufzugreifen. Denn eine neutrale, souveräne und ungeteilte Ukraine wäre nicht nur für die leidgeplagten Menschen in der Ukraine ein Hoffnungsschimmer, sondern für alle Menschen, die die Vision Michael Gorbatschows eines „Gemeinsamen europäischen Hauses“ als Ausweg aus der Eskalationsspirale zwischen der imperialen Ostexpansion von EU/NATO und einem zunehmend ethno-nationalistischen Russland sehen.

(Oktober 2022)


 

Frieden„Proklamation der Ukraine als neutraler Staat“

Vorschlag der ukrainischen Delegation bei den ukrainisch-russischen Gesprächen in der Türkei (Stand 29.3.2022, Istanbul).

  • Vorschlag 1: Proklamation der Ukraine als neutraler Staat mit völkerrechtlichen Garantien zur Umsetzung des blockfreien und atomwaffenfreien Status. Mögliche Garantiestaaten: Russland, Großbritannien, China, USA, Frankreich, Türkei, Deutschland, Kanada, Italien, Polen, Israel. Auch andere Staaten können dem Vertrag beitreten.
  • Vorschlag 2: Die internationalen Sicherheitsgarantien der Ukraine im Rahmen des Vertrages gelten nicht für die Krim, Sewastopol und einzelne Gebiete des Donbass. Die Parteien müssen die Grenzen dieser Gebiete festlegen oder sich darauf einigen, dass jede Seite sie auf ihre eigene Weise versteht.
  • Vorschlag 3: Die Ukraine wird keinem Militärbündnis beitreten, keine ausländischen Militärstützpunkte oder -kontingente stationieren und internationale Militärübungen nur mit Zustimmung der Garantenstaaten durchführen. Die Bürgschaftsstaaten bekräftigen ihrerseits ihre Absicht, die Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union zu fördern.
  • Vorschlag 4: Die Garantiestaaten und die Ukraine kommen überein, dass im Falle einer Aggression, eines bewaffneten Angriffs gegen die Ukraine oder einer Militäroperation gegen die Ukraine jeder der Garantiestaaten nach einer dringenden und unverzüglichen Konsultation zwischen ihnen (die innerhalb von höchstens drei Tagen stattfinden wird) in Ausübung des in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen anerkannten Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung (als Reaktion auf ein förmliches Ersuchen der Ukraine und auf der Grundlage dieses Ersuchens) der Ukraine als dauerhaft neutralem Staat Beistand leisten wird. …
  • Vorschlag 5: Jeder bewaffnete Angriff (jede Militäroperation) und alle daraufhin getroffenen Maßnahmen werden unverzüglich dem UN-Sicherheitsrat gemeldet. Diese Maßnahmen werden beendet, sobald der Sicherheitsrat die zur Wiederherstellung und Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.
  • Vorschlag 6: Der Mechanismus zur Umsetzung der Sicherheitsgarantien für die Ukraine wird nach zusätzlichen Konsultationen zwischen der Ukraine und den Garantiegeberstaaten im Vertrag geregelt, wobei der Schutz vor möglichen Provokationen berücksichtigt wird.
  • Vorschlag 7: Der Vertrag wird ab dem Zeitpunkt seiner Unterzeichnung durch die Ukraine und alle / bzw. die Mehrheit der Bürgschaftsstaaten vorläufig angewandt. Der Vertrag tritt in Kraft, nachdem der Status der Ukraine als dauerhaft neutraler Staat durch ein gesamtukrainisches Referendum gebilligt wurde und die entsprechenden Änderungen an der ukrainischen Verfassung vorgenommen und von den Parlamenten der Ukraine und der Bürgschaftsstaaten ratifiziert wurden.
  • Vorschlag 8: Der Vertrag sieht vor, das Bestreben der Parteien festzuhalten, die Fragen im Zusammenhang mit der Krim und Sewastopol innerhalb von 15 Jahren durch bilaterale Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zu lösen. Es wird auch vorgeschlagen, festzuhalten, dass die Ukraine und Russland die Fragen der Krim und Sewastopols nicht militärisch lösen werden, sondern ihre politischen und diplomatischen Bemühungen zur Lösung dieser Frage fortsetzen werden.
  • Vorschlag 9: Die Parteien werden ihre Konsultationen (unter Einbeziehung anderer Garantiegeberstaaten) fortsetzen, um die Bestimmungen des Vertrags über Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die Modalitäten für einen Waffenstillstand, den Rückzug der Truppen und anderer paramilitärischer Formationen, die Öffnung und Gewährleistung des sicheren Funktionierens der humanitären Korridore auf dauerhafter Basis sowie den Austausch der Leichen und die Freilassung von Kriegsgefangenen und internierten Zivilisten vorzubereiten und zu vereinbaren.
  • Vorschlag 10: Die beiden Parteien halten es für möglich, dass die Präsidenten der Ukraine und Russlands zusammenkommen, um einen Vertrag zu unterzeichnen und/oder politische Entscheidungen über die noch offenen Fragen zu treffen.

    Quelle: http://www.russland.news/der-10-punkte-plan-der-ukraine/