Der Frieden in der Ukraine kann gewonnen werden, wenn die Sicherheitsinteressen aller Beteiligter ernst genommen werden.
Die Ukraine erlebt den dritten Kriegswinter. Die Opfer gehen in die Hunderttausende auf beiden Seiten. Der Überfall Russlands ist ein völkerrechtswidriges Verbrechen, doch es gibt eine Vorgeschichte des Krieges, in der der Westen durch seine ebenfalls völkerrechtswidrigen Interventionen die Neutralität der Ukraine zerstörte und damit eine fatale Dynamik in Gang brachte. Wir müssen zu einer Lösung kommen, die die Sicherheitsinteressen der Ukraine - territoriale Integrität und Souveränität – und Russlands – keine Ausweitung westlicher Militärallianzen bis vor die eigene Haustüre, miteinander verbindet.
Die Ukraine und Russland waren einer solchen Lösung bei den Verhandlungen im Frühjahr 2022 in der Türkei schon relativ nahe. Das von der ukrainischen Seite verfasste und von Russland akzeptierte Schriftstück enthielt folgende Kernpunkte: eine ukrainische Neutralität, den Rückzug der russischen Truppen auf den Stand vor dem 24. Februar 2022 sowie die beiderseitige Verpflichtung, strittige Grenzfragen, insbesondere den Status der Krim, in den nächsten 15 Jahren ausschließlich gewaltfrei zu regeln. Torpediert wurde diese Verhandlung von Scharfmacher im westlichen Lager, die statt auf einen Verhandlungsfrieden auf den militärischen Sieg der Ukraine setzten und die Waffenlieferung in die Höhe schraubten. Die ethnonationalistische Fraktion im Kreml besiegelte vorläufig das Ende dieser Friedenshoffnungen durch die gewaltsame Annexion der Oblaste Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja.
Weg zum Frieden
Ein Verhandlungsfrieden im Jahr 2022 hätte hunderttausenden Menschen das Leben und die Gesundheit gerettet. Aber für eine Verhandlungsfrieden ist es nie zu spät. Orientieren wir uns an den Punkten, wo zwischen Moskau und Kiew weitgehende Einigkeit herrschte und skizzieren einen möglichen Weg.
- Erstens: Waffenstillstand; Rückzug der russischen Truppen hinter die Linien des 24.2.2024 und vorläufige Stationierung einer UNO-Friedenstruppe, die sich aus Ländern zusammensetzt, die nicht in den Krieg involviert bzw. Partei waren.
- Zweitens: Ausarbeiten einer neuen ukrainischen Verfassung, die – was im Minsker Abkommen bereits festgehalten war – den einzelnen Regionen der Ukraine verstärkte Autonomierechte zugesteht. In der Verfassung wird die Neutralität der Ukraine festgehalten. Die Ukraine und Russland waren sich diesbezüglich bei den Verhandlungen in der Türkei im Frühjahr 2022 schon sehr nahe. Strikt defensive Orientierung der ukrainischen Streitkräfte, keine Stationierung von Atomwaffen, keine Stationierung und keine Abhaltung von Militärmanövern fremder Streitkräfte auf dem Territorium der Ukraine. Abhaltung eines Referendums in der Ukraine über diese neue Verfassung. Die Souveränität, territoriale Integrität und Neutralität werden durch entsprechende Zusagen von Garantiemöchten gewährleistet.
- Drittens: Der Status der Krim wird in davon abkoppelten bilateralen Gesprächen innerhalb von 15 Jahren bilateral auf diplomatischem Weg und unter Verzicht auf militärische Gewalt geklärt und gegebenenfalls einem Referendum unterworfen.
- Viertens: Streichung der Schulden der Ukraine, Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft und Infrastruktur durch eine internationale Geberkonferenz, an der sich auch Russland maßgeblich beteiligt.
- Fünftens: Verhandlung eines multilateralen Abkommens unter der Regie der OSZE über einen europäischen Sicherheitspakt. Inhalte dieses Vertrages wären internationale Abrüstung und Rüstungskontrolle, Sicherheitsgarantien, Konfliktprävention, Rücknahme der Sanktionen gegen Russland.
Selensky „Siegesplan“: Völlige Preisgabe der Souveränität
Momentan scheint dieser Weg völlig blockiert. Der Einsatz nordkoreanischer Truppen, die Freigabe der USA von ATACMS-Kurzstreckenraketen für Ziele in Russland, die postwendende Drohung Russland mit Atomwaffen auf konventionelle Angriffe zu reagieren, markierten die aktuelle Eskalation. Die ökonomisch-politischen-militärischen Machtapparate des Westens und Russlands ringen darum, an welcher Nahtstelle die Ukraine zerrissen werden soll, und ein neuer Eiserner Vorhang herunterrasselt. Der Antagonismus ihrer militärischen Ziele verbindet sie letztlich. Jeder Quadratkilometer, den die russische Armee im Osten der Ukraine derzeit erobert, treibt auch den Westen der Ukraine weiter in die Fremdbestimmung.
Selenkys „Siegesplan“, den er im Oktober den Westmächten offerierte, war in Wirklichkeit die Bereitschaft zur völligen Prostitution des Landes. Im Gegenzug für den NATO-Beitritt bot er dem Westen und seinen Konzernen den Ausverkauf der Rohstoffreichtümer des Landes: „Die Ukraine ist reich an natürlichen Ressourcen, einschließlich seltener Erden, die Billionen Dollar wert sind. Dazu gehören Uran, Titan, Lithium, Graphit und andere strategische und strategisch wertvolle Ressourcen, die entweder Russland und seinen Verbündeten oder die Ukraine und die demokratische Welt im globalen Wettbewerb stärken werden.“ (1) Das Verscherbeln der fruchtbaren Schwarzerdeböden an westliche Investoren ist ohnedies bereits in vollem Gange, nachdem 2020 auf Druck des Internationalen Währungsfonds das ukrainische Parlament das Verbot des Handels mit Grund und Boden aufgegeben hat.
Mehr noch: Der EU bot Selenski ukrainische Soldaten kryptisch als Ersatz für abziehende US-Truppen an – wohl ein Angebot, UkrainerInnen in Zukunft als Kanonenfutter für die Schnelle Eingreiftruppe der EU zum Einsatz zu bringen.
Der Krieg treibt – im Namen der Verteidigung der Souveränität - die ukrainischen Machthaber zur immer irrwitzigeren Preisgabe der Souveränität über Menschen und Reichtümer der Ukraine. Als aggressiv antirussischer Frontstaat des Westens ist der westliche Teil der Ukraine denkbar fremdbestimmt, der russisch okkupierte Teil Landes ist ohnehin völlig verschwunden.
Der militärisch-industrielle Komplex reibt sich die Hände, seine Profite sind auf Jahrzehnte gesichert, da eine gespaltene Ukraine ständig dafür instrumentalisiert werden kann, Feindbilder zu pflegen und die Rüstung anzukurbeln. Der deutsche Wirtschaftsminister Habeck drängt auf ein neues Sondervermögen für die deutsche Bundeswehr, der designierte EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius will 500 Milliarden zusätzlich für Rüstung investieren. Wie begründen sie den Irrsinn immer mehr Geld in die Rüstung zu pumpen, während die marode Infrastruktur kollabiert und Brücken einstürzen? Erraten: Feindbild Russland. Dass die NATO-Staaten das Zehnfache Russlands für das Militär ausgeben, fällt unter den Tisch.
Gewinner eines Verhandlungsfriedens
Doch fragen wir daher umgekehrt, wer die Gewinner eines Verhandlungsfriedens, einer neutralen und ungeteilten Ukraine sind? Natürlich sind das in erster Linie der Großteil der Menschen, der ukrainischen wie der russischen, denen ein weiteres Gemetzel erspart bleibt. Aber auch die nationale Unabhängigkeit der Ukraine erlebt dadurch eine wirkliche Chance. Für ein Land, das an einer geopolitischen Konfliktlinie liegt, ist die Neutralität die einzige Chance, ihre Souveränität zu wahren. Diese Chance könnte eine kluge Politik dazu nutzen, die großen Reichtümer des Landes seinen Menschen zukommen zu lassen, statt sie an internationale Investoren zu verschleudern. Aber auch der Frieden in Europa und Welt könnte davon profitieren. Eine neutrale und ungeteilte Ukraine könnte auf Perspektive ein Brückenbauer zwischen Ost und West werden, eines kooperativen Europas, das wirtschaftlich, kulturell und politisch kooperiert und militärisch abrüstet.
Gerald Oberansmayr
(Dezember 2024)
Anmerkungen:
(1) 16.10.2024, Rede Selenskys vor dem ukrainischen Parlament