Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Er hat entsetzliches Leid über viele Menschen gebracht. Dieser Krieg ist nicht zu rechtfertigen. Russland muss sich sofort wieder aus der Ukraine zurückziehen. Aber dieser Krieg hat – wie jeder andere auch – eine Vorgeschichte. Diese darf nicht verschleiert werden, nicht um den Krieg zu relativieren, sondern um Vorschläge für eine nachhaltige europäische Friedensordnung entwickeln zu können, die die Fehler der Vergangenheit vermeiden.

Die NATO drängt an die russische Grenze
In der Hitze der Propagandagefechte wird leicht vergessen: Nicht Russland expandiert seit Jahren Richtung Westen, sondern die NATO bzw. die EU Richtung Osten. In mittlerweile fünf Erweiterungswellen dringt das westliche Militärbündnis immer weiter zur russischen Grenze vor (sh. oben):

  • 1999: Polen, Tschechien, Ungarn
  • 2004: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien
  • 2009: Albanien und Kroatien
  • 2017: Montenegro
  • 2020: Nordmazedonien

Dass alle diese Länder mit fliegenden Fahnen in die NATO bzw. die EU gedrängt wären, ist nicht einmal die halbe Wahrheit. NATO und EU pushten ab den 90er Jahren mit aller Macht westloyale Eliten in diesen Staaten an die Macht und bekämpften politische Kräfte, die sich für einen unabhängigen Kurs ihrer Länder zwischen Ost und West und wirtschaftliche Alternativen zum neoliberalen Schockkurs aussprachen, der von IWF und EU oktroyiert wurde. Spätestens das völkerrechtswidrige 78-tägige Bombardement der NATO gegen die BR Jugoslawien im Jahr 1999 war eine unmissverständliche Warnung, was jenen droht, die sich der Expansion Richtung Osten und der marktradikalen Öffnung ihrer Volkswirtschaften in den Weg stellen.

Atomraketen in der Ukraine könnten in wenigen Minuten Moskau erreichen

Die russischen Proteste gegen diese Osterweiterung, der Verweis auf die westlichen Versprechungen bei der deutschen Wiedervereinigung, die NATO „nicht über die Elbe auszudehnen“, wurden von USA und EU achselzuckend übergangen, da Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion schwach war. Doch alle russischen Machthaber – Jelzin ebenso wie danach Putin – waren in einem Punkt völlig klar: Die Ukraine ist für Russland die „rote Linie“, die nicht überschritten werden darf. Der nachvollziehbare Hintergrund: In der Ukraine stationierte Atomwaffen könnten in wenigen Minuten Moskau und andere strategische Zentren in Russland erreichen – und zerstören.

Das bedroht nicht nur die russischen Sicherheitsinteressen, das ist für den Weltfrieden brandgefährlich. Das zeigt ein kurzer Blick in die Geschichte: 1962 stationierten die USA Atomwaffen im NATO-Land-Türkei, also an der Grenze zur damaligen Sowjetunion. Im Gegenzug ließ die Sowjetunion atomare Raketenbasen in Kuba errichten, also nur wenige Kilometer vor der US-Küste. Das war Anlass für die damalige US-Administration, mit dem 3. Weltkrieg zu drohen. Die Welt atmete auf, als beide Seiten die Atomwaffen aus dem Vorgarten der rivalisierenden Großmacht zurückzogen.

Staatsstreich zerreißt das Land

Im Fall der Ukraine zündeln USA und EU bereits seit Langem: Bereits 2008 stellte der NATO-Gipfel der Ukraine eine Mitgliedschaft in Aussicht. 2013/14 betrat dann die EU machtvoll das Spielfeld. Durch das EU-Ukraine-Assoziationsabkommen sollte sich die Ukraine dem neoliberalen Freihandel bzw. dem Ausverkauf an westliche Konzerne öffnen und militärisch an die EU angebunden werden. Die damalige Regierung Janukowitsch, die zwischen Moskau und Brüssel zu pendeln versuchte, lehnte das Abkommen schließlich ab, weil sie wusste, dass damit die politisch und kulturell tief gespaltene Ukraine in die ultimative Zerreißprobe geführt und die mühsame Balance zwischen Ost und West zerstört werden würde. Genau das geschah. EU und USA unterstützten mit Hilfe faschistischer Kräfte im Februar 2014 einen gewaltsamen prowestlichen Staatsstreich, der eine Regierung an die Macht hievte, die rasch das EU-Ukraine-Assoziationsabkommen durchpeitschte. Es folgte die russische Annexion der Krim, die Abspaltung der sog. Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten des Landes und ein grausamer Bürgerkrieg, der bisher rd. 14.000 Menschen das Leben gekostet hat.

Wie immer man diese Abspaltungen beurteilt, sie sind unmittelbare Folge des gewaltsamen Staatsstreichs in Kiew. Dieser löste eine Repression gegen die Opposition aus: kommunistische Parteien und oppositionelle Medien wurden verboten, die russische Sprache – immerhin die Muttersprache von rd. einem Drittel der UkrainerInnen – aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Es ist keine russische Erfindung, dass nach dem Regime-Change in Kiew rechtsextremer Straßenterror den Widerstand gegen die neuen Machthaber brutal einzuschüchtern versuchte. Im Mai 2014 verbrannte ein rechtsextremer Mob Dutzende DemonstrantInnen bei lebendigem Leib in einem Gewerkschaftshaus in Odessa. Der Westen schwieg und Kiew deckt bis heute die Mörder.

Nachdem die ukrainische Armee Ende 2014/Anfang 2015 im Bürgerkrieg gegen die abtrünnigen Republiken in die Defensive geraten war, stimmte Kiew im Februar 2015 dem Minsker-Abkommen zu. Dieses sah eine Waffenruhe vor, bot darüber hinaus aber auch eine Perspektive, die Einheit der Ukraine zu bewahren: Die Ukraine sollte im Dialog der Konfliktparteien eine neue Verfassung ausarbeiten, die den Republiken mehr Autonomie zugestehen sollte. Heute wissen wir: Kiew hintertrieb - mit dem Wohlwollen der westlichen Mächte - das Minsker Abkommen und nutzte die brüchige Waffenruhe der letzten Jahre, um die Armee mit westlichen Waffen massiv aufzurüsten. Der Anteil des Militärbudgets am Bruttoinlandsprodukt dieses armen Landes verdoppelte sich seither und wuchs auf über 4 Prozent des BIPs.

Parallel dazu ging das Zündeln unvermindert weiter. Die EU bildete im Rahmen der „Polizeimission EUBAM“ Streitkräfte des ukrainischen Innenministeriums aus. Indirekt griff die EU damit in den ukrainischen Bürgerkrieg seit 2014 ein, denn dem Innenministerium untersteht unter anderem die Nationalgarde, die Angriffe auf die Aufständischen im Osten des Landes durchführt. Zahlreiche dieser Einheiten sind rechtsextrem, wie z.B. das Asow-Bataillon, dessen Kommandant Andrij Biletzki den Kampf gegen die Aufständischen im Osten als „Kreuzzug für die weiße Rasse … gegen die von Semiten geführten Untermenschen“ sieht (1). Nach dem Staatsstreich provozierte das neue ukrainische Parlament 2015 Russland durch einen Beschluss, die Stationierung von westlichen Atomwaffen auf ihrem Territorium zuzulassen. 2018 verlieh die NATO der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten. Im Februar 2019 schrieb die Ukraine das Ziel des NATO- und EU-Beitritts in die Verfassung.

Zeitgleich kündigte die US-Regierung den INF-Vertrag, der die Stationierung von nuklearen Raketensystemen mit mittlerer und kürzerer Reichweite verbietet. 2021 erfolgte die Reaktivierung des (1993 geschlossenen) 56. Artilleriekommandos mit Sitz im deutschen Wiesbaden. Es dient der Koordinierung von Raketeneinsätzen der USA-Streitkräfte und ihrer NATO-Verbündeten. Ein bedrohliches Signal, die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen in Osteuropa auf die Tagesordnung zu rücken. Immer wieder fanden gemeinsame Militärmanöver von NATO- und ukrainischen Streitkräften vor der Haustüre Russlands statt.

Ukraine Rakete

Kriegstrommeln werden lauter

2021 verdichteten sich die Signale, dass sich etwas zusammenbraut. Während bei uns vor allem über die russischen Militärmanöver an der ukrainischen Grenze berichtet wurde, drangen da und dort auch Meldungen an die Öffentlichkeit, die darauf hinwiesen, dass die ukrainische Regierung die Rückeroberung der Donbass-Republiken und der Krim auf dem Schlachtfeld vorbereitete. So hieß es in der Berliner Zeitung vom 6.4.2021:

„Für besondere Aufmerksamkeit sorgt das Dekret Nr. 117 vom 24. März 2021, mit dem Selenskyj die Entscheidung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März 2021 („Zur Strategie der Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“) umsetzen will. In dem Dekret wird die Vorbereitung von Maßnahmen angekündigt, um „die vorübergehende Besetzung“ der Krim und des Donbass zu beenden. Laut der staatlichen ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform erhielt die Regierung den Auftrag, einen entsprechenden „Aktionsplan“ zu entwickeln.“

Gleichzeitig strömten immer mehr Waffen ins Land, insbesondere aus Tschechien, den USA, Großbritannien und Polen. Der ukrainische Premierminister kündigte bei einem NATO-Besuch in Brüssel an, zwei Marinestützpunkte nach NATO-Standard im Schwarzen Meer östlich und westlich der Halbinsel Krim zu errichten - mit britischer Unterstützung. Parallel dazu wurde der Ruf nach einem NATO-Beitritt immer lauter. „Die Nato ist der einzige Weg, um den Krieg im Donbass zu beenden“, twitterte Selenskyj Anfang April 2021. Ein beschleunigtes NATO-Beitrittsverfahren für die Ukraine wäre „ein echtes Signal an Russland“ (2). Ein Signal wofür? Dass man bereit ist, alle roten Linien russischer Sicherheitsinteressen zu übertreten?

Dezember 2021: Ein Fenster der Gelegenheit öffnet sich…

An 17. Dezember 2021 öffnete sich nochmals ein „Fenster der Gelegenheit“ für eine Deeskalation des Konflikts. Die Russische Föderation schlug sowohl den USA als auch der NATO jeweils einen Entwurf für einen Vertrag vor, um sich gegenseitige Sicherheitsgarantien zu geben. Die Kernpunkte der russischen Vorschläge:

  • das Hoheitsgebiet anderer Staaten darf nicht zur Vorbereitung oder Durchführung eines bewaffneten Angriffs gegen die andere Vertragspartei oder für andere Handlungen, die grundlegende Sicherheitsinteressen der anderen Vertragspartei berühren, genutzt werden
  • keine Stationierung von bodengestützten Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen außerhalb ihres Staatsgebiets sowie in den Gebieten ihres Staatsgebiets, von denen aus solche Waffen Ziele im Staatsgebiet der anderen Vertragspartei angreifen können
  • keine Stationierung von Kernwaffen außerhalb des jeweiligen Staatsgebiets
  • Keine weitere Osterweiterung der NATO auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion; keine NATO-Militärstützpunkte auf diesem Gebiet
  • Rückzug der militärischen Infrastrukturen von NATO und Russland in anderen europäischen Ländern auf den Stand des Jahres 1997
  • Einschränkung von Militärmanövern in den Grenzregionen auf beiden Seiten

In Hinblick auf die Ukraine laufen diese russischen Vorschläge auf eine militärische Neutralität zwischen Ost und West hinaus. Durch die Aufnahme von Verhandlungen hätten das Tor geöffnet werden können, die russischen Sicherheitsinteressen in eine nachhaltige europäische Friedensordnung einzubetten. Doch sowohl die US-Administration als auch der EU-Außenbeauftrage Josep Borrell und die deutsche Regierung wiesen diese russischen Vorschläge umgehend zurück. Der Verzicht auf die Aufnahme der Ukraine bzw. Georgiens in die NATO komme nicht in Frage, ließ man Moskau wissen. Im Gegenteil: Unmittelbar nach den russischen Vorschlägen drangen Pläne an die Öffentlichkeit, in absehbarer Zeit NATO-Kampftruppen in Bulgarien und Rumänien bzw. im Schwarzen Meer in unmittelbarer Nähe zur Ukraine zu stationieren.

… und schließt sich rasch wieder

Das Fenster für einen Neuanlauf zur Entspannung in Europa schloss sich damit rasch wieder. Eine große Chance wurde verspielt, den russischen Angriff auf die Ukraine abzuwenden. Denn so sicher es ist, dass die Pläne für den russischen Angriff schon in der Schublade des Kremls lagen, so schwer ist es vorstellbar, dass die russische Führung diese umgesetzt hätte, wenn es ernsthafte Signale von USA und EU gegeben hätte, die NATO-Osterweiterung zu stoppen und über einen neutralen Status der Ukraine zu verhandeln. Nach der Zurückweisung der Verhandlungsvorschläge startete Russland im Februar 2022 die verhängnisvollen Militärmanöver an der Grenze zur Ukraine, die schließlich im Angriff ab dem 24. Februar mündeten.

Auch trotz dieser Vorgeschichte bleibt der Krieg Russlands gegen die Ukraine verbrecherisch, weil er entsetzliches Leid über die Menschen bringt, weil er kein Problem löst aber viele neue schafft, weil er das Völkerrecht bricht, eines der kostbarsten Güter, um das Faustrecht in den internationalen Beziehungen zurückzudrängen. Aber: Die Eliten in den USA und EU hatten den Schlüssel in der Hand, um diesen Krieg zu verhindern. Sie haben ihn in hohem Bogen weggeschleudert. Ihr Kalkül: Entweder gibt die russische Führung (wieder einmal) nach, dann können in wenigen Jahren westliche Atomwaffen Moskau von der Ukraine aus bedrohen und gefügig machen. Oder Russland schlägt militärisch zu, dann wird Russland zum Paria-Staat, gegen den alle Mittel gerechtfertigt sind. Die Schleusen für Hochrüstung können sich dann völlig hemmungslos öffnen. Aus dem Blickwinkel von imperialen Großmachtseliten – und der mit ihnen symbiotisch verbundenen Rüstungsindustrie – geradezu eine win-win-Situation, die sie nicht durch Friedensverhandlungen vermasseln wollten.

Internationale Friedensbewegung und neutrale Staaten …

Es mag aussichtlos scheinen, diesen zynischen Großmachtskalkülen entgegenzutreten. Doch das ist es nicht. Die Geschichte wird nicht nur von den Großmächten geschrieben. Die internationale Friedensbewegung hat z.B. in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gezeigt, dass sie mit ihrer Kraft die Hochrüstungspläne von Großmächten durchkreuzen und eine Abrüstungsdynamik in Gang bringen kann. Kleine neutrale Staaten haben immer wieder bewiesen – siehe die Kreiskysche Außenpolitik in den 70er Jahren – dass sie eine wichtige friedenspolitische Rolle als Vermittler und Dialogstifter zwischen verfeindeten Parteien spielen können.

Seit dem Beitritt zur EU hat Österreich diese Rolle eines neutralen Vermittlers zunehmend aufgegeben. Auch im sich über die Jahre aufschaukelnden Konflikt um die Ukraine hat die österreichische Außenpolitik völlig versagt. Das Kommando lautete: EU-Europa muss „mit einer Stimme sprechen“, sprich: Brüssel, Berlin und Paris geben die Marschroute vor. Aus dieser Unterordnung müssen wir uns befreien, wenn Österreich wieder eine aktive Friedenspolitik betreiben soll. Ein selbstbewusstes neutrales Österreich, das als Vermittler zwischen den Großmächten agiert, um internationale Brände zu löschen, statt beim Brandbeschleuniger EU mitzumarschieren, könnte – gemeinsam mit anderen neutralen Staaten - einen wesentlichen Beitrag leisten, um eine neue Friedensordnung in Europa unter Einschluss Russlands aufzubauen.

… sind jetzt wichtiger denn je!

Um eine solche friedenspolitische Wende in der österreichischen Außenpolitik durchzusetzen, braucht es einen Neuanlauf der österreichischen Friedensbewegung. Wir dürfen uns nicht von den jetzt wieder besonders lauten Aufrüstungstrommlern einschüchtern lassen, die den Ukraine-Krieg instrumentalisieren wollen, um weitere Milliarden in die Aufrüstung zu pumpen und die österreichische Neutralität völlig zu entsorgen. Gerade dieser - verhinderbare - Krieg zeigt in jeder Hinsicht: Neutralität verbindet – Militärblöcke spalten! Die Waffen nieder!

Gerald Oberansmayr

(März 2022)

Quellen:
(1) https://lowerclassmag.com/2014/
08/26/rassenkrieg-fuer-europas-werte/
(2) zit. nach Berliner Zeitung, 6.4.2021).