ImageDie jüngsten Äußerungen des finnischen Friedensnobelpreisträgers Martti Ahtisaari enthüllen, dass die westlichen Großmächte im Jahr 2012 ein „Fenster der Gelegenheit“ für ein Ende des Krieges in Syrien zugeschlagen haben. Seither sind eine Viertel Million Menschen in diesem Krieg ums Leben gekommen und Millionen mussten flüchten. Die österreichische Außenpolitik hat sich an diesem Verbrechen mitschuldig gemacht - durch Unterordnung unter diese Kriegspolitik im Rahmen des „Europäischen Auswärtigen Dienstes".

 

Martti Ahtisaari, früherer finnischer Präsident, erhielt 2008 den Friedensnobelpreis für seine diplomatischen Aktivitäten. Im September 2015 hat er dem britischen „Guardian“ ein brisantes Interview gegeben, in dem er schildert, dass der Westen im Jahr 2012 die Chance auf eine bereits damals mögliche politische Lösung des Syrienkonflikts hintertrieb.

„Nichts getan“

Ahtisaari nahm am 22. Februar 2012 als Vermittler an einer Sitzung mit Vertretern der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, den USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China, in New York teil. Ahtisaari sagte dem "Guardian", dass er dort Gelegenheit gehabt hatte, mit dem russischen Gesandten Witali Tschurkin zu sprechen. Laut Ahtisaari übermittelte ihm Tschurkin ihm drei Botschaften: "Erstens: Wir sollten der Opposition keine Waffen geben. Zweitens: Wir sollten sofort einen Dialog zwischen der Opposition und Assad einleiten. Drittens: Wir sollten einen eleganten Weg für Assad finden, um abzutreten." Ahtisaari übermittelte den Plan den USA, Frankreich und Großbritannien. Die Reaktion der westlichen Großmächte: „Nichts passierte“, denn so Ahtisaari, diese „waren überzeugt, dass Assad in wenigen Wochen aus dem Amt verjagt werden würde und es daher nichts getan werden müsse.“ Ahtisaari: „Diese Chance wurde 2012 verspielt.“ Zum damaligen Zeitpunkt waren rd. 7.500 Menschen im syrischen Krieg zu Tode gekommen. Jetzt, drei Jahre später, sind es bereits 250.000 Menschen. Die fehlende Bereitschaft der westlichen Großmächte, einen Friedensdialog im Jahr 2012 einzuleiten, kostete einer Viertel Million Menschen das Leben und machte 11 Millionen Syrerinnen und Syrer zu Flüchtlingen. „Wir haben das verursacht“, wird Ahtisaari im Guardian zitiert.(1)

„Der Westen, die Golfstaaten und die Türkei wollten ein salafistisches Kalifat“

Es ist freilich nur die halbe Wahrheit, dass die westlichen Großmächte „nichts getan“ haben. Sie haben viel getan - um diesen Krieg eskalieren zu lassen. Den Aufstieg von jihadistischen Terrororganisationen wie des „Islamische Staat“ (IS) haben sie dabei bewusst in Kauf genommen, ja gefördert. Das bezeugen Dokumente des US-amerikanischen Militärgeheimdienstes DIA aus dem Jahr 2012, deren Veröffentlichung von der US-amerikanischen Bürgerrechtsgruppe Judical Watch heuer gerichtlich erzwungen werden konnte.

Seither brauchen wir über die Unterstützung des Westen für den Jihadismus in Syrien nicht mehr zu spekulieren, sondern nur mehr aus dem DIA-Dokument zu zitieren: “Es gibt die Möglichkeit der Schaffung eines sich konstituierenden oder nicht offiziell erklärten salafistischen Kalifats im Osten Syriens, und das ist genau das, was die Unterstützer der [syrischen] Opposition wollen, um das syrische Regime zu isolieren und die schiitische Expansion im Irak durch Iran einzudämmen.” Als die „Unterstützer der Opposition“ werden in dem Geheimdienstdokument explizit genannt: „Der Westen, die Golfstaaten und die Türkei.“ Die Westmächte wussten laut des DIA-Berichts auch von Anfang an, dass „Salafisten, die Muslimbruderschaft und AQI (also der Vorläufer von des IS, Anm.d.Red.) … die wichtigsten Kräfte (sind), die den Aufstand in Syrien vorantreiben.“ (2)  Das vom Westen und seinen Verbündeten gewollte „salafistische Kalifat“ ist mittlerweile Realität geworden.

EU und USA rüsten Jihadisten auf

Zum selben Zeitpunkt, als ein Vorschlag für eine politische Lösung zur Beendigung des Krieges auf den Tisch lag, wussten die westlichen Großmächte also bereits sehr genau darüber Bescheid, dass  die syrische „Opposition“ von islamistischen Fundamentalisten dominiert wird. Und sie sorgten für deren Aufrüstung. Diese Gruppen wurden vor allem über die Westalliierten Saudiarabien, Türkei und Vereinigte Arabische Emirate (VAE) aufgerüstet. Auch darüber muss man nicht spekulieren, sondern kann sich auf das öffentliche Eingeständnis des US-amerikanischen Vizepräsidenten Joe Biden beziehen. Und wer Saudi-Arabien, die Türkei und die VAE aufrüstete, kann man in der Datenbank des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI nachschlagen: Zu 87% kamen deren Waffen – zu ziemlich gleichen Teilen – aus den EU-Staaten bzw. den USA. (3)

„Europäischer Auswärtiger Dienst“ (EAD) als Instrument der Gleichschaltung der EU-Außenpolitik…

Die EU hat seit dem Lissabon-Vertrag im Jahr 2009 einen „Europäischen Auswärtigen Dienst“ (EAD). Aufgabe dieses EU-Dienstes ist es, alle diplomatischen, politischen und militärischen Instrumente der EU unter einem Dach zusammenzuzurren. Mit Hilfe dieses EAD wurden alle EU-Staaten nicht nur auf den Krieg gegen Libyen und den mit Hilfe neofaschistischer Milizen durchgesetzten Regime-Change in der Ukraine eingeschworen, sondern auch auf die verbrecherische Politik des Westens, den Regime-Change in Damaskus durch Aufrüstung islamistischer Fundamentalisten zu erzwingen und das „Fenster der Gelegenheit“ für Frieden im Jahr 2012 zuzuschlagen. Die Folgen dieser Politik sind in allen betroffenen Ländern ähnlich: eine endlose Spirale der Gewalt, Chaos und Millionen von Flüchtlinge.

Manche fragen sich, was denn die Aufgabe eines neutralen Landes in der heutigen Zeit sein kann. Gerade angesichts der Enthüllungen von Ahtisaari zeigt sich das einmal mehr deutlich: Sich mit allen Kräften für das Öffnen solcher „Fenster der Gelegenheit“ einzusetzen, um das Schlachten zu beenden! Statt dessen hat sich Österreichs Regierung der EU-Kriegspolitik im Rahmen des EAD untergeordnet und sich mitschuldig gemacht, dass dieses Fenster nicht geöffnet werden konnte. So sieht es aus, wenn die EU „mit einer Stimme spricht“, wie es die Regierungs- und Oppositionsparteien im Parlament so gerne einfordern.

… ist völlig unvereinbar mit der österreichischen Neutralität

Die Solidarwerkstatt bekräftigt daher die Forderung, dass Österreich sofort aus diesem EAD aussteigen muss. Aktive Friedens- und Neutralitätspolitik ist mit der Unterordnung unter dieses Instrument der EU-Großmächte zur Gleichschaltung der EU-Außenpolitik völlig unvereinbar. Viele FriedensaktivistInnen und AntifaschistInnen haben gegen diese Unterordnung bereits im Rahmen des Offenen Briefes „Vorrang für Antifaschismus und Frieden!“ Stellung bezogen. Die Plattform „60 Jahre Neutralität“ verlangt den Ausstieg aus dem EAD und allen anderen Gremien der EU-Außen-, Militär- und Sicherheitspolitik (Rüstungsagentur, EU-Battlegroups, usw.), weil wir nur so den notwendigen Freiraum für eine aktive Friedens- und Neutralitätspolitik gewinnen können. Mit dem Aufruf „Frieden und Neutralität statt EU-Militarisierung!“ und einer Straßenaktion am 26. Oktober 2015 in Wien wollen wir anlässlich des 60. Jahrestages der Beschlussfassung der immerwährenden Neutralität diese Forderungen in den öffentlichen Raum tragen.

Fluchtursachen bekämpfen, nicht die Flüchtlinge!

Wir halten die Forderung nach Ausstieg aus dem EAD auch im Zusammenhang mit der derzeitigen Flüchtlingskrise für zentral. Die EU-Politik hat im Rahmen des EAD den Krieg in Syrien angeheizt und friedliche Lösungen hintertrieben. Millionen Menschen mussten deshalb flüchten. Gleichzeitig bekämpft die EU Flüchtlinge durch Grenzschutzagenturen wie FRONTEX, die ebenfalls als Instrument des EAD fungieren. Durch aktive Neutralitätspolitik können und müssen wir das Gegenteil tun: Fluchtursachen bekämpfen, und nicht die Flüchtlinge!

Gerald Oberansmayr
(5.10.2015)


Quellen:
(1)   The Guardian, 15.9.2015
(2)   http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Syrien1/salafisten.html
(3)   www.sipri.org