1. Vorbemerkung:
Immer wieder haben wir uns als Afrique-Europe-Interact in den letzten 9 Monaten zur dramatischen Mehrfachkrise in Mali zu Wort gemeldet, zuletzt mit einer taz-Beilage am 8. Dezember sowie seit Anfang Januar mit mehreren Pressemitteilungen und Spendenaufrufen anlässlich eines von der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact initiierten „Weißen Marsches“ in Mali. Vor diesem Hintergrund möchten wir heute zu einigen der seit der französischen Militärintervention grundlegend veränderten Rahmenbedingungen Stellung beziehen, unter anderem dazu, wie sich das politische Kräfteverhältnis in Mali durch die Präsenz internationaler Truppen verschieben dürfte (was wiederum auf die Frage verweist, weshalb es überhaupt zur Intervention gekommen ist). Dabei wird – wie gehabt – bei unseren Überlegungen der Umstand eine zentrale Rolle spielen, dass wir in den letzten Wochen und Monaten in regelmäßigem, oft täglichem Kontakt mit AktivistInnen unseres transnationalen Netzwerks in Mali gestanden sind. Denn dies hat uns die Möglichkeit gegeben, die Auseinandersetzungen stets auch durch die Brille unserer malischen MitstreiterInnen zu betrachten und somit einige der in Europa fast zwangsläufigen Verkürzungen, Irrtümer, Projektionen und eurozentristischen Sichtweisen zu vermeiden oder zumindest klein zu halten.
2. Ausgangssituation: Neokolonialer Bluff – und doch ein wichtiger Lichtblick…
Durch die militärische Intervention sind die islamistischen Besatzer binnen drei Wochen aus größeren Teilen des Nordens vertrieben worden, nicht zuletzt aus den drei wichtigen Städten Gao, Timbuktu und Kidal. Grundsätzlich ist dieser Umstand eine ebenso gute wie erleichternde Botschaft – entsprechend teilen wir die Freude vieler Menschen im Norden Malis, zumal es keinerlei Anlass zu geben scheint, deren Authentizität in Frage zu stellen (anders als es bei Kriegsberichterstattung gemeinhin der Fall ist). Und doch ist Afrique-Europe-Interact weit davon entfernt, den französischen Militäreinsatz positiv zu bewerten: Erstens weil das in militärischen Interventionen enthaltene Eskalationsrisiko noch keineswegs gebannt ist, also die Gefahr eines die Zivilbevölkerung massiv in Mitleidenschaft ziehenden Guerilla-Kriegs seitens der Islamisten. Zweitens weil Krieg bzw. die Präsenz von Besatzungstruppen häufig mit dramatischen Problemen bzw. Konsequenzen einhergeht, ob durch Traumatisierungen, Zerstörung lokaler Ökonomien oder Vergewaltigungen – alles Aspekte, worauf bereits im November 2012 der von der bekannten Globalisierungskritikerin und früheren Kulturministerin Malis Aminata D. Traoré initiierte Aufruf „Frauen in Mali, sagt NEIN zum Stellvertreterkrieg!“ aufmerksam gemacht hat. Drittens – und dieser Punkt ist in unseren Augen am wichtigsten – weil Frankreich keineswegs aus humanitären Motiven gehandelt hat, ausschlaggebend waren vielmehr politische, ökonomische und militärische Interessen. Es war daher auch keineswegs zufällig, dass Frankreich zusammen mit der westafrikanischen Wirtschaftsunion (ECOWAS) sowie Teilen der im März 2012 durch einen kurzzeitigen Putsch zumindest geschwächten politischen Elite Malis seit Beginn der Krise nicht das Geringste getan hat, um nach einer so genannten „malischen Lösung“ Ausschau zu halten – ganz gleich, ob diese mit zivilen Mitteln des Dialogs oder durch einen begrenzten (im Zeichen der Selbstverteidigung stehenden) Einsatz der malischen Armee erfolgt wäre. Ganz im Gegenteil: Durch diverse Embargo-Maßnahmen (mit Blick auf den so genannten Putsch) sowie weitere Interventionen von außen wurde gezielt eine Situation scheinbarer Alternativlosigkeit kreiert, an deren Ende die irrwitzig anmutende Wahl zwischen einem angeblichen Ansturm der Islamisten auf Bamako oder einer Militärintervention unter französischem Kommando stand. Diese Pseudoalternative weisen wir ausdrücklich zurück, zumal die schon erwähnten politischen, ökonomischen und militärischen Interessen nicht nur Frankreichs, sondern auch etlicher Regierungen in Westafrika all zu offensichtlich auf der Hand liegen…
3. Politische, ökonomische und militärische Hintergründe der Intervention
Geht es um die Interessen der beteiligten Akteure (insbesondere Frankreichs), werden in der hiesigen Debatte vor allem vier Aspekte hervorgehoben: Erstens die Sorge vor einem so genannten „Sahelistan“, also einem Rückzugsgebiet für islamistische Dschihadisten. Dabei wird in vielen Texten explizit darauf hingewiesen, dass islamistische Gruppen in den letzten 30 Jahren immer wieder von westlichen und anderen Geheimdiensten gezielt aufgebaut wurden (in jüngerer Zeit zum Beispiel in Libyen und Syrien) und dass es darüber hinaus die neokolonialen Dominanz- und Ausbeutungsverhältnisse sind, die Islamisten überhaupt erst den Boden bereiten – ob durch erfolgreiche Agitation in der Bevölkerung oder die Nicht-Existenz staatlicher (Sicherheits-)Strukturen wie im Falle Malis. Zweitens werden immer wieder die handfesten ökonomischen Interessen betont, etwa das viel zitierte Uran und andere Bodenschätze, aber auch sonstige Geschäftsfelder, in denen französische Firmen aktiv sind. Beides wird drittens mit grundsätzlichen Überlegungen verknüpft, etwa von der Forschungsstelle Flucht und Migration, auf deren Blog es am 14. Januar hieß, „dass Krieg in der Sahara jene Gewalt- und Ermöglichungsräume herstellen (soll), die für eine kapitalistische Durchdringung dieser Räume Voraussetzung sind. Sicherheit für den Uranabbau, die Solarkraftwerke und die Ölförderung in der Sahara gibt es nur durch Einhegung.“ Viertens finden die auf das Allerengste hiermit verzahnten militärischen Interessen regelmäßig Erwähnung – passend dazu, dass im Moment vieles danach aussieht, als ob Frankreich versuchen würde (im Zusammenspiel mit den Tuareg-Rebellen der MNLA), im Norden Malis eine dauerhafte Militärpräsenz einzurichten.
Jedes der hier zitierten Argumente ist in unseren Augen zutreffend, Differenzen liegen allenfalls im Detail bzw. in der Gewichtung. Und doch ist auffällig, dass fast ausschließlich aus einer geostrategischen (Metropolen-)Perspektive formuliert wird, während die politischen Auseinandersetzungen innerhalb Malis bzw. Westafrikas unerwähnt bleiben, obwohl diese für ein wirkliches Verständnis der Abläufe absolut elementar sind.
Genauer: Im März 2012 hat es in Mali eine Art improvisierten Militärputsch niedriger Ränge gegeben, in dessen Verlauf der langjährige Präsident Amadou Toumani Traoré (ATT) samt größerer Teile seiner hochgradig korrupten Regierungsmannschaft abgesetzt wurden. Seitens der Bevölkerung ist der Putsch bzw. der dadurch angestoßene demokratische Aufbruch auf große Zustimmung gestoßen, und das aus mindestens drei Gründen: Erstens weil sich die malische Armee durch jahrelange Korruption in einem derart desolaten Zustand befunden hat, dass ihre einfachen Soldaten in den Kämpfen mit den unter anderem aus Libyen zurückgekehrten Tuareg-Rebellen buchstäblich verheizt wurden. Zweitens weil Mali trotz garantierter Meinungs- und Versammlungsfreiheit keineswegs die Musterdemokratie gewesen ist, wie es insbesondere im „Westen“ immer wieder beschworen wurde. Davon zeugen nicht nur hoffnungslos veraltete Wahlregister und eine Wahlbeteiligung von gerade mal 15 Prozent bei den letzten Wahlen, sondern auch die Tatsache, dass im Parlament französisch gesprochen wird, obwohl maximal ein knappes Drittel der Bevölkerung überhaupt französisch versteht. Drittens weil es in diesem Zusammenhang schon lange zu krassesten Formen von Korruption, Vetternwirtschaft und Misswirtschaft gekommen ist – mit katastrophalen Konsequenzen insbesondere für die völlig verarmten Massen (mehr Informationen zu sämtlichen dieser Aspekte finden sich in unserer taz-Beilage vom 8. Dezember sowie in vielen ebenfalls auf unserer Webseite dokumentierten Hintergrundartikeln: http://afrique-europe-interact.net/index.php?article_id=682&clang=0). Kurzum: Der Putsch ist keineswegs in eine Militärdiktatur eingemündet, wie selbst in linken Stellungnahmen mitunter zu lesen war. Er bzw. die von ihm frei gesetzte Dynamik massenhafter Partizipation von unten steht vielmehr im Kontext jener Massenproteste und Aufstände, die seit Ende 2010 nicht nur in Südeuropa oder der arabischen Welt, sondern auch in zahlreichen Ländern südlich der Sahara mit mehr oder weniger hoffnungsstiftenden Ergebnissen stattgefunden haben. Eine Feststellung, an der auch der Umstand nichts ändert, dass die Ex-Putschisten im Dezember 2012 den von nahezu allen politischen Lagern in Mali ausdrücklich begrüßten Schritt unternommen haben, den Ex-Übergangsministerpräsidenten Cheick Modibo Diarra aus dem Amt zu drängen, nachdem bekannt geworden war, dass dieser sich massiv bereichert und zudem den Versuch unternommen hatte, Teile des Militärs unter seine persönliche Kontrolle zu bringen.
Indes: Die handfeste Verschiebung des politischen Kräfteverhältnisses in Mali war nicht nur der politischen Elite des Landes ein Dorn im Auge, sondern auch externen Akteuren – insbesondere zahlreichen westafrikanischen Regierungen, die Nachahmungseffekte befürchteten, und natürlich Frankreich, das die durchaus begründete Sorge umtrieb, auf diese Weise in seiner politischen und ökonomischen Vormachtstellung in Mali bzw. der gesamten Region empfindlich geschwächt zu werden. Entsprechend wurde der demokratische Aufbruch in Mali seitens der benannten Akteure von Anfang massiv torpediert – in aller Regel mit dem Argument, dass der Putsch eine demokratisch gewählte Regierung abgesetzt habe, ohne jedoch mit einer Silbe auf die fundamentalen Mängel dieser Fassadendemokratie einzugehen oder den Sachverhalt zu kommentieren, dass ansonsten problemlos mit allerlei Diktaturen zusammengearbeitet wird, ob in Saudi-Arabien und China oder jahrzehntelang in Libyen, Tunesien und Ägypten: Konkret wurde erstens direkt nach dem Putsch ein zweiwöchiges Totalembargo gegen Mali verhängt (mit dem unmittelbaren Effekt von Versorgungsengpässen für die ganz normale Bevölkerung), zweitens wurde die Entwicklungszusammenarbeit seitens der Industrieländer bis heute weitgehend gestoppt, drittens wurde Mali für einige Monate aus der Afrikanischen Union ausgeschlossen, viertens wurden legal gekaufte Waffen für die malische Armee in westafrikanischen Häfen festgesetzt und erst wieder freigegeben, nachdem die malische Übergangsregierung einer ausländischen Militärintervention offiziell zugestimmt hatte, fünftens wurde der ebenfalls zur alten Garde zählende Ex-Parlamentspräsident Diocounda Traoré mit Hilfe der ECOWAS zum Übergangspräsidenten ernannt (unter Androhung neuer Embargomaßnahmen), sechstens wurden die Tuareg-Rebellen der MNLA, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits mit den Islamisten verbündet hatten, zumindest politisch durch Frankreich und Burkina Faso unterstützt und siebtens wurden schließlich kaum ernsthafte Versuche unternommen, die politischen Akteure in Mali darin zu stärken, eine genuin malische Lösung des Problems zu finden, und sei es durch die finanzielle, politische und logistische Unterstützung eines zwischenzeitlich ebenfalls vorgeschlagenen 100.000-Menschen Marsches von Mopti nach Gao, womit die Islamisten zweifelsohne in die Defensive geraten wären.
Die Konsequenzen dieser Politik waren unterdessen dramatisch: Zunächst ist hierdurch die wohl ohnehin chancenlose malische Armee in den Wochen nach dem Putsch zusätzlich geschwächt worden, so dass es für Tuareg-Rebellen und Islamisten ein Leichtes war, den Norden Malis endgültig zu erobern. Eine Feststellung, die vor allem auf die insbesondere von westlichen Medien gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung gemünzt ist, wonach die Putschisten für die militärische Niederlage maßgeblich verantwortlich seien – ohne allerdings die eben erwähnten Umstände in irgendeiner Form zu berücksichtigen, zu denen im Übrigen auch gehört, dass gleich zu Beginn des Kämpfe im Januar 2012 drei der vier im Norden Malis stationierten Kampfeinheiten der malischen Armee komplett zu den Tuareg-Rebellen übergelaufen sind (als Langzeitfolge davon, dass in früheren Friedensverhandlungen vereinbart worden war, dass sich die malische Armee im Norden Malis vor allem aus Tuareg zusammensetzen möge). Aber auch politisch und ökonomisch ist der demokratische Aufbruch durch die zahlreichen, insbesondere von außen kommenden Störmanöver massiv unter Druck geraten – ganz abgesehen davon, dass sich leider auch etliche Akteure aus der politischen Linken nicht sonderlich geschickt verhalten haben (beispielsweise ist das zivilgesellschaftliche Bündnis COPAM, an dem auch einige Akteure der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact beteiligt sind, zwischenzeitlich durch eine Art Korruptionsskandal an seiner Spitze massiv erschüttert worden, mit der gleichsam 'imageschädigenden' Konsequenz, dass der ehemalige COPAM-Chef mit zwei Vertrauten direkt in die Übergangsregierung gewechselt ist).
Spätestens vor diesem Hintergrund dürfte also verständlich werden, wie es am 11. Januar, einen Tag nach Beginn der französischen Militärintervention, in der französischen Tageszeitung Le Monde zu der eigenartigen Überschrift gekommen ist, wonach die Intervention die malische Regierung vor dem Zugriff der Putschisten schützen würde („Le pouvoir malien sauvé des putschistes par le militaire français”). Denn deutlich wird, dass die Intervention nicht zuletzt darauf abzielt, Partei im innermalischen Konflikt zu ergreifen, um eine basisdemokratische Selbstermächtigung in ganz Westafrika zu verhindern, die sich wiederum auch für Frankreich ungünstig auswirken würde. Nirgends ist dieses Ansinnen in den letzten Tagen deutlicher geworden als am Beispiel der „concertations nationales“, einer Art Vollversammlung aller gesellschaftlichen Gruppen in Mali, aus deren Mitte die Initiative zu fairen, das heißt die Interessen der armen Bevölkerungsmehrheit wirklich berücksichtigenden Wahlen hervorgehen soll. Die Abhaltung dieser „concertations nationales“ wurde seit dem Putsch von großen Teilen der malischen Zivilgesellschaft regelmäßig gefordert, allerdings haben Übergangspräsident und -regierung ihre Einberufung immer wieder sabotiert. Stattdessen wurde am 29. Januar ein kurzfristig eingebrachter Übergangsfahrplan – die so genannte „Feuille de Route“ – hektisch vom Parlament verabschiedet. Und das, obwohl besagter Übergangsfahrplan eigentlich von den nunmehr endgültig ins Hintertreffen geratenen „concertations nationales“ hätte verabschiedet werden sollen (nachdem er in den vergangenen Monaten von sämtlichen parlamentarischen und zivilgesellschaftlichen Kräften in konsensorientierter Ausschussarbeit formuliert worden war). Das diesbezügliche Kalkül ist offensichtlich: Im Moment herrscht Kriegsstimmung, die Frage der Wahlen spielt gegenüber den Geschehnissen im Norden eine untergeordnete Rolle, da passt es bestens, das aus Sicht der immer noch angeschlagenen Elite potentiell gefährliche (weil basisdemokratische) Instrument der „concertations nationales“ möglichst rasch zu entsorgen – zumal unter anderem die EU eine schrittweise Freigabe der eingefrorenen Gelder von einer diesbezüglich schnellen Entscheidung abhängig gemacht hat. Entsprechend ist es auch kaum verwunderlich, dass bereits seit Wochen in den malischen Mainstream-Medien eine regelrechte Hetze gegen sämtliche ProtagonistInnen der „concertations nationales“ läuft (inklusive Gleichsetzungen mit den Islamisten aus dem Norden), so wie auch große Teile der malischen Armeeführung während der Intervention de facto kalt gestellt wurden und stattdessen sämtliche Abstimmungsprozesse vorrangig zwischen dem malischen Übergangsministerpräsidenten, dem französischen Botschafter in Mali und dem französischen Generalstab erfolgt sind. Und weil die internationalen Finanzinstitutionen in solchen Situationen nicht fehlen dürfen, sollte genauso wenig aus dem Blick geraten, dass der IWF – im Kontext ähnlicher Erpressungsmanöver wie seitens der EU – am Ende der zweiten Interventionswoche ebenfalls neue Kredite zur Stabilisierung der malischen Wirtschaft zugesagt hat, nachdem der Westen durch seine bis heute andauernde Blockadepolitik den wirtschaftlichen Niedergang Malis in einer ersten Runde noch massiv beschleunigt hat.
4. Recht auf Selbstverteidigung – legitimes Anliegen oder nationalstaatlicher Popanz?
Bereits mehrfach haben wir in diesem Text in vergleichsweise neutraler Diktion auf die malische Armee Bezug genommen – nicht zuletzt mit Blick auf ihr im vergangenen Jahr deutlich gewordenes Unvermögen, 15 Millionen EinwohnerInnen vor (je nach Schätzung) 2.000 bis 5.000 Rebellen zu schützen. Aus einer antimilitaristischen Perspektive (die wir teilen) mag dies womöglich irritierend wirken, deshalb möchten wir zumindest kurz benennen, worum es geht: Bereits bei der Bamako-Dakar-Karawane Anfang 2011 hat es vor allem unter den malischen bzw. afrikanischen AktivistInnen mehrfach Debatten über das Verhältnis zur malischen Armee gegeben (etwa bei der Frage, ob wir uns bei unserer Demo an der malisch-mauretanischen Grenze aus „Sicherheitsgründen“ von einem kleinen Militärkonvoi begleiten lassen sollten oder nicht). Ganz ähnlich ist der ebenfalls an Afrique-Europe-Interact beteiligte Autor Tahirou Bah in seinem 2010 erschienenen Buch „Mali: les procès permanent“ ausführlich auf die Notwendigkeit der regulären Bezahlung von Soldaten eingegangen. Diese offensiv von BasisaktivistInnen artikulierte Inanspruchnahme des „Rechts auf Selbstverteidigung“ hat uns anfangs einigermaßen überrascht, nicht zuletzt, weil uns die Existenz permanenter Auseinandersetzungen im Norden Malis zwar bekannt war (nicht zuletzt über das Thema von Entführungen westlicher StaatsbürgerInnen), wir ansonsten aber keine wirkliche Ahnung über die komplexe Konflikt- und Gewaltgeschichte in dieser Region hatten. Dies hat sich seit vergangenem Jahr grundlegend geändert, heute ist allenthalben bekannt, was passieren kann, wenn ein Land keine hinreichenden Sicherheitskräfte hat, so sympathisch das unter antimilitaristischen Vorzeichen auch ist. Insofern können wir mittlerweile zumindest gut nachvollziehen, was es mit dem Recht auf Selbstverteidigung auf sich hat – so wie wir ja hierzulande ebenfalls erwarten, dass bei einem Naziangriff die Polizei angerufen werden kann bzw. so wie wir völlig zu Recht kritisieren, wenn die Polizei bei einem Naziangriff wahlweise gar nicht, zu spät oder nur unzureichend ausgerüstet erscheint.
Dennoch haben wir im Austausch mit unseren malischen MitstreiterInnen immer wieder betont, dass wir vor dem Hintergrund der hiesigen Debattenkonstellation in Sachen Krieg & Frieden auf keinen Fall offensiv logistische Ausbildungshilfe für die malische Armee fordern können (ob durch Propagierung der Freigabe der widerrechtlich in westafrikanischen Häfen blockierten Waffenlieferungen an die malische Armee oder die Forderung von Ausbildungsunterstützung mittels westlicher Militärausbilder). Denn eine staatliche Armee ist, so eines unserer Argumente, etwas anderes als eine emanzipatorische Guerilla, abgesehen davon, dass es auch in Guerilla-Bewegungen zu äußerst fragwürdigen Auseinandersetzungen kommen kann (wie zum Beispiel in der FMLN in El Salvador, für die die taz 1980 unter dem Titel „Waffen für El Salvador“ eine Spendenkampagne startete, bei der innerhalb weniger Wochen über 1 Mio. DM Spenden reingekommen sind). Und auch haben wir in den Diskussionen mehrfach auf das Dilemma hingewiesen, dass dort, wo Kleinwaffen im Umlauf sind, diese einen Gewaltzirkel eröffnen können, oft auch deshalb, weil sie in die falschen Hände geraten. Kurzum: Unsere Botschaft lautete, dass es einen kaum bewältigbaren Spagat darstellen würde, einerseits die sofortige Schließung von Waffenherstellern wie Heckler & Koch zu fordern, sich andererseits aber mit Blick auf die spezifische Situation in Mali für den Export von Waffen einzusetzen.
Nun, all dies mag auf den ersten Blick zugespitzter klingen, als es war. Denn einerseits hat sich ja die malische Sektion von Afrique-Europe-Interact mit dem Projekt eines Weißen Marsches an die Öffentlichkeit gewandt (auch wenn sie in ihrer diesbezüglichen Deklaration das „Recht auf Selbstverteidigung“ explizit benennt), andererseits hat die französische Militärintervention faktisch viele der diesbezüglichen Fragen zunächst einmal obsolet werden lassen. Nichtsdestotrotz haben uns die Entwicklungen in Mali im vergangenen Jahr reichlich unerwartet mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert – vergleichbar im Übrigen mit den Widersprüchen in Nicaragua in den 1980er Jahren, wo ja die Bevölkerung genauso wie die Solidaritätsbrigaden aus Europa im Lichte des von den USA finanzierten Contra-Terrors mitten im Land auf den Schutz durch die vom Ostblock unterstützte nicaraguanische Armee angewiesen waren…
5. Bevölkerung in Pro-Interventionsstimmung – was tun?
Eine weitere Herausforderung anlässlich der französischen Intervention hat sich aus dem Umstand ergeben, dass große Teile der malischen Bevölkerung aus durchaus nachvollziehbaren Gründen eine Intervention gutheißen und entsprechend Demonstrationen im Ausland gegen die französische Militärintervention auf absolutes Unverständnis stoßen – unabhängig davon, ob der Protest antikolonial oder religiös begründet ist. Denn klar ist auch, dass die Stimmung bei der Mehrheit keineswegs als kriegerisch beschrieben werden kann. Im Gegenteil: Im Vordergrund steht, so unsere MitstreiterInnen aus Mali, das Verlangen nach Frieden, entsprechend nehmen umfängliche Gebete und Koran-Lektüren in den Moscheen breiten Raum ein. Maßgeblich für die Gestimmtheit vieler Menschen ist dabei die Sorge, dass die soziale und kulturelle Identität Malis durch eine Herrschaft radikaler Islamisten nachhaltig Schaden nehmen könnte. Die gesamte Gesellschaft ist daher von einer Art Positiv-Boom des in Mali ohnehin vorherrschenden Sufi-Islam erfasst worden.
Wie gesagt: Auch das können wir im Lichte des menschenverachtenden Scharia-Regimes gut verstehen, welches die islamistischen Besatzer in Mali von Anfang an gegen den nahezu einhelligen Willen der Bevölkerung installiert haben (selbst der dem saudi-arabischen Wahabismus nahestehende Führer des „Hohen Islamischen Rats“ in Mali hat die im Norden angewandte Scharia explizit abgelehnt). Insofern lautet an diesem Punkt unsere Devise (auch mit Blick auf den transnationalen Charakters unseres Netzwerks), dass wir das Spannungsfeld zwischen einerseits allgemeinen Stimmungen in der malischen Bevölkerung und andererseits politischen Analysen, wie sie sowohl von der malischen wie der hiesigen Sektion von Afrique-Europe-Interact vertreten werden, sichtbar machen wollen. Konkret hat das dazu geführt, dass wir in unseren bisherigen Pressemitteilungen und Stellungnahmen zwar stets auf die Eskalationsrisiken bzw. -wahrscheinlichkeiten eines Kriegs genauso wie auf die neokolonialen Interessen Frankreichs hingewiesen haben, dabei aber (wie auch die malische Sektion) die Intervention nicht in Bausch und Bogen abgelehnt, sondern uns vielmehr auf den Weißen Marsch konzentriert haben, also auf eine Perspektive des Dialogs und Interessensausgleichs als unumgehbare Voraussetzung für einen wirklich nachhaltigen Frieden – schlicht deshalb, um einige jener Ambivalenzen sichtbar zu machen, die sich automatisch ergeben, wenn es einen realen Austausch mit den vom unmittelbaren Kriegsgeschehen betroffenen Akteuren gibt.
6. Der Konflikt zwischen Tuareg und malischem Zentralstaat als Kernproblem
Der seit der Unabhängigkeit Malis im Jahr 1960 periodisch eskalierende Konflikt zwischen Tuareg im Norden und malischem Zentralstaat hat zwar zwischen März und Mai 2012 hierzulande intensive Beachtung gefunden, wurde dann aber von der Beschäftigung mit dem islamistischen Scharia-Regime weitgehend verdrängt. Allerdings zu Unrecht, wie nicht nur die seit Beginn der Intervention viel diskutierten Übergriffen gegenüber mutmaßlichen Kollaborateuren oder Ex-Tuareg-Kämpfern zeigen. Denn ohne den Aufstand der aus Libyen zurückgekehrten Tuareg-Söldner hätten die seit ca. 2003 im Norden Malis fest verankerten Islamisten nie Richtung Süden vorrücken können. Hinzu kommt, dass sich eine der drei nunmehr in die Defensive geratenen islamistischen Gruppen – Ansar Dine – primär aus malischen Tuareg zusammensetzt. Entsprechend war es kaum überraschend, dass viele (auch linke) Kommentare in Europa in dieser Hinsicht vergleichsweise schlecht informiert sind oder aber offensiv Partei für die Tuareg ergreifen und deren legitimes Recht auf Autonomie propagieren – nicht selten mit romantisierenden Untertönen, wonach die Tuareg „stolze“, mitunter auch „angstfreie“ Menschen seien, die seit der Kolonialzeit ihre „nomadische Freiheit“ hartnäckig verteidigen würden.
Indes: Derlei ursprünglich von westlichen Forschungsreisenden und EthnologInnen in die Welt gesetzten Romantizismen taugen nicht, vor allem werden sie der hochgradig komplexen Konfliktgeschichte zwischen Tuareg und malischem Zentralstaat nicht gerecht, im übrigen auch aus Sicht vieler Tuareg nicht. Zu berücksichtigen sind stattdessen mindestens fünf Sachverhalte: Erstens, dass die Tuareg gerade mal 32 Prozent der Bevölkerung des Nordens ausmachen, weshalb es eine Mogelpackung ist, von Selbstbestimmung oder Autonomie zu sprechen – zumal im Falle Malis historische und koloniale Grenzen im wesentlichen übereinstimmen und bereits seit dem Malinke-Reich im 13. Jahrhundert ein multiethnisches bzw. -linguales Zusammenleben in dieser Region kulturell tief verankert ist. Zweitens, dass sich die MNLA keineswegs umfassender Zustimmung unter der Tuareg-Bevölkerung im Norden erfreut, vielmehr repräsentiert sie in erster Linie die Interessen einiger weniger Tuareg-Clans rund um Kidal. Drittens, dass es eigenartig ist, in einem Land wie Mali von Diskriminierung zu sprechen und dies mit bisweilen falschen Angaben zur Zahl von Krankenhäusern, Schulen etc. zu begründen. Vielmehr ist die breite Bevölkerung in dem gesamten Land extrem verarmt, in erster Linie durch neokoloniale Verhältnisse, aber auch durch massive Korruption seitens der politischen Eliten, die im Norden seit den 1990er Jahren just von jenen Tuareg-Führern maßgeblich gestellt werden, die zu den Trägern des jüngsten Tuareg-Aufstandes gehört haben. Viertens, dass die Tuareg mitnichten die einzigen nomadisierenden ViehalterInnen gewesen sind, die nach der Unabhängigkeit Einschränkungen zugunsten sesshafter Kleinbauern und -bäuerinnen erfahren haben, genannt wird in diesem Zusammenhang immer wieder die zahlenmäßig ähnlich große Gruppe der Fulbe, auch bekannt als Fula (englisch) oder Peul (französisch). Und fünftens, dass es insbesondere die beiden großen Dürreperioden 1968 bis 1973 und 1983 bis 1985 gewesen sind (und eben nicht Diskriminierung), durch die 80 Prozent der Herden zerstört und somit zahlreiche Tuareg in die Migration nach Algerien, Libyen oder in die Elfenbeinküste gezwungen wurden.
Mit anderen Worten: Anstatt die fatalen (vor allem von den Falken beider Seiten stammenden) Zuschreibungen in Europa zu reproduzieren, sollte es vielmehr um die komplette Konfliktgeschichte gehen, an deren Anfang vor allem zwei grundlegende Sachverhalte stehen: Einerseits die nationalstaatliche Zerstückelung des bisherigen Siedlungs- und Wandergebiets der Tuareg (auf dem Gebiet des ehemaligen französischen Kolonialreichs) – inklusive zahlreicher Maßnahmen, die die nomadische Viehwirtschaft massiv erschwert haben. Andererseits der Umstand, dass schwarze Sklaven bei den oberen Tuareg-Kasten im Jahr 1960 noch völlig üblich waren (und das mit sozialstrukturellen Konsequenzen bis heute). Aus dieser hochgradig konflikthaften Ausgangssituation hat sich sodann seit 1963 ein jahrzehntelanger Dauerkonflikt nicht nur in Mali, sondern auch in vielen Nachbarländern entwickelt, der vor allem für die Zivilbevölkerung immer wieder äußerst grausam verlaufen ist. Mit Blick auf die unmittelbare Gegenwart heißt das aber, dass sämtliche Facetten der jüngsten Konfliktdynamik gleichermaßen berücksichtigt werden sollten – der Einfachheit halber in chronologischer Reihenfolge: Erstens, dass die MNLA im Namen vieler (nie dazu befragter) Tuareg im Januar 2012 einen Bürgerkrieg begonnen und dabei das Bündnis mit islamistischen Gruppen gesucht hat, was in der Konsequenz ganz Mali buchstäblich an den Rand des Abgrunds manövriert hat. Zweitens, dass es in den ersten Monaten des Krieges zwischen MNLA und malischer Armee zu zahlreichen Hinrichtungen, Plünderungen und Vergewaltigungen gegenüber der Nicht-Tuareg-Bevölkerung gekommen ist, wobei bis heute die genaue Urheberschaft nicht geklärt ist. Drittens, dass seit Beginn der französischen Intervention unter anderem in Sévare, Mopti, Niono und Douentza mehrere Tuareg und arabischstämmige Menschen ermordet wurden (angeblich weil es sich um Islamisten, MNLA-Rebellen oder Kollaborateure gehandelt haben soll), wobei auch hier noch nicht geklärt ist, inwieweit diese Taten auf das Konto der malischen Armee, paramilitärischer Milizen oder lokaler Mobs gehen. Viertens, dass es an vielen Orten – unter anderem in Gao und Tombuktu – zu Plünderungen und Übergriffen gegenüber Tuareg und arabischstämmigen Maliern gekommen ist, auch hier oftmals unter dem Vorwand der Kollaboration. Und fünftens, dass aufgrund dessen seit Ende Januar tausende Menschen geflohen sind. So sollen allein die Grenze nach Mauretanien täglich 800 Menschen überqueren, die meisten aus Angst vor Übergriffen, insbesondere seitens der malischen Armee.
Grundsätzlich dürfte es sich von selbst verstehen, dass keines dieser Vorkommnisse irgendwelche Übergriffe rechtfertigt – weder in die eine noch die andere Richtung. Und das um so mehr, als die Erfahrungen des letztmalig 1994 massiv eskalierten Konflikts bis heute auf allen Seiten Teil des kollektiven Gedächtnisses sind und daher die Gefahr eines ethnisch aufgeladenen Konflikts durchaus gegeben ist – auch wenn viele schwarze MalierInnen ausdrücklich dagegenhalten, beispielsweise der Bürgermeister von Tombuktu, der meinte: „Ich bin Peul, kann aber nicht ohne Araber und Tuareg leben.“ Kurzum: Einseitige Parteinahmen scheinen in diesem Konflikt mehr als unangebracht, passender ist es vielmehr, all jene Akteure zu unterstützen (und wir möchten einmal mehr die These aufstellen, dass sie den Willen der Mehrheit repräsentieren), die sich um Dialog und Interessenausgleich bemühen – womit wir auch bei dem bereits mehrfach erwähnten Projekt des „Weißen Marsches“ gelandet wären, das bereits im November 2012 von der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact initiiert wurde. Denn als Schlüssel zu einem nachhaltigen Frieden betrachten seine ProtagonistInnen die Eröffnung eines doppelten Dialogs: Zunächst mit jenen Teilen der Tuareg-Bevölkerung aus dem Norden, die sich weder durch die islamistische Ansar Dine noch die laizistische MNLA vertreten sehen. Nur so könnten die Islamisten sozial und politisch endgültig marginalisiert und ihre schrittweise Entmachtung erreicht werden, während gleichzeitig ein echter Versöhnungsprozess zwischen Tuareg und malischer Gesellschaft beginnen könnte – wobei explizit darauf hingewiesen sei, dass es diesbezüglich ausgehend von der berühmten „Waffenverbrennung von Timbuktu“ – der „flamme de la paix“ (1996) – bereits wichtige Erfahrungen in der jüngeren Vergangenheit gegeben hat. Insofern richtet sich der Weiße Marsch aber auch an die gesamte Bevölkerung, schlicht aus der Einschätzung heraus, dass es letztlich nur zu einer langfristigen Verständigung kommen kann, wenn alle Gruppen buchstäblich an einem Tisch sitzen, weshalb, so die Quintessenz, zwischen friedensorientiertem Dialog im Norden und den „concertations nationales“ eine Art Wahlverwandtschaft existiert.
Zwei abschließende Überlegungen: a) Auch wenn das Bündnis nicht ohne Brüche ist, sollte dennoch berücksichtigt werden, dass zwischen Frankreich und der MNLA (letztere gleichsam stellvertretend für alle Tuareg) traditionell ein starkes Band besteht, wie der französische Verteidigungsminister nach der Eroberung von Kidal nochmal eigens hervorgehoben hat. Entsprechend hat Frankreich den von der MNLA Anfang 2012 begonnenen Aufstand zwar nicht offiziell gutgeheißen, aber auch nicht explizit verurteilt und schon gar nichts dafür getan, seinen großen Einfluss geltend zu machen und die MNLA von ihren Plänen abzubringen. Vor diesem Hintergrund scheint es auch nicht weiter verwunderlich, dass Frankreich die Eroberung von Kidal ohne die malische Armee angegangen ist und somit Rücksicht auf die Ankündigung der MNLA genommen hat, dass die malische Armee in Kidal nicht willkommen sei (ein durchaus bemerkenswerter Vorgang, wenn man das vom Westen ansonsten durchgehend propagierte Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität als Maßstab heranzieht). Worauf Frankreichs Politik genau abzielt, ist noch unklar, aber viele Leute in Mali befürchten, dass Frankreich mit Hilfe einer für die Tuareg ausgehandelten Autonomie im Norden zum einen die bereits erwähnte Militärbasis errichten will (allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz), zum anderen einen privilegierten Zugriff auf die Bodenschätze anstrebt. b) Die eben erwähnten Übergriffe gegenüber Tuareg und arabischstämmiger Bevölkerung haben in Europa zu einem regelrechten Nachrichtenboom geführt, insbesondere mit immer neuen Berichten von rassistischer oder diskriminierender Abwertung der Tuareg. Was die Morde und Übergriffe betrifft, ist das aus den genannten Gründen absolut unerlässlich. Und doch scheint es reichlich bigott, wenn ausgerechnet Europa sich über einen vermeintlichen oder tatsächlichen Rassismus der Schwarzen gegenüber den Tuareg ereifert, wo doch der in Nordafrika genauso wie unter den 'helleren' (in der Regel höheren) Tuareg-Kasten tief verankerte Rassismus gegenüber Subsahara-AfrikanerInnen eine ebenfalls bittere, bis in die Gegenwart hinein reichende Realität darstellt. Kurzum: Auch diesbezüglich ist Offenheit in allen Richtungen angesagt – oder besser noch die Unterstützung all jener Initiativen, die diese Dichotomien und rassistischen Hierarchisierungen überwinden wollen.
7. Libyen, fehlendes UN-Mandat, eingefrorene Entwicklungshilfe und was sonst noch alles diskutiert werden müsste…
Die vorliegende Stellungnahme ist ohnehin schon lang, deshalb möchten wir auf enzyklopädische Vollständigkeit verzichten – nicht jedoch ohne zumindest benannt zu haben, dass es aus unserer Sicht eigentlich notwendig wäre, sich im Kontext mit der malischen Situation auch mit folgenden Themen ausführlicher zu beschäftigen: Erstens, dass die Eskalation in Mali als unmittelbare Spätfolge der Ereignisse in Libyen (inklusive NATO-Intervention) zu betrachten ist, insbesondere davon, dass die aktuelle Situation in Mali nicht zuletzt der fatalen Freisetzung jener Waffenarsenale geschuldet ist, die Gaddafi unter anderem aufgrund der verhängnisvollen Geschäftemacherei mit europäischen Firmen anhäufen konnte – beispielsweise sind allein im Jahr 2010 Waffen im Wert von 344 Millionen Euro offiziell aus der EU an Libyen exportiert worden. Zweitens, dass Frankreich zwar nachträglich grünes Licht vom Sicherheitsrat erhalten hat, dass die Intervention allerdings nicht vom UN-Mandat gedeckt war (eine hinlänglich bekannte Problematik – so auch in Libyen, wo eine anfängliche Flugverbotszone zu einem buchstäblichem Angriffskrieg mutierte). Drittens, dass Militäroperationen in den letzten Jahren im Rahmen der eingangs erwähnten Eskalationseffekte häufig zu einer Stärkung von Islamisten geführt und somit nicht selten weitere Militärinterventionen gerechtfertigt haben (abgesehen davon, dass dies auch ein maßgebliches Motiv dafür sein dürfte, dass Geheimdienste in den letzten Jahrzehnten überhaupt islamistische Gruppen aufgebaut haben); Viertens, dass das Emirat Katar sowie Saudi-Arabien als wichtige Geldgeber für die Islamisten im Norden Malis fungieren, gleichzeitig aber eng mit dem Westen bzw. der NATO in zentralen geostrategischen Belangen zusammenarbeiten und obendrein nicht mehr wegzudenkende Finanzinvestoren sind – etwa Katar in Frankreich); Fünftens, dass seit dem so genannten Putsch die Entwicklungszusammenarbeit aus den ebenfalls eingangs erwähnten Gründen weitgehend eingestellt wurde und somit die soziale Situation sowohl der allgemeinen Bevölkerung als auch der Flüchtlinge extrem zugespitzt hat. Gewiss, diese Liste ist nicht vollständig, sie markiert aber Felder – jenseits der in unserer Stellungnahme näher beleuchteten Problembereiche – die in den nächsten Wochen und Monaten intensiv diskutiert werden sollten.
Zu guter Letzt: Wir freuen uns über Feedback oder gemeinsame Debatten (in welchem Rahmen auch immer), entsprechend kommen wir auch gerne zu Veranstaltungen und möchten zudem einmal mehr auf unsere Webseite verweisen, die ständig mit aktuellen Artikeln, Kommentaren und Links über den Konflikt in Mali informiert: www.afrique-europe-interact.net
Siehe zu diesem Thema auch die Stellungnahme der Solidar-Werkstatt:
Der Brandstifter als Feuerwehr