Stellungnahme der Solidarwerkstatt Österreich zur Gewalteskalation in Palästina, 11.10.2023


Mit tiefer Betroffenheit hören und sehen wir die Berichte über die Eskalation der Gewalt in der historischen Region Palästina. Unsere Trauer gilt den vielen toten Menschen. Unsere Anteilnahme gilt allen Menschen, deren Seele von Schmerz über den Verlust von Angehörigen und Freund*innen erfüllt ist. Unser Mitgefühl gilt allen, die jetzt um ihr Überleben ringen. Unser Hoffen gilt einem raschen Ende der Gewalt.

Wir rufen alle Menschen, insbesondere auch jene, die in politischer Verantwortung sind, dazu auf, sich für ein rasches Ende der Gewalt einzusetzen. Alle Kräfte, die zu einem Ende der Gewalthandlungen und politischen Verhandlungen beitragen können, sind aufgerufen, ihrer Verantwortung nachzukommen. Mit Vernichtungsrhetorik wird Sicherheit für alle Menschen in der Region Palästina nicht hergestellt werden können. Und auch nicht mit kollektiver Bestrafung. Sicherheit ist unteilbar. Sie wird nur erreicht werden, wenn allen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrer Religion eine Perspektive eröffnet wird, in Würde leben zu können.

Viele Kommentator*innen geben sich überrascht über die jüngste Gewalteskalation. Wir müssen darauf hinweisen, dass aufmerksame, einfühlsame Beobachter*innen der Entwicklung schon vor Jahrzehnten eindringlich darauf aufmerksam gemacht haben, dass Ereignisse, wie wir sie jetzt erfahren, möglich sind, wenn die Lebensrechte Menschen arabischer Herkunft in Palästina dauerhaft nicht respektiert werden. Kein Mensch wird als Terrorist geboren. Es sind die unzähligen traumatischen Gewalt- und Unterdrückungserfahrungen, die dazu führen, dass eine so große Zahl junger Menschen den Irrweg des Terrorismus beschreitet. Den Menschen in Palästina wurden über die Jahrzehnte viele Versprechungen gemacht. Kaum welche davon wurden eingehalten. Im Gegenteil: Gerade in den letzten Jahren verdichtete sich der Eindruck, dass nur noch machtpolitischer Zynismus regiert. Sicherheit für die Menschen in Israel könne einfach über überlegene militärische Macht und eine hypertrophe Sicherheitstechnologie hergestellt werden. Rücksichtnahme auf oder gar einen Dialog mit den Mitmenschen arabischer Herkunft brauche es dafür nicht. Deren Rechte könnten nach Belieben eingeschränkt werden. Tausende Male wurde die Erfahrung gemacht, dass ein Kind arabischer Herkunft nichts oder nur einen Bruchteil des Werts eines anderen Kindes hat. Das war und ist die Erfahrung der Menschen in Gaza, im Westjordanland, aber auch in Israel selbst. Es ist Zeit endlich umzukehren: Sicherheit gibt es nur gemeinsam.

Die Solidarwerkstatt macht keinen Unterschied bei Opfern der Gewalt. Für uns ist jedes Menschenleben gleich viel wert. Freilich verstehen wir die Verzweiflung, die erwächst, wenn Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Leid einer Seite über Jahrzehnte völlig unbeachtet und ungehört bleiben; wenn noch das Wenige an Beachtung in den letzten Jahren selbst droht zu entschwinden. Wir verstehen die Gewaltbereitschaft, die aus derartiger Verzweiflung entspringt. Wir verstehen den Drang, der anderen Seite zu vermitteln, dass auch sie verletzlich bleibt. Terror und Massaker an der Zivilbevölkerung kann das dennoch nie rechtfertigen. Auf Grundlage einer derartigen politischen Strategie gibt es keine Freiheit für Palästina. Terror kann Staaten destabilisieren, aber Freiheit nicht durchsetzen. Was allenfalls erreicht werden könnte, wäre die Errichtung eines neuerlichen Protektorats unter Patronanz der Großmächte, gewissermaßen ein bosnisches Szenario ohne Aussicht auf ein Ende. Die so genannte Zwei-Staaten Lösung wäre so, sollte sie jemals realisiert werden, nichts anderes als die Realisierung eines derartigen Szenarios. Freiheit für Palästina bedeutet die Entwicklung einer politischen Strategie, die ein Leben in Freiheit und Würde für alle dort lebenden Menschen ermöglicht.

Österreich hatte über Jahrzehnte politische Repräsentant*innen, die diese Zusammenhänge verstanden. Verstand und Anteilnahme sind jedoch in den letzten Jahren weitgehend entschwunden. Terrorakte sind keine neue Erscheinung. Sie gab es auch schon vor Jahrzehnten. Die Gründung des Staates Israel auf dem Gebiet Palästinas selbst war mit Terror begleitet. Trotz aller Abscheu gegenüber derartigen Gewalttaten, darf sich die politische Führung eines Landes das Verständnis und die Sicht auf die dahinterliegenden Wurzeln nicht nehmen lassen. Seit einigen Jahren hat sich stumpfsinniger, enger Zynismus durchgesetzt. Fasziniert von der Stärke des israelischen Sicherheitsapparats, seiner Fähigkeit scheinbar Sicherheit ohne Rücksicht auf die arabischen Mitmenschen durchzusetzen, sind eine Reihe offizieller Vertreter*innen Österreichs dazu übergegangen, dem Apartheidstaat Israel die bedingungslose Bewunderung auszusprechen. Für die arabischen Menschen in Palästina empfand man keine Verantwortung mehr. Die österreichische Bundesregierung ist deshalb für die derzeitige Gewalteskalation mitverantwortlich. Es wäre in ihrer Verantwortung gewesen, unablässig auf die Fragilität einer Sicherheit hinzuweisen, die einen großen Teil der Bevölkerung, wenn nicht die Mehrheit, ausschließt und der Willkür unterwirft.

Es ist eine besondere Perfidie, dass die bedingungslose Kumpanei mit Unterdrückung und Apartheit mit der besonderen Verantwortung Österreichs gegenüber jüdischen Menschen aufgrund seiner Verstrickung in die nationalsozialistischen Verbrechen begründet wird. Das Territorium, auf dem der Staat Österreich Jüdinnen und Juden Sicherheit garantieren kann, ist nicht Palästina sondern das Territorium Österreichs. Hier werden jedoch rechtsextreme Antisemiten in Regierungsämter gehievt. Hinter der Beschwörung der bedingungslosen Solidarität mit dem Staat Israel verbirgt sich letztlich Gleichgültigkeit gegenüber Leib und Leben von Jüdinnen und Juden. Es ist eine Solidarität, die Täter entlastet, können sie doch aus sicherer Distanz bilanzieren, wie sich ihre Opfer selbst auf alle Zeit belasten.

Gleichzeitig wird versucht, Solidarität mit den Menschen in Palästina, unabhängig von ihrer Herkunft als antisemitisch zu stigmatisieren und zu kriminalisieren. Dem wollen wir mit aller Entschiedenheit entgegentreten.

Wir fordern deshalb die Bundesregierung und den Nationalrat Österreichs auf, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden. Anstatt Floskeln abzusondern, muss Österreich auf Grundlage der immerwährenden Neutralität eine aktive Rolle bei der Verwirklichung einer Perspektive des Friedens und der Sicherheit in Palästina, auf der Grundlage der Lebensrechte aller dort lebenden Menschen einnehmen.

(11.10.2023)

Hinweis:
Solidarwerkstatt-Dossier zum Krieg in Palästina
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