Überlegungen und Forderungen der Solidarwerkstatt Österreich zur derzeitigen Eskalation in der Ukraine.

  1. Der Einmarsch russischer Truppen in die Volksrepubliken Luhansk und Donezk bzw. nun der Angriff auf die Ukraine sind ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Wir halten das für brandgefährlich. Wir rufen die politische Führung der Russischen Föderation auf, den Angriff sofort zu stoppen, die Truppen wieder zurückzuziehen, zu deeskalieren und wieder den Dialog zu suchen. Das Völkerrecht und das Gewaltverbot der Vereinten Nationen müssen respektiert werden.

  2. Die Reaktion der westlichen Großmächte ist voller Heuchelei und doppelter Standards, wenn sie jetzt den Bruch des Völkerrechts durch Russland beklagen. USA und EU haben in den letzten Jahrzehnten das Völkerrecht oft mit Füßen getreten, und aus geopolitischen und geoökonomischen Gründen mörderische Kriege vom Zaun gebrochen (z.B. Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen). Mit Hilfe von gewaltbereiten Jihadisten wurde in Syrien eine Regime-change versucht, in der Ukraine ist er 2014 unter Zuhilfenahme eines rechtsextremen Mobs gelungen. Sie überschütten Staaten mit Waffen, die völkerrechtswidrige Kriege führen (z.B. Saudia-Arabien) bzw. fremde Territorien völkerrechtswidrig besetzen (z.B. Israel). Die Kriege der westlichen Großmächte haben in den letzten Jahrzehnten eine beispiellose Blutspur mit Millionen von Toten hinterlassen und Länder nachhaltig devastiert.

  3. Auch wenn wir den Krieg Russlands kritisieren und eine Umkehr fordern, so darf im Konflikt um die Ukraine das Gesamtbild nicht aus dem Auge verloren werden:

    1. Nicht Russland breitet sich Richtung Westen aus, sondern NATO und EU Richtung Osten. In mittlerweile fünf Erweiterungswellen drängt das westliche Militärbündnis immer weiter zur russischen Grenze vor. Die westlichen Großmächte haben in den letzten beiden Jahrzehnten die Versprechungen gegenüber der damaligen Sowjetunion bei der deutschen Wiedervereinigung, „keinen Schritt über die Elbe“ zu gehen, skrupellos gebrochen und russischen Sicherheitsinteressen ignoriert (1). Wen wundert es, dass die russische Führung das Vertrauen in westliche Versprechungen verloren hat.

    2. Die Ukraine hat sich 1991 unabhängig erklärt. Bis 2014 ist es ihr einigermaßen gelungen, zwischen West und Ost zu balancieren. Diese sog. „multivektorielle Politik“ wurde 2014 durch den von USA und EU angeheizten Staatsstreich in Kiew zerstört. Mithilfe von nationalistischen und neonazistischen Gruppierungen wurde die damalige Regierung Janukowitsch gestürzt, um das EU-Ukraine-Assoziationsabkommen durchzuboxen. Dieses Abkommen öffnet die Ukraine für neoliberalen Freihandel und den Ausverkauf des Landes an westliche Konzerne. Darüber hinaus bindet es die Ukraine auch militärisch an die EU an.

    3. Dieser prowestliche Staatsstreich hat die Ukraine politisch gespalten, sie wirtschaftlich schwer geschädigt und letztlich auch den blutigen Bürgerkrieg im Osten des Landes nach sich gezogen. Vergessen wir nicht: Den Abspaltungen der Volksrepubliken gingen brutale Übergriffe rechtsextremer Rollkommandos gegen Menschen voraus, die der Putschregierung in Kiew kritisch gegenüberstanden. So wurde im Jahr 2014 Dutzende DemonstrantInnen in Odessa bei lebendigem Leib von einem neonazistischen Mob verbrannt – unter dem Schutzmantel offizieller Stellen. Das Minsker Abkommen, das dem Bürgerkrieg ein Ende setzen und die Einheit des Landes bewahren sollte, scheiterte nicht zuletzt an der Weigerung der ukrainischen Führung, zentrale Punkte des Abkommens umzusetzen, z.B. die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die diesen Republiken einen autonomen Status im Rahmen der Ukraine sichert.

    4. Seit 2014 bildet die EU im Rahmen der „Polizeimission EUBAM“ Streitkräfte des ukrainischen Innenministeriums aus. Indirekt hat die EU damit auch in den Bürgerkrieg eingegriffen, denn dem Innenministerium untersteht unter anderem die Nationalgarde, die Angriffe auf die Aufständischen im Osten des Landes durchführt. Zahlreiche dieser Einheiten sind rechtsextrem, wie z.B. das Asow-Bataillon, dessen Kommandant Andrij Biletzki den Kampf gegen die Aufständischen im Osten als „Kreuzzug für die weiße Rasse … gegen die von Semiten geführten Untermenschen“sieht (3). Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat vor Kurzem angekündigt, in Zukunft die Ausbildung ukrainischer Militärs direkt aus der neue EU-Kriegskasse („EU-Friedensfazilität“) zu finanzieren.

    5. Westliche Mächte beliefern die Ukraine massiv mit Waffen. Die ukrainischen Militärausgaben haben sich seit 2014 vervielfacht. Immer wieder finden gemeinsame Militärmanöver von NATO- und ukrainischen Streitkräften vor der Haustüre Russlands statt. Die NATO hat 2018 der Ukraine den Status einen Beitrittskandidaten verliehen. Im Februar 2019 schrieb die Ukraine das Ziel des NATO-Beitritts in die Verfassung. Das stellt eine dramatische Bedrohung russischer Sicherheitsinteressen dar: Denn in der Ukraine stationierte NATO-(Atom-)Raketen könnten strategische Ziele in Russland wie z.B. Moskau innerhalb von wenigen Minuten erreichen. Bereits 2015 provozierte das ukrainische Parlament Russland durch einen Beschluss, die Stationierung von westlichen Atomwaffen auf ihrem Territorium zuzulassen.

    6. Bei der Frage, wer bedroht wen, müssen auch die militärischen Kräfteverhältnisse in Erinnerung gerufen werden. Die NATO-Staaten geben derzeit rd. 16-Mal soviel für Militär und Rüstung aus wie Russland. Auch die Entwicklung in den letzten Jahren ist frappant: Zwischen 2014 und 2020 sind die Militärausgaben in der EU real um 16,6% und in den USA um 14,9% gestiegen, in Russland dagegen um 16,5% gesunken.
  4. Die US-Administrationen der letzten Jahrzehnte haben die Politik der NATO-Osterweiterung massiv vorangetrieben. Trotzdem greift das von einigen Seiten derzeit aufgewärme Bild, die „guten“ Europäern seien von den „bösen“ Amis in die Konfrontation mit Russland getrieben worden, nicht nur zu kurz. Es ist schlichtweg falsch. Auslöser für den prowestlichen Staatsstreich war das neoliberale Assoziationsabkommen der Europäischen Union mit der Ukraine. Nicht nur US-amerikanische, auch die EU, insbesondere die deutsche Politik kollaborierte beim Staatsstreich in Kiew mit rechtsextremen Kräften, um das Land an den Westen anzubinden. Gerade die derzeitige Eskalation hilft den EU-Machteliten, in Bälde zu einem weiteren Sprung der Militarisierung anzusetzen: Beim EU-Gipfel im März 2022 soll der sog. „strategische Kompass“ beschlossen werden. Ziel ist – so ist bisher durchgesickert - der beispiellose Anstieg der militärischen Kapazitäten der EU“ (3), als erster Schritt die Einrichtung einer stehenden EU-Eingreiftruppe mit globalem Einsatzradius bis 2025. Wie kann man milliardenschwere Aufrüstungsprogramme und neue Kriegstruppen den Menschen erklären, deren Sorgen viel eher zukunftssichere Arbeitsplätze, soziale Absicherung und Klimaschutz sind? Eine Eskalation des Konflikts in der Ukraine und die Beschwörung des neuen, alten Feindbilds Russland helfen Brüssel, Berlin und Paris, diese Militarisierung vor den Bevölkerungen zu rechtfertigen.

  5. Aufgrund dieser Gegebenheiten und Überlegungen kommt die Solidarwerkstatt Österreich zu folgenden Schlussfolgerungen:

    1. Raus aus der Eskalationsspirale! Wir fordern alle Seiten auf, auf die Anwendung oder Androhung militärischer Gewalt zu verzichten und Schritte zur Entspannung und Abrüstung einzuleiten. Der Stopp des russischen Angriffs und der Rückzug der Truppen gehört genauso dazu wie der Stopp der Aufrüstung und militärischen Unterstützung der Ukraine durch westliche Großmächte. Das Völkerrecht und insbesondere das Gewaltverbot der Vereinten Nationen müssen respektiert werden.

    2. Wir brauchen eine neue, starke österreichische Friedensbewegung. Es gilt, die Außenpolitik der österreichischen Bundesregierung wieder auf die Fundamente aktiver Neutralitätspolitik zu verpflichten. Die Haltung der Bundesregierung, dass die Beteiligung an Sanktionen, an militärischen Abenteuern, mit der Neutralität vereinbar seien, sofern sie von der EU legitimiert sind, hat uns auf eine schiefe Ebene geführt. Neutralität wurde so zu einem Feiertagsbekenntnis, das sie für ernsthafte Friedenspolitik völlig unglaubwürdig werden lässt. Österreich muss die Beistandsverpflichtung im EU-Vertrag widerrufen und sich aus der verteidigungspolitischen und rüstungstechnologischen Kooperation in der EU zurückziehen (EU-Battlegroups, EU-SSZ, EU-Verteidigungsagentur usw.). Österreich muss sich dem Sanktionsregime der EU widersetzen.

    3. Wir fordern von der österreichischen Bundesregierung, einen neuen Friedensprozess für ein Gemeinsames Haus Europa unter Einbeziehung der USA und Russlands anzustoßen. Die Konferenz sollte von der Haltung getragen werden, dass Sicherheit ein gemeinsames Gut ist, und nicht auf Kosten anderer hergestellt werden kann. Bei dieser Konferenz sollten alle regionalen Konflikte, die mit der Entwicklung seit den 1990er Jahren entstanden sind, auf den Tisch gelegt werden. Abrüstung und Entspannung müssen eine der zentralen Agenden einer derartigen Konferenz sein. Es geht darum, die Reset-Taste zu drücken. Es gilt dort anzuknüpfen, was in den 1980er Jahren Michail Gorbatschow mit der Formel vom „Gemeinsamen Haus Europa“ charakterisiert hat.

Vorstand der Solidarwerkstatt Österreich, 24.2.2022

Anmerkungen:

  1. Die Kommentare in westlichen Medien, es habe nie ein derartiges Versprechen des Westen gegeben, sind falsch. Das belegen Dokumente, die der US-amerikanische Politikwissenschaftler Joshua Shifrinson in einem ehemals als geheim eingestufte Dokument im britischen Nationalarchiv gefunden hat. Es handelt von einem Treffen der Politischen Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands in Bonn am 6. März 1991. Thema war die Sicherheit Polens und anderer osteuropäischer Staaten. Ein Politischer Direktor leitet die Politische Abteilung im Außenministerium und gilt als engster Berater des Außenministers. Bonns Vertreter Jürgen Chrobog erklärte damals laut Vermerk: „Wir haben in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine Nato-Mitgliedschaft anbieten.“ Auch Briten, Franzosen und Amerikaner lehnten eine Nato-Mitgliedschaft der Osteuropäer ab. US-Vertreter Raymond Seitz sagte: „Wir haben gegenüber der Sowjetunion klargemacht – bei Zwei-plus-Vier- wie auch anderen Gesprächen –, dass wir keinen Vorteil aus dem Rückzug sowjetischer Truppen aus Osteuropa ziehen werden.“ (zit nach „Die Welt“, 18.2.2022), https://www.welt.de/politik/ausland/article236986765/Nato-Osterweiterung-Archivfund-bestaetigt-Sicht-der-Russen.html)

  2. https://lowerclassmag.com/2014/08/26/rassenkrieg-fuer-europas-werte/

  3. El Pais, Bernando de Miguel, "Die EU plant, im 2023 die ersten Militärübungen ihrer Geschichte durchzuführen", 14.11.2021