Frage: In der Nacht zum Dienstag hat die NATO ihre bislang schwersten Luftangriffe auf die libysche Hauptstadt Tripolis geflogen. Sie sind soeben von dort zurückgekehrt– werden wirklich nur militärische Ziele attackiert, wie es die NATO behauptet?
Fulvio Grimaldi: Das ist von vorne bis hinten gelogen, nach meiner Beobachtung werden vorwiegend zivile Ziele bombardiert. Ich habe zerstörte Wohnungen gesehen, Krankenhäuser und Schulen. Über die Zahl der Todesopfer habe ich keinen Überblick, nach Angriffen hört man, daß hier vier oder dort sieben Menschen umgekommen sind. Vor wenigen Tagen noch wurden beim Beschuß eines Krankenhauses zwei Ärzte getötet. Und außerhalb von Tripolis kamen vor wenigen Tagen bei einem Angriff 40 Imame um – das hat auch der katholische Bischof von Tripolis, Giovanni Martinelli, bestätigt.
Frage: Wie ist die Lage der Verletzten? Können sie noch adäquat versorgt werden?
Fulvio Grimaldi: Sie werden nach meiner Beobachtung sehr liebevoll behandelt, darunter sind auch viele Frauen und Kinder. Die medizinische Versorgung ist nach meiner Beobachtung noch sehr gut.
Frage: Vor wenigen Tagen meldete die NATO die Versenkung von acht Schiffen der libyschen Marine. Sie waren zu diesem Zeitpunkt in Tripolis – was ist wirklich geschehen?
Fulvio Grimaldi: Nach dem Angriff bin ich von meinem Hotel sofort zum Hafen gefahren, wo ich gleich ein brennendes Schiff sah. Die NATO hatte zwar behauptet, die attackierten Schiffe seien daran gehindert worden, den von Rebellen gehaltenen Ort Misurata anzugreifen – was jedoch eine komplette Lüge ist. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, daß eines dieser Schiffe ein noch nicht entladener Frachter war, der Lebensmittel nach Tripolis bringen sollte. Dann habe ich noch zwei zerstörte Küstenwachboote gesehen, die nach Angaben von Einheimischen schon seit Monaten im Hafen lagen und in dieser Zeit nicht einmal bewegt worden waren. Ich selbst kann das für den vergangenen Monat bestätigen. Die restlichen Schiffe habe ich nicht gesehen – es steht für mich aber fest, daß mindestens drei dieser NATO-Ziele alles andere als Kriegsschiffe waren.
Frage: Wie ist die Versorgungssituation in Tripolis?
Fulvio Grimaldi: Das öffentliche Leben wird immer mehr in Mitleidenschaft gezogen, weil es vor allem an Kraftstoff mangelt – die Raffinerien des Landes stehen nämlich hauptsächlich in dem Gebiet, in dem die Rebellen das Sagen haben. Vor den Tankstellen warten kilometerlange Autoschlangen auf ein paar Tropfen Benzin, der öffentliche Verkehr bricht allmählich zusammen. Kinder kommen nicht mehr zur Schule, Verletzte und andere Kranke können nicht mehr in die Kliniken gefahren werden, die Menschen kommen nicht mehr zu ihren Arbeitsstellen. Das Land wird jeden Tag ein wenig mehr gelähmt.
Frage: Gibt es noch genügend Lebensmittel?
Fulvio Grimaldi: Das klappt noch ganz gut – allerdings kommt auf dem Seeweg nichts mehr herein, die in Frage kommenden Häfen werden blockiert. Über Land kommt lediglich aus Tunesien ein wenig Nachschub. Tripolis wird zur Zeit vor allem mit den landwirtschaftlichen Erzeugnissen des Umlandes versorgt. Ein Notstand besteht zur Zeit noch nicht – es kann aber nach meiner Einschätzung nicht mehr lange dauern.
Frage: Wie kann sich die Zivilbevölkerung vor den Bombenangriffen schützen?
Fulvio Grimaldi: Luftschutzsirenen, wie sie die älteren Europäer aus dem Zweiten Weltkrieg kennen, gibt es nicht, die Angriffe kommen also überraschend. Soweit es möglich ist, versuchen sich die Menschen in Tripolis rechtzeitig in Kellern in Sicherheit zu bringen.
Frage: Wie reagieren die Menschen denn auf die Angriffe? Sind sie eingeschüchtert, gehen sie auf Distanz zu Staatschef Muammar Al-Ghaddafi?
Fulvio Grimaldi: Ganz im Gegenteil. Nach Bombenangriffen sind die Straßen sofort voll von empörten Tripolitanern, die grüne Fahnen schwenken und Sprüche zur Unterstützung Ghaddafis skandieren. Selbst vor dem wichtigsten Regierungsgebäude, das wiederholt bombardiert oder mit Raketen beschossen wurde, sammeln sich immer wieder Tausende Demonstranten mit grünen Fahnen. Von derartigen Bombenangriffen lassen sich die Menschen nicht einschüchtern – diese Beobachtung habe ich auch im Irak und in Serbien gemacht.
aus: junge Welt, 25.5.2011