Der aktuelle Krieg begann am 7. Oktober 2023 mit dem Ausbruch der Hamas aus dem Ghetto Gaza. Dabei wurden entsetzliche Verbrechen an Zivilisten begangen. So legitim und legal nach Völkerrecht der Widerstand der PalästinenserInnen gegen die Besatzungsmacht ist, auch der militärische, Massaker an der Zivilbevölkerung können dadurch nie gerechtfertigt werden. Die Antwort Israels auf das Massaker am 7. Oktober ist ein mittlerweile einjähriger Krieg, der die Ausmaße eines Genozids angenommen hat.


Im Krieg gegen Gaza hat die Israelische Armee über 41.000 PalästinenserInnen getötet, darunter die Mehrzahl Frauen und Kindern. Über 10.000 werden noch unter dem Schutt vermisst. Fast 97.000 Verwundete, darunter über 22.000 mit bleibenden Schäden, wie Amputation von Gliedmaßen, Hirn- und Wirbelsäulenschäden (sh. Tabelle). Gezielt wird das Gesundheits- und Bildungswesen attackiert. Fast 1.000 Gesundheitsarbeiter, mehr als 10.000 SchülerInnen und über 400 LehrerInnen sind ums Leben gekommen. 87 Prozent der Schulen sind ganz oder erheblich zerstört, 31 von 36 Spitälern sind zerstört oder beschädigt. Hunger und Seuchen breiten sich aus. Bereits im April 2024 waren 65 Prozent der Häuser in Gaza zerstört, 75 Prozent der Bevölkerung vertrieben.

Langsam kommt immer mehr das erschreckende Ausmaß des Krieges an die Öffentlichkeit. Laut der konservativen Schätzung der renommierten Ärztejournal „The Lancet“ von Juli 2024 kann bei dieser Art der Kriegsführung, die ohne jede Rücksicht auf humanitäre Infrastruktur geführt wird, selbst bei sofortiger Beendigung des Krieges von „186.000 Toten oder darüber“ (inkl. der Folgetoten) ausgegangen werden. Das sind fast 8 Prozent der Bevölkerung Gazas. Devi Sridhar, Professor für globale öffentliche Gesundheit an der Universität von Edinburgh, schätzt, dass einschließlich der "indirekten Toten" - durch Ausbreitung von Krankheiten und Unterernährung - bis Ende dieses Jahres 335.500 Menschen in Gaza zu Tode kommen, wenn der Krieg nicht sofort beendet wird.

Genozid – durch nichts zu rechtfertigen

Ein Verbrechen rechtfertigt kein anderes Verbrechen. Schon gar nicht das des Völkermords. So heißt es in der Anklageschrift, die Südafrika beim Internationalen Gerichtshof gegen Israel eingebracht hat: „Südafrika verurteilt unmissverständlich alle Verstöße gegen das Völkerrecht durch alle Parteien, einschließlich der direkten Angriffe auf israelische Zivilisten und andere Staatsangehörige sowie Geiselnahmen durch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen. Kein bewaffneter Angriff auf das Hoheitsgebiet eines Staates, wie schwerwiegend er auch sein mag - selbst ein Angriff, bei dem Gräueltaten begangen werden -, kann jedoch eine mögliche Rechtfertigung oder Verteidigung für Verstöße gegen das Übereinkommen von 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes ("Völkermordkonvention" oder "Konvention") darstellen, sei es aus rechtlichen oder moralischen Gründen. Die Handlungen und Unterlassungen Israels, die von Südafrika beklagt werden, haben völkermörderischen Charakter, weil sie darauf abzielen, die Vernichtung eines wesentlichen Teils der palästinensischen nationalen, rassischen und ethnischen Gruppe, d.h. des Teils der palästinensischen Gruppe im Gaza-Streifen ("Palästinenser in Gaza").“ (1)

Die Verweigerung der Zustimmung der österreichischen Regierung zu UN-Resolutionen, die einen sofortigen humanitären Waffenstillstand fordern, der Abschluss des Verteidigungsministeriums von Rüstungsgeschäften mit israelischen Unternehmen, die diesen Genozid befeuern, ist selbst ein ungeheures Verbrechen.

„Torschlusspanik“

Das Ausmaß der israelischen Gewalt legt nahe, dass das rechtsextreme Establishment in Israel das Massaker am 7. Oktober des Vorjahres als Vorwand nimmt, eine lange gehegte Agenda umzusetzen: die völlige ethnische Säuberung Palästinas. Die Regierung Netanyahu treibt dabei eine Art „Torschlusspanik“. Sie wissen, dass die Zwei-Staatslösung durch die eigene Siedlungspolitik zerstört worden ist; 690.000 jüdische Siedler haben sich im Westjordanland bzw. Ostjerusalem gewaltsam Land und Lebensraum angeeignet; von einem Palästina, das ohnehin nur 22 Prozent des historischen Territoriums ausmacht, würde ein Flickenteppich von nicht lebensfähigen Bantustans übrigbleiben. Der derzeitigen Status – eine Einstaatenlösung auf Apartheidgrundlage, wo den Palästinensern in den besetzten Gebieten fundamentale Rechte vorenthalten werden, kann aber im 21. Jahrhundert auf Dauer nicht bestehen. Südafrika hat gezeigt, dass Apartheidregime letztendlich auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. Auch in Palästina lässt sich der Kampf für gleiche Rechte für alle, one (wo)man - one vote, nicht dauerhaft aufhalten. Um aber einem Befreiungskampf wie in Südafrika zuvorzukommen, tritt der immer weiter nach rechts abdriftende Zionismus die Flucht nach vorne an: die Vertreibung der Urbevölkerung, durch wahllose Ermordung, Vernichtung der Lebensgrundlagen und Landraub.

Diese Flucht nach vorne treibt immer weiter in die Eskalation. Auch im Westjordanland sind schon 693 PalästinenserInnen Opfer des Siedlermobs geworden, die Israelische Armee lässt sie wüten, unterstützt sie dabei. Nun wird gezielt der Krieg auf den Libanon ausgeweitet. Sicherlich hat es auch von dort Angriffe auf Israel gegeben. Die Hisbollah hat aber gesagt, diese sofort zu beenden, wenn Israel seinen Krieg gegen Gaza stoppt. Auch sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache, von wem die Eskalation ausgeht: Rund 80 Prozent der Angriff seit dem 7. Oktober 2023 gehen von Israel aus (siehe Grafik), 2.000 Todesopfer auf libanesischer Seite stehen 42 auf Israel gegenüber (siehe Tabelle).

Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass Israel diesen Krieg nicht gewinnen kann. Politisch hat es ihn längst verloren, militärisch befindet es sich in der Sackgasse der immer weiteren Eskalation. Was kommt als nächstes? Krieg gegen Iran? Ein Krieg, der den gesamten Nahen Osten erfasst?

Umkehr: Waffenstillstand - "Republik Haifa"

Wir müssen eine Umkehr erreichen. Den Krieg werden letztlich alle verlieren, den Frieden können viele gewinnen, Israelis wie Palästinenser. Der erste Schritt muss ein Waffenstillstand sein – sofort und dauerhaft. Der Weg zum Frieden ist mühsam und langwierig sein, aber er kann gelingen, wenn er getragen ist von dem Gedanken eines Staates/einer Föderation für zwei Völker, aufbauend auf Gleichheit, sozialen Emanzipation und Selbstbestimmung. Diese „Republik Haifa“ könnte schneller auf die Tagesordnung drängen, als ihr Vordenker – Omri Boehm – das für möglich hält. Weil es schlicht keine Alternative dazu gibt, außer das Versinken in Apartheid, Landraub und Vertreibung.

Ein solcher Weg nach vorne braucht freilich Bündnispartner auf beiden Seiten. Durchbrochen werden muss dabei auch die Symbiose zwischen rechtsextremen israelischen Machteliten und dschihadistischen Kräften in Palästina, die in gewisser Weise voneinander abhängen, um die Friedensbereiten auf beiden Seiten in Schach zu halten.

Was können wir dafür beitragen? Gar nicht so wenig. Denn der israelische Machtapparat und mit ihm die Ideologie der „weißen Überlegenheit“ kann sich ohne westliche Waffen, allen voran aus den USA, zunehmend mehr aus der EU, nicht behaupten. Hier sind wir gefordert.

Gerald Oberansmayr
(Oktober 2024)

Tabelle Opfer Krieg Palstina 23 24 neu

Grafik Libanon

Anmerkungen:

(1) https://www.sozonline.de/wp-content/uploads/2024/01/SA-Isr-vor-dem-IGH-de.pdf