ImageNeutralität ist der wichtigste friedensbewegte Beitrag, den wir in Österreich der Welt schenken können - mit diesen Worten leitete Boris Lechthaler (Solidarwerkstatt) seine Rede, anlässlich einer Veranstaltung zum Weltfriedenstag am  26. September 2014, in Innsbruck ein. Wir bringen hier seine vollständige Rede.

 

I

Wir sind Zeitzeugen einer beängstigenden Entwicklung.100 Jahre nach Beginn des ersten Weltkriegs, 75 Jahre nach Beginn des II. Weltkriegs, ist die Zahl bewaffneter Konflikte unüberschaubar geworden. Als beunruhigend erleben wir dabei zunächst nicht unsere unmittelbare Betroffenheit oder eine objektive Beurteilung der Zerstörung, sondern das Erlebnis der Orientierungslosigkeit der Akteure. Was ist schuld?

Die schnell zurechtgezimmerten Erklärungszusammenhänge leisten bloß einen Beitrag zur Rechtfertigung der Gewalt als übliche Vernunft der Verhältnisse.
Der Zipfel einer Erklärung, die eine Handlungsoption zur Überwindung der Gewaltförmigkeit gesellschaftlicher Beziehungen begründet, gerät nicht in Griffweite.

Wer ist schuld?

Freilich fragen wir nicht nur nach dem kausalen Zuammenhang, sondern auch nach der moralischen Schuld, nach Name und Adresse.
Eine Antwort darauf können wir nur finden,wenn die Handlungsalternativen und Handlungsmöglichkeiten der Akteure in die Betrachtung miteinbezogen werden.
Wir müssen uns selbst als Akteure in einem Möglichkeitsraum betrachten, um urteilsfähig in Bezug auf die moralische Schuld anderer Akteure zu werden.
Die Frage nach der Schuld des Anderen wird hohl, wenn sie nicht das eigene Tun zur Disposition stellt
Für die vielen gewaltförmigen Konflikte gibt es eine jeweils spezifische Geschichte.
Aber bereits die Erfahrung, dass wir sie in unserer Wahrnehmung offenkundig gewichten, zeigt, dass wir mit ihnen unterschiedlich verbunden sind.
Wenn wir etwas Verbindendes in diesen Eskalationen entdecken, so tun wir dies als mögliche auf etwas Gemeinsames gerichtete Akteure.
Nur über unsere Selbstwahrnehmung als Akteure sind wir mit den Gewalt Unterworfenen und Gewalt Ausübenden an den unzähligen Schauplätzen verbunden.
Aus der Haltung des Handelnden heraus ist die Frage nach dem Was mit dem Wer ist schuld verknüpfbar und wird die Überwindung der Gewalt zur konkreten Utopie.
Nur soweit wir uns selbst als Gewalt Unterworfene und Gewalt Ausübende betrachten, werden uns die Handlungsmöglichkeiten des Anderen gewärtig.

II.

Aus dieser Perspektive erkennen wir einen seit mehr als drei Jahrzehnten
laufenden Prozess, in dem wir gleichermaßen Akteure wie Unterworfene sind.
Mag die scheinbare Unaufhaltsamkeit, mit der er voranschreitet,
den Eindruck einer Naturwüchsigkeit, die sich da entgegen aller Hindernisse Bahn bricht, vermitteln,
in ihn sind gesellschaftliche Akteure untrennbar eingewoben.
Es ist damit immer ein gesellschaftlicher Machtprozess und nie bloß ein Naturprozess.

Der machtpolitische Zusammenhang ist auf Gewinnung und Sicherung von Vorherrschaft gerichtet.
Die neoliberale Konterrevolution will die demokratischen und sozialen Rechte der Menschen zurückdrängen, die diese mit der Durchsetzung staatlicher Souveräntitätsrechte durchsetzen konnten.
Wenn heute einige tausend bewaffnete Menschen einen Staat in seinen Grundfesten erschüttern können, so zeigt dies nur bedingt die Stärke dieser bewaffneten Formationen,
vielmehr aber die Schwäche vieler Staaten,
einer durch den Hegemonialprozess generierten Schwäche.
Globalisierung, der euphemistische terminus technicus für den sozialreaktionären Kampf um Vorherrschaft,mit dem wir konfrontiert sind, drängt eben nicht generell staatliches Handeln an den Rand der Ereignisse.

Sie schwächt die Staaten schwacher Gesellschaften und beraubt diese Menschen damit des letzten Mittels, sich gegen die bedingungslose Unterordnung zur Wehr zu setzen.
Umgekehrt trennt die neoliberale Konterrevolution das staatliche Handeln der vorherrschenden Eliten
von den Interessen und Haltungen, der sie bevölkernden Menschen.
Mächtige Staaten werden nach innen autoritär und asozial.
Wir würden jedoch nicht auf einer wirklichen Welt,
in einem wirklichen gesellschaftlichen Prozess leben,
würde es nur diese zwei Pole geben.

III.

Wir leben nicht in einer neuen Weltordnung.
Das Chaos mit dem wir konfrontiert sind, ist jedoch nicht Ausdruck der Abwesenheit jeglicher Ordnung.
Es ist Ausdruck des Strebens nach einer Ordnung, die dennoch ständig Gefahr läuft aus der Bahn zu geraten.

Diese angestrebte Ordnung missachtet die Körperlichkeit des Menschen.
Sie verhöhnt die menschliche Sehnsucht nach Freiheit und Geborgenheit.
Gewalt und Zwang werden zu ihren Instrumenten.
Ihr Ergebnis ist Unordnung.

Vielleicht lässt sich diese Unordnung
entlang einiger Phänomene fassen:

1. Bereits Hochzinspolitik und Aufrüstung der 1980'er Jahre brachte viele Staaten in eine Bedrängnis,
aus der sie existenzielle Bedürfnisse ihrer Menschen nicht mehr dienen konnten.
Einige schwache Staaten sind zusammengebrochen.
Dieser Prozess ist ungebrochen und frisst sich in die europäische Peripherie.
Einige, die sich der Unterordnung widersetzten, sind militärisch zerstört worden.
In den meisten Fällen ist es nicht gelungen, lokale andockbare Eliten hervorzubringen,
die stark genug wären, um in Subordination tätig zu werden

2. Wenn sich lokale Eliten behaupten können,
dann nur, wenn es ihnen gelingt sich zumindest partiell zu widersetzen
und eigene Interessen zu artikulieren und durchzusetzen.

3. Damit zusammenhängend gerät das ganze imperialistische System
enger und fernerer Verbündeter in Unordnung.
Nicht nur vormals verbündete lokale Milizen beginnen Kriegszüge auf eigene Rechnung.
Auch alte und neue regionale Mächte werden zu Abenteurern.

4. Die Fähigkeit rund um den Globus militärisch intervenieren zu können, bedeutet nicht die Fähigkeit global zu herrschen.
Sosehr Macht auch aus der Fähigkeit zur Gewalt entspringt,
sosehr ist der Einsatz von Gewalt immer auch Ausdruck gescheiterter Macht.
Das ist die Lektion, die die US-Eliten lernen müssen.

5. Die globalen Kräfteverhältnisse haben sich verändert.
Neue Mächte haben globale Bedeutung erlangt.
Russland und China sind nicht bedeutungslos geworden.

6. Damit Freihandel in Vorherrschaft verwandelt werden kann, bedarf es immer neuer Räume,
in die er sich quasi hineinfressen kann. Dieser grundlegende Zusammenhang hat den Aufstieg Japans,
als eines der noch vor kurzem führenden Mächte der Triade beschränkt.
Umgekehrt füttert er den Machtgewinn der deutschen Eliten.
Deutschlands Machtzuwachs ist das offenkundigste und dennoch am wenigsten beachtete Phänomen der jüngsten Geschichte.
Die Losung vom wirtschafltichen Riesen und politischen Zwerg von vor 1914 feiert fröhliche Wiederauferstehung in think tanks und im Feuilleton.

7. Die EU, oder Europa, wie sie gerne von sich selbst sprechen, ist weder ein Pol in diesem Prozess,
noch das arme getriebene Opfer äußerer Mächte.
Die EU ist verdichtetes Feld dieser widersprüchlichen Bewegung.
Der Anspruch der deutschen Eliten in und durch Europa zu herrschen,
lässt sie ständig nach neuen Räumen greifen, während er gleichzeitig die europäischen Länder
bis ins Zentrum destabilisiert.

IV.

Können wir von Österreich aus, einen Schritt in eine andere Richtung setzen?
Können wir als friedensbewegte Menschen in Österreich, eine Entwicklung anstoßen,
aus der eine Friedensordnung entsteht?
Gewalt gegen Menschen ist kein neutrales politisches Instrument,
mit dem beliebige gesellschaftliche Ziele durchgesetzt werden können.
Gesellschaftliche Gewalt malträtiert nicht nur das Opfer, sondern pervertiert immer auch den Täter.
Die lebendige Widersprüchlichkeit der menschlichen Sehnsucht
nach Freiheit und Geborgenheit kann sich nur entfalten, wenn es gelingt Gewaltförmigkeit zu überwinden und zurückzudrängen.
Eine Friedensordnung kann sich umgekehrt aber nur entfalten,
wenn sie die Menschen in ihrer Sehnsucht nach Freiheit und Geborgenheit
respektiert.
Damit dies zur konkreten Utopie werden kann,
braucht es mehr als eines Appells an die Welt oder die Menschheit.
Schon gar nicht können wir uns darauf beschränken an die Mächtigen zu appellieren
oder sich wechselweise mit irgendwelchen Hegemonialmächten zu verbünden.
Gerade diese Haltungen haben die Friedensbewegung in Österreich beinahe zerstört.

Noch vor wenigen Jahren feierte die Ideologie des humanitären Interventionismus Hochkonjunktur.
Neutralität hieß es, sei Drückebergerei vor der Verantwortung zur militärischen Intervention aus humanitären Gründen
Heute konstatieren wir das vollständige Scheitern.dieses Interventionismus.
Ein Scheitern, das für Millionen Menschen in den betroffenen Regionen,
erst recht zur humanitären Katastrophe wurde.

Jetzt wird vielfach selbstgefällig über Außen- und Sicherheitspolitik als Realpolitik schwadroniert.
Die Räson mündet jedoch immer in der Unterordnung unter mächtige Verbündete.
Als besonders lehrreiches Schauspiel erleben wir aktuell die Krise in der Ukraine.
Freilich gibt es nachvollziehbare Begründungen für das Vorgehen Russlands auf der Krim und im Donbass.

Freilich widert uns die moralische Empörung über den tatsächlichen oder vermeintlichen Völkerrechtsbruch Russlands an, kommt er doch von Regierungen, die sich in der jüngsten Geschichte anmaßten, über alle Rechtsnormen erhaben zu sein, und dabei Millionen Opfer in Kauf nahmen.
Freilich kann es nicht darum gehen, den Alarmismus jener zu verstärken, die selbst Brandstifter sind.
Dennoch muss Russland daran erinnert werden, dass die territoriale Integrität der Staaten ein fundamentales Rechtsgut ist, zudem es kein beliebiges Verhältnis geben kann.

Ebensowenig wie es eine neue Weltordnung gibt, gibt es eine herrschaftliche Strategie.
Wer propagiert, mit der Ukrainekrise würden die US-Eliten den naiven deutschen Michel in eine Konfrontation mit Russland treiben, leistet, mag er auch aus den lautersten Motiven handeln,
einen Beitrag dazu, dass friedensbewegte Menschen wie am Nasenring durch die Arena geführt werden.

Der wirkliche Gewinner der Ukrainekrise ist Deutschland.
Und vielleicht sollte sich Russland daran erinnern, dass es in seiner Geschichte nie von der Absicht einer Macht so getäuscht wurde, wie von Deutschland.

V.
Was braucht es, um als österreichische Friedensbewegung glaubwürdig und wirkmächtig werden zu können? Ich sehe drei Bausteine.

1. Die neoliberale Konterrevolution ist jener Wirkzusammenhang der Gegenwart, der unsere Tat fordert. Wir erkennen, dass er wirtschaftlich, sozial und damit immer letztlich auch politsch
auf die Schwächung, und in vielen Fällen Zertrümmerung staatlicher Souveränität gerichtet ist.
Wer Gewaltförmigkeit nachhaltig überwinden will, um Freiheit und Geborgenheit in ihrer Widersprüchlichkeit lebendig werden zu lassen, muss der antinationalen Phrase entgegentreten.
Die antinationale Phrase ist im Kern antiemanzipativ und antihumanistisch.
Wer die Auflösung staatlicher Souveränität propagiert, befördert die Fähigkeit sozialreaktionärer Eliten,
sich ihrer Staaten zu bemächtigen, um andere zu unterwerfen.
Nationalistischer Ideologie muss dann entgegengetreten werden, wenn damit die Unterordnung des Anderen unter die vermeintliche eigene Überlegenheit propagiert wird.
In diesem Sinne sind die Bemühungen zur Konstruktion einer besonderen, überlegenen Legitimität als
Ergebnis einer wie auch immer begründeten besonderen europäischen Kultur
bloß eine Facette chauvinistischer Haltung.
Nach Auschwitz hat Europa der Welt nichts zu lehren.

2. Die Europäische Union ist kein Friedensprojekt.
Es ist schon fraglich, ob die Verständigung alter imperialistischer Eliten, sich angesichts der katastrophalen Wirkungen ihres Tuns künftig über die Aufteilung der Beute nicht mehr in die Haare zu geraten, dieses Attribut verdient.
Heute erkennen wir:
Das ganze EU-Freihandelsregime ist ein Katalysator für die Rückkehr Deutschlands als Weltmacht.

Mit Schrecken müssen wir erkennen, dass die spezifische Konstellation,
die sich daraus ergibt, mit der weltweit reaktionärsten Wirtschafts- und Sozialpolitik verknüpft ist.
Mit der Unterordnung unter das EU-Regime
haben wir Freihandel, aggressive Exportorientierung,
Aufrüstung und Interventionismus quasi im Verfassungsrang.
Mit diesen Bausteinen lässt sich Gewaltförmigkeit nicht überwinden.

Wenn wir hier in Österreich, der Unterordnung unter das EU-Konkurrenzregime entgegentreten;
weil es ein deutsches Hegemonialprojekt ist, so treibt uns dazu nicht ein antideutsches Ressentiment.
Es geht nicht um die Abwendung von dem ewig hässlichen Deutschen.
Wir sind und werden immer in besonderer Weise mit Deutschland wirtschaftlich, kulturell, politisch verbunden bleiben.
Natürlich kann man sich einen, nach zwei katastrophalen Versuchen geläuterten
wie es der seinerzeitige grüne Kriegsminister Joschka Fischer formuliert hat, "sanften Hegemon" herbeisehnen.
Hegemonialmächte drängen jedoch nicht deshalb auf Gewalteskalation, weil sie mächtig sind,
sondern weil sie in der Gewalt das letzte Mittel erkennen, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen,
die der Entfaltung ihrer Macht entgegenstehen.
Und diese Hindernisse, die der vollen globalen Machtentfaltung der deutschen Eliten entgegenstehen,
sind vielfältig und gewaltig.
Eben das sollte uns beunruhigen.

3. Die immerwährende Neutralität ist ein Geschenk der Geschichte.
Ihren rechtlich-politischen Kern bildet nicht nur die Verpflichtung, sich an keinen Kriegen zu beteiligen, sondern die Bereitschaft bereits in Friedenszeiten alles zu unternehmen,
um in keine militärische Konflikte involviert zu werden.
Die immerwährende Neutralität ist tief im Bewußtsein der Menschen in Österreich verankert.
Für viele ist sie untrennbar mit dem Selbstverständnis der II. Republik verbunden.
Neutralität ist eine vernünftige sicherheitspolitische Konzeption für einen
kleinen, militärisch schwachen Staat.

In den vergangen Jahren wurde Österreichs Neutralität von zwei Seiten in die Zange genommen:
Von den Regierungen wurden die Menschen belogen.

Den Menschen wurde vorgegaukelt, solange EU draufsteht,
können wir uns an Militärinterventionen beteiligen,
eine Aufrüstungs- und militärische Beistandspflicht unterschreiben,
und wären dennoch neutral.
Dies konnte deshalb funktionieren, weil sich die Regierungen gegen die permanenten Angriffe
auf die Neutralität, als deren Verteidiger inszenieren konnten.

Vielfach wurde behauptet, Neutralität stehe im Widerspruch zur Solidarität
und würde uns deshalb auch keine Sicherheit geben.

Diese Auffassungen sind völlig verfehlt.
Um das zu verdeutlichen, möchte ich folgendes Bild bemühen:
Vor einigen Jahren wurde ich von Kinderland Steiermark zu einem Vortrag unter dem Titel:

 "In welche Welt gehen unsere Kinder?" eingeladen.
Erst in der Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung wurde mir der tiefe innere Zusammenhang deutlich.
Es gibt eine Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen und Österreich hat diese 2009 ratifiziert.
Der Gedanke, der diese Konvention leitet, ist, dass Kinder eben deshalb unveräußerliche Rechte haben,
weil sie diese nicht aus ihrer Stärke heraus durchsetzen können.
Das Bewusstsein um die Bedeutung der immerwährenden Neutralität,
hat sich in einer Zeit entfaltet, in der viele Gesellschaften das koloniale Joch abschütteln
und eigene Staaten gründen konnten.
Die fortgesetzten Angriffe und die praktische Beschädigung der Neutralität finden in einer Zeit statt,
in der eben diese Errungenschaften geschliffen werden sollten.

Die immerwährende Neutralität ist deshalb nicht Ausdruck
der Abwendung von der Welt,
sondern der wichtigste friedensbewegte Beitrag,
den wir in Österreich der Welt schenken können.

Boris Lechthaler