Wer die Aufrüstungsdynamik in Österreich - aber auch die Alternativen dazu - begreifen will, muss sich mit der Militarisierung der Europäischen Union beschäftigen, insbesondere dem „Strategischen Kompass“.
Der „Strategische Kompass“ ist der bislang wohl ambitioniertesten Plan zur Hochrüstung und globalen Kriegsfähigmachung der Europäischen Union. Noch knapp vor Beschluss dieses Dokuments am 25. März 2022 wurden noch einige Passagen zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine eingefügt, wohl um zu suggerieren, die EU würde damit auf die russische Aggression reagieren. Tatsächlich wurde an diesem Papier schon seit Jahren gearbeitet. Dessen erklärtes Ziel: Die EU müsse bei der militärischen „Handlungsfähigkeit und -bereitschaft“ einen „Quantensprung nach vorne machen“ (1).
Die Begründungen für diesen „Quantensprung“ lesen sich vertraut: Durchsetzung von „freiem Handel und Energieversorgungssicherheit“, die Abwehr der „Gefährdung globaler Lieferketten“, der „ungehinderten Zugang zu den Hochseegewässern und kritischen Seewegen“ und „zu kritischen Rohstoffen“. Neu ist die Betonung der geopolitischen Konfrontation mit China und Russland. China wird u.a. „eine Beschränkung des Zugangs zu seinem Markt“ vorgeworfen wird. Am vehementesten richtet sich der SK gegen Russland, das „mit seiner Aggression gegen die Ukraine grob gegen das Völkerrecht und die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen verstößt“ (1). Das ist ebenso richtig wie heuchlerisch. Bekanntlich können die EU-Staaten - oft im Verbund mit den USA - selbst auf eine blutige Geschichte eigener Verstöße gegen das Völkerrecht und UN-Charta zurückblicken (Jugoslawien, Irak, Afghanistan, Libyen…). Was die EU hier empört, ist also offensichtlich nicht der Verstoß gegen das Völkerrecht an sich, sondern dass sich mittlerweile auch andere Mächte anmaßen, Verbrechen zu begehen, die die westlichen Großmächte bislang als ihr ausschließliches Privileg betrachteten.
Von der Arktis bis ins südchinesische Meer
Beachtlich ist der geographische Raum, den die EU militärisch dominieren will. Dieser reicht von der Arktis bis Zentralafrika, von der „östliche Nachbarschaft“ (Ukraine, Südkaukasus) über den Nahen und Mittleren Osten bis in den indopazifischen Raum, insbesondere auch die Kontrolle über die dazugehörigen Meere. Namentlich genannt wird die „maritime Sicherheit in der Ostsee, im Schwarzen Meer, im Mittelmeer und in der Nordsee sowie in den arktischen Gewässern, im Atlantik und in den Gebieten in äußerster Randlage… Meeresgebiete, kritische Seeverbindungen und mehrere Meeresengen sowie Meeresböden, vom Golf von Aden bis zur Straße von Hormuz und jenseits der Straße von Malakka.“ (1) Zur Erläuterung: „Jenseits der Straße von Malakka“ beginnt das südchinesische Meer.
Neue EU-Eingreiftruppe
Wer solche Räume dominieren will, braucht entsprechend trainierte und bewaffnete Truppen. Diesbezügliches Kernelement des SK ist der Aufbau einer militärischen Eingreiftruppe von 5.000 SoldatInnen bis 2025. Das ist eine Weiterentwicklung des bisherigen „Battlegroups“-Konzepts. Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ: Neben Bodentruppen sollen je nach Bedarf auch Luft- und Seestreitkräfte zur neuen Truppe gehören. Durch „maßgeschneiderte Truppenpakete mit Land-, See- und Luftkomponenten, verschiedene Grade der Einsatzbereitschaft und längere Bereitschaftszeiten“ soll „ein robusteres und flexibleres Instrument entstehen“ (1). Bis 2025 soll auch ein operatives EU-Hauptquartier eingerichtet sein, das die Einsätze dieser Truppe kommandiert.
Da 5.000 Mann/Frau aber noch kein „Quantensprung“ für globale Militärinterventionen sind, hält der SK ausdrücklich fest, dass die EU-Eingreiftruppe mit weiteren Kontingenten von EU-Staaten kombiniert werden soll. Wie groß eine solche EU-Interventionsstreitmacht dann sein kann, wird bloß angedeutet: Der Umfang der Truppe wird „an die vom Rat festgelegten Ziele und Anforderungen der Militäroperation angepasst“ (1).
Milliarden für neues Kriegsgerät
Den größten Quantensprung will die EU bei der Entwicklung und Produktion von neuem Kriegsgerät machen – in allen Waffengattungen: Boden, See, Luft, Weltraum und Cyberspace. 2020 gaben die EU-Staaten (ohne Großbritannien) zusammen bereits 200 Milliarden Euro aus (eine reale Steigerung von 25% seit 2014!). Das ist fast das 4-Fache des russischen Militärbudgets (inkl. Großbritannien fast das 5-Fache!). Doch den EU-Mächtigen ist das viel zu wenig. EU-Kommissionschefin Van der Leyen verlautbarte im Mai 2022 stolz, dass „die EU-Staaten bereits zusätzliche Ausgaben in Höhe von 200 Milliarden Euro für die nächsten Jahre angekündigt haben. Wir müssen diese Dynamik aufrechterhalten.“ (2) Die EU-Militärausgaben würden damit im Jahr 2025 – so die EU-Verteidigungsagentur – real um 30 Prozent höher sein als 2021.
Bundesheer: „Robuste Auslandseinsätze“
Die österreichische Regierung will beim „Strategischen Kompass“ ambitioniert mitwirken. Laut Landesverteidigungsbericht 2022 sollen sich die Militärausgaben von 2022 bis 2028 fast verdoppeln (plus 93%), die Rüstungsinvestitionen beinahe vervierfachen (plus 384%). Beim Probegalopp für die neue EU-Eingreiftruppe im Jahr 2025 wird Österreich mit bis zu 600 SoldatInnen dabei sein und das Kommando über die Logistik für die 5.000 Mann/Frau starke Truppe übernehmen, die von der deutschen Bundeswehr geführt wird.
Der Landesverteidigungsbericht 2022 stimmt bereits auf militärische Abenteuer in tausenden Kilometern Entfernung ein: „Anforderungen für robuste Auslandseinsätze werden rascher als bisher auf das Österreichische Bundesheer zukommen, eine geringere Vorwarnzeit aufweisen und die Bandbreite der Einsätze wird höher, was die Bereithaltung von rasch verfügbaren, durchsetzungsfähigen und durchhaltefähigen Kräften bedingt, die dazu befähigt sind, es mit dem gesteigerten Bedrohungspotenzial der dortigen Gegner aufzunehmen und Gefechte zu gewinnen … Alle globalstrategischen Wirkungsfelder, wie Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaft und Energieversorgung, politische Systeme und globale Ordnungsmodelle, weisen dabei auf Zentral- und Nordafrika sowie den Nahen Osten als die zu priorisierenden Räume für künftige Einsätze hin.“ (3)
Friedens- und neutralitätspolitisch auf Tauchstation im Ukraine-Krieg
Dieser Unterordnung der österreichischen Außen- und Sicherheitspolitik unter die EU-Militarisierung ist wohl auch zuzuschreiben, dass Österreich im Ukraine-Krieg bislang friedens- und neutralitätspolitisch auf Tauchstation gegangen ist. Österreich lässt neutralitätswidrig Militärtransporte über sein Territorium in die Ukraine rollen. Gleichzeitig finanziert Österreich anteilig die neue EU-Kriegskasse mit dem euphemistischen Bezeichnung „Friedensfazilität“, über die die ukrainische Armee mit Waffen versorgt wird. Bislang gingen über die diese Schiene Kriegsgerät im Wert von 5,6 Milliarden Euro an die Ukraine. Der österreichische Anteil daran betrug 153 Millionen Euro. Nach jüngsten Ankündigungen des EU-Außenbeauftrage Josep Borrell könnte das bald erheblich mehr werden. Außenminister Schallenberg Behauptung, die Beteiligung Österreichs an dieser „Friedensfazilität“ sei mit der Neutralität vereinbar, weil der österreichische Beitrag nur zur Finanzierung von Schutzausrüstungen und nicht für Waffenlieferungen verwendet würde, ist Etikettenschwindel. Geld hat bekanntlich kein Mascherl.
Manche mögen einwenden: Hätte Österreich bei der völkerrechtswidrigen Aggression Russlands gegen die Ukraine zuschauen sollen? Nein, natürlich nicht. Gerade ein kleiner neutraler Staat hat ein besonderes Interesse daran, dass das Völkerrecht respektiert wird und nicht durch das Faustrecht der Großmächte ersetzt wird. Doch die österreichische Politik hat sich im Ukraine-Krieg nicht für die Durchsetzung des Völkerrechts eingesetzt, sondern Hilfsdienste zur Eskalation des Krieges geleistet.
Freilich muss man dafür etwas genauer hinschauen. Im März/April 2022 gab es hoffnungsstiftende Gespräche zwischen Moskau und Kiew in der Türkei, bei denen sich beide Seiten in wichtigen Punkten angenähert hatten:
- Rückzug der russischen Truppen hinter die Linien des 22.2.2023
- Ein neutraler Status der Ukraine, geschützt durch internationale Sicherheitsgarantien
- Lösung aller offenen territorialen Konflikte (Donbass-Republiken, Krim) am Verhandlungstisch (4)
Damit öffnete sich ein Fenster für eine politische Lösung und ein rasches Ende des Krieges. Doch die westlichen Großmächte hatten kein Interesse an einer neutralen Ukraine, die ihre Unabhängigkeit gegenüber Ost und West zu wahren versteht. Das zeigte bereits die Vorgeschichte dieses Krieges, wie etwa die Unterstützung von EU und USA für den prowestlichen Staatsstreich in Kiew im Februar 2014. Offensichtlich wurden deshalb die explodierenden Waffenlieferungen an die Ukraine mit der Forderung junktimiert, die Tür für eine solche Verhandlungslösung zuzuschlagen. Diese Kriegsstrategie des Westens hatte bereits am 24. März 2022 Chas Freeman, ehemaliger Botschafter der USA in Saudi-Arabien, kritisiert: „Alles, was wir [der Westen] tun, zielt offenbar darauf, die Kämpfe zu verlängern, anstatt ihr Ende und einen Kompromiss zu beschleunigen“. Denn das sei „gut für den militärisch-industriellen Komplex“ (5).
Zugleich brachte diese Politik auch in Moskau die ethnonationalistischen Scharfmacher in die Vorhand und mündete in den katastrophalen Annexionen von vier ukrainischen Oblasten durch die Russische Föderation im Herbst 2022. Ein „Fenster der Gelegenheit“ schloss sich, das Hunderttausende vor Tod und Verkrüppelung hätte retten können. Um es zu akzentuieren: Natürlich hat ein angegriffenes Land wie die Ukraine das Recht, sich militärisch zu verteidigen und Waffen dafür geliefert zu bekommen. Doch das Vollpumpen der Ukraine mit Waffen diente in dieser Situation nicht dazu, Russland an den Verhandlungstisch zu bringen, sondern die Ukraine dazu zu bewegen, von diesem aufzustehen.
Verhandlungsfaden wieder aufgreifen
Was war und ist die herausragende Herausforderung für staatliche und zivilgesellschaftliche Friedensarbeit gewesen? Es galt und gilt, diesen grundvernünftigen Verhandlungsfaden vom Frühjahr 2022 aufzugreifen und mit allen Mitteln staatlicher Diplomatie und zivilgesellschaftlichen Engagements zu stärken, um Menschenleben zu retten und fundamentale Pfeiler des Völkerrechts zu stützen:
- Wahrung der Souveränität und territorialer Unversehrtheit der Staaten, d.h. konkret: Rückzug der russischen Truppen
- Ein System kooperativer Sicherheit, also Sicherheit miteinander statt gegeneinander, d. h. konkret: keine Ausweitung von westlichen Militärpakten, die das ukrainische Territorium zum militärischen Aufmarschgebiet gegen Russland machen.
Es gab und gibt solche Initiativen, z.B. den Vier-Schritte-Plan des damaligen italienischen Außenminister Luigi di Maio oder von Ländern des globalen Südens. Es gäbe wohl kaum ein Land, das prädestinierter wäre als Österreich, sich für Friedensvorschläge in diese Richtung zu engagieren. Denn auch die Wiedererlangung der österreichischen Souveränität ist engstens mit unserem neutralen Status verbunden. Für kleinere und mittlere Staaten an den großen geopolitischen Bruchlinien ist Neutralität eine enorme Chance, nicht nur die eigene Souveränität zu wahren, sondern auch friedenspolitischer Brückenbauer im Sinne kooperativer Sicherheit zu werden.
Doch was tut die österreichische Politik? Sie steckt den Kopf in den Sand, oder besser gesagt unter den Rockzipfel des Europäischen Auswärtigen Amtes, lässt die Panzer durch unser Land rollen und finanziert genau jene Eskalation des Krieges mit, die diese Friedenslösung ersticken sollte. Ein unverzeihliches Versagen. Und ein systemisch begründetes Versagen. Denn solange die österreichische Politik alles daran setzt, bei der EU-Militarisierung mitzumarschieren, verkommt die österreichische Neutralität zu einer leeren Phrase. Die österreichische Friedensbewegung muss daher darum ringen, dass sich Österreich aus dem militaristischen „Quantensprung“ des „Strategischen Kompass“ verabschiedet. Denn neutrale Staaten, die sich aktiv als Brückenbauer in den internationalen Beziehungen engagieren, sind heute wichtiger denn je – in der Ukraine und bei vielen anderen Konfliktherden.
Gerald Oberansmayr
(September 2023)
Erveröffentlichung: Spinnrad, Zeitung des Internationalen Versöhnungsbunds
https://www.versoehnungsbund.at/spinnrad/
Anmerkungen:
- Rat der Europäischen Union, Der Strategische Kompass, Brüssel, 21.3.2022
- Presseerklärung, 18. Mai 2022)
- https://www.bmlv.gv.at/wissen-forschung/publikationen/beitrag.php?id=3677
- Siehe ausführlicher: https://www.solidarwerkstatt.at/frieden-neutralitaet/ungeliebte-ukrainisch-russische-friedensgespraeche
- zitiert nach: www.german-foreign-policy.com; „Bis zum letzten Ukrainer“, 19.4.2022