Ein Positionspapier der Solidar-Werkstatt zu Neutralität, Allgemeine Wehrpflicht und Soziale Verteidigung.
1. Die Abschaffung der Allgemeinen Wehrpflicht ist kein Schritt zu mehr Frieden. Sie dient dem Aufbau einer Berufsarmee, die für globale Interventionseinsätze im EU-Rahmen jederzeit abrufbereit sind. Die Beteiligung von „Profitruppen“ im Rahmen dieser Einsätze:
- steht in klarem Widerspruch zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen eines immerwährend neutralen Staates, auf den Einsatz militärischer Gewalt bei der Verfolgung seiner politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen zu verzichten.
- bildet eine Bedrohung für alle Menschen, die bei der Entfaltung ihrer sozialen und politischen Rechte in Widerspruch zum globalen Herrschaftssystem im Allgemeinen und den Interessen der EU-Monopolkonzerne im Besonderen geraten.
- gefährdet damit die Sicherheit der Menschen in Österreich.
2. “Profitruppen“ im Rahmen der EU sollen nicht nur für globale Interventionseinsätze, sondern auch für eigentlich sicherheitspolizeiliche Aufgaben im Inneren der EU zur Verfügung stehen. Sie sind damit auch eine Gefahr für Sozialstaatlichkeit und Demokratie. Ein Berufsheer kann leichter für partikulare Interessen instrumentalisiert werden. Vielfach werden marginalisierte Menschen angeworben, die Verpflichtung zum Auslandseinsatz blanko mitunterschrieben.
3. Die Abschaffung der Allgemeinen Wehrpflicht ist kein Schritt zur Abschaffung des Heeres. Im Rahmen der EU-Mitgliedschaft kann die Abschaffung des österreichischen Bundesheeres auch kein friedenspolitischer Schritt sein. Sie hätte bloß zur Folge, dass wir uns für militärische Gewalteinsätze der EU wohl nicht mehr selber die Hände schmutzig machen, uns dennoch aber über politische und wirtschaftliche Unterstützung mitverantwortlich und mitschuldig machen. Unter diesen Rahmenbedingungen könnte die Abschaffung des Bundesheeres sogar zu einem Treibriemen für den Aufbau einer EU-Armee werden. Sie würde uns nicht davor schützen, dass ÖsterreicherInnen an imperialen EU-Kriegen teilnehmen.
4. Die der Entscheidung über die Allgemeine Wehrpflicht vorgelagerte Frage lautet: „Wollen wir im Rahmen der EU bei den imperialistischen Abenteuern der Großmächte mitmarschieren oder einen eigenständigen Weg auf Grundlage der immerwährenden Neutralität gehen?“
5. Die Achtung der Verpflichtungen des immerwährend neutralen Staates, die Möglichkeiten, die sich daraus für eine Außenpolitik ergibt, die einer Friedenslogik folgt, die die Interessen anderer respektiert und ihnen auf gleicher Augenhöhe begegnet, die die Rechte der Schwächeren im internationalen Prozess verteidigt und sich militärischen Abenteuern verweigert, sind auch ein Beitrag zur Sicherheit der Menschen in Österreich. Einer Sicherheit, die nicht auf Drohung und Kumpanei gründet, sondern auf Vertrauen und Respekt.
6. Die immerwährende Neutralität ist damit kein gestriges außen- und sicherheitspolitisches Konzept. Im Gegenteil: ihre Voraussetzungen und Konsequenzen bilden die verallgemeinerbaren Kriterien für eine Außen- und Sicherheitspolitik des XXI. Jahrhunderts. Sie ist damit auch ein Beitrag zur internationalen Solidarität. „Profiarmee“, Beteiligung an der EU-Armee und an imperialen, militärischen Abenteuern, sind Konzepte, die uns in die Katastrophen von vorgestern zurückführen.
7. Begründet wird die Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht und Rekrutierung einer Profiarmee mit der veränderten Bedrohungslage. Unsere Sicherheit sei nicht mehr durch einen klassischen Territorialkrieg gefährdet, sondern durch die Gefährdung von Rohstoffen und Handelswegen fernab unseres Landes. Zu ersterem stellt sich nicht nur die Frage, ob dies jemals eine realistische Annahme der Bedrohungslage war, sondern auch, ob die darauf gründenden strategischen Konzepte und militärischen Strukturen jemals stimmig waren. Der Einwurf der Friedensbewegung, es ginge nur um die symbolische Bedeutung militärischer Verteidung, zur Auslösung einer verzögerten Bündnisautomatik, die mitunter in einem Massengrab bei Amstetten mündet, war gut begründet. Zweiteres ist ein unverhohlener Ausdruck des Willens zur imperialistischen Kumpanei.
8. Dieser Wille stellt nicht nur zukünftig eine Gefahr für die Sicherheit der Menschen in Österreich dar. Im Zuge des EU-Integrationsprozesses hat er bereits bisher großen Schaden angerichtet. Neutralität und eine darauf gründende Außenpolitik basiert vor allem auf Vertrauen. Die österreichischen Eliten, das politische Establishment, die als Kumpane und Exekutoren der hegemonialen Ambitionen der Machteliten der Großmächte, demonstrierten, dass sie zu jeder Rechtsbeugung bereit sind, wenn es darum geht, bei der Militarisierung der EU dabei zu sein, vernichten dieses Vertrauen. Die Menschen in Österreich werden dabei belogen. Ihnen wird vorgegaukelt, was immer wir unter Neutralität verstehen und welche Außen- und Sicherheitspolitik wir praktizieren, sei einzig vom Sanktus von Brüssel und Berlin abhängig. Die Teilnahme an der EU-Rüstungsagentur mit Aufrüstungsverpflichtung, die Übernahme führender Funktionen in EU-Militärstäben, die Teilnahme am EU-Schlachtgruppen-Programm, die direkte und indirekte Beteiligung an zahlreichen militärischen Abenteuern, die Ratifikation einer Beistandsverpflichtung im Rahmen des EU-Vertrags, die Selbstermächtigung zur Teilnahme an Kriegseinsätzen (Art. 23h BVG) , alles sei mit der Neutralität vereinbar. Die Bundesregierung ermächtigt sich selbst, wesentliche Teile des Staatsvertrages einseitig für obsolet zu erklären. Wer so mit Recht umgeht, gefährdet die Existenz eines freien Österreichs und ist damit selbst eine Gefahr für die Sicherheit der Menschen in Österreich.
9. Aus der Perspektive der weiteren und immer tieferen Integration Österreichs in die imperialen Ambitionen der EU-Machteliten gibt es keine friedenspolitische Perspektive, mit der auf die Auseinandersetzung um Allgemeine Wehrpflicht und Berufsheer reagiert werden könnte. Im EU-Kontext wird selbst die Forderung nach Abschaffung des Bundesheeres reaktionär. Der Austritt aus der EU und die Wiederbelebung der Neutralität und ihrer praktischen politischen Potentiale ist Voraussetzung für jede friedenspolitische Perspektive.
10. Stellen wir uns aus dieser Perspektive die Frage nach Bedrohung, erkennen wir die wesentliche Bedrohung rührt von jenen Kräften, die vorgeben uns zu beschützen. Das Bündnis der eigenen Machteliten, des eigenen politischen Establishments mit den Machteliten der Großmächte und die damit verbundenen politischen und sozialen Konsequenzen sind die Hauptgefahr für unsere Sicherheit. Die Entdemokratisierung, die Spaltung unserer Gesellschaft, die Marginalisierung breiter Schichten sind bedeutend gefährlicher als eine herbeiprophezeite terroristische Bedrohung.
11. Neutralität als sicherheitspolitisches Konzept lebt nicht nur vom äußeren Vertrauen, sondern ist auch vom inneren Vertrauen abhängig. Eine Gesellschaft, die die Existenz-, Teilhabe- und Freiheitsrechte aller ihrer Mitglieder respektiert, kann, ja muss, auf gewaltförmige Drohgebärden verzichten. Die Kumpanei mit den Großmächten spaltet unsere Gesellschaft und die Spaltung unserer Gesellschaft treibt uns in die Kumpanei mit den Großmächten. Diese Logik muss aufgebrochen werden. Daraus folgt, eine demokratische und solidarische Wende, die Durchsetzung eines neutralen, weltoffenen Solidarstaats ist auch ein Beitrag zu einer modernen, zukunftfähigen Sicherheitspolitik.
12. Die Diskussion über die Allgemeine Wehrpflicht kann nur auf dieser Grundlage aus einer friedenspolitischen Perspektive sinnvoll geführt werden. Es wäre grob verantwortungslos, würden wir die Perspektive einer solidarischen, weltoffenen, demokratischen österreichischen Gesellschaft ohne Berücksichtigung der Bedeutung, die Österreich für die Entfaltung der Hegemonialinteressen der Machteliten hat, führen. Österreich
13. Wir müssen davon ausgehen – zahlreiche aktuelle Erfahrungen können nicht ignoriert werden - , dass die Machteliten nicht davor zurückscheuen würden, auch Gewaltmittel für die Zerstörung eines solidarischen und demokratischen Projekts in Österreich einzusetzen. Nur aus dieser Perspektive kann die Aufrechterhaltung der Allgemeinen Wehrpflicht sinnvoll diskutiert werden.
- Ist Teil der hochproduktiven Kernzone des EU-Herrschaftsprojekts
- Ist von großer geostrategischer Bedeutung für die Machtentfaltung dieses Projekts in den ost- und südosteuropäischen Raum
- Kann aufgrund seines Status als Nicht-Nato-Mitglied für die Herauslösung eigenständiger deutsch geführter Interventionskapazitäten mißbraucht werden
14. Moderne, komplexe Gesellschaften können heute nicht einfach militärisch unterworfen werden, ohne dass das eigene hegemoniale Ziel, die Integration dieser Gesellschaft in das eigene hegemoniale Projekt darunter Schaden erleidet. Umgekehrt ist es ein Leichtes, die bei jedem Transformationsprozess auftretenden inneren Widersprüche und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gewaltförmig aufzuladen und zu sabotieren. Die unmittelbare gewaltförmige Bedrohung eines solidarischen, demokratischen und weltoffenen Österreich geschieht deshalb nicht in der Form einer direkten exterritorialen Bedrohung, sondern besteht in der Gefahr eines Bürgerkriegs mit mächtigen äußeren Interessen.
15. Hegemonialpolitik hat ein hochgradiges Interesse an gewaltförmiger Eskalation gegenüber Gesellschaften, die sich ihren Machtansprüchen verweigern. Das zu berücksichtigen, ist von essentieller Bedeutung, wenn wir die Aufrechterhaltung der Allgemeinen Wehrpflicht diskutieren. Der Solidarstaat Österreich, den wir auf die Tagesordnung der aktuellen Auseinandersetzungen setzen, ist deshalb darauf orientiert, jegliche gewaltförmige Eskalation innerer gesellschaflticher Auseinandersetzungen hintanzuhalten und zu überwinden. Es gibt deshalb für uns keinen Automatismus zwischen Allgemeiner Wehrpflicht und bewaffneter Verteidiung.
16. Wir treten ein für die Aufrechterhaltung der Allgemeinen Wehrpflicht. Eine solidarisches, demokratisches, neutrales und weltoffenes Österreich kann nur entstehen, wenn die Menschen in unserer Gesellschaft auch bereit sind, sie gegen äußere und innere imperiale Ansprüche zu verteidigen. Allgemeine Wehrpflicht bedeutet aber nicht automatisch bewaffnete Verteidigung. Diese Frage muss immer wieder neu anhand der konkreten Situation diskutiert werden. Auch bedeutet die Zustimmung zur Allgemeinen Wehrpflicht keine Zustimmung zum bestehenden Bundesheer. Bereits jetzt ist der Anteil von Berufssoldaten überdimensioniert; alle bestehenden Strukturen im Rahmen der EU-Interventionskapazitäten müssen sofort aufgelöst werden.
17. Konzepte der sozialen Verteidigung, der zivilen, nichtmilitärischen Verteidigung müssen in die Allgemeine Wehrpflicht integriert werden. Flache Hierarchien, die Einbindung aller Menschen, die Verhinderung gewaltörmiger Eskalation ergeben sich nicht von selbst, sondern müssen im Rahmen Allgemeiner Wehrpflicht geübt werden. Wir fordern deshalb, Konzepte der nicht militärischen Verteidigung in die Allgemeine Wehrpflicht zu integrieren. Konzepte der Nicht-Kooperation, des zivilen Ungehorsams, der Zivilcourage, der Eskalation zivilgesellschaftlichen Protests unter Verhinderung gewaltförmiger Eskalation sind unsereres Erachtens unverzichtbare Bestandteile allgemeiner Wehrpflicht. Es geht um die Sicherung gesellschaftlicher Infrastruktur, von Kommunikationseinrichtungen, die Überwindung gewaltförmiger Eskalation innerer Konflikte, und freilich auch dem Schutz bei Naturkatastrophen.
18. Das bedeutet nicht automatisch eine Absage an bewaffnete Verteidigung, wichtig ist uns, der bewaffneten Verteidigung die symbolischen Bedeutung zu nehmen. Es muss kein Blut fließen, damit unser Verteidigungswille ernstgenommen wird. Bewaffnete Verteidigung erachten wir dann als legitim, wenn sie zum Schutz und zur Entfaltung ziviler, sozialen Verteidigung einen effektiven Beitrag leistet. Wir berücksichtigen dabei die Erkenntnis, dass bewaffnete Eskalation immer insgesamt die Konfliktsituation nachhaltig verändert. Gewaltförmigkeit hierarchisiert, führt zur Verwehrung von Teilhaberechten und verbaut Kompromisslösungen. Bewaffnete Verteidigung verliert ob dieser Tatsachen dann ihre Legitimität, wenn sie diese Tatsachen nicht berücksichtigt. In jedem Fall genügt es nicht der Frage nach bewaffneter Verteidigung einfach auszuweichen, sie zu verdrängen. Eine bewußte Auseinandersetzung möglichst vieler damit ist wichtig. Sofern bewaffnete Verteidigung konkret miteinbezogen wird, kann dies nicht in einem Spezialistentum münden. Spezialeinheiten werden rasch selbst zur Gefahr, insbesondere wenn das Zentrum die Kontrolle verliert, oder es überhaupt handlungsunfähig geworden ist. Bewaffneter, gewaltförmiger Eskalation kann am besten dann begegnet werden, wenn möglichst viele Menschen ein bewußtes Verhältnis und alternative Handlungsoptionen in dieser Frage haben.
19. Wir plädieren für die Aufrechterhaltung der „Allgemeinen Wehrpflicht“. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die Aufrechterhaltung von Bundesheer und Zivildienst in der bestehenden Form sanktionieren. Die Aufrechterhaltung der Allgemeinen Wehrpflicht kann nur sinnvoll diskutiert werden, wenn Österreich aus dem imperialen EU-Projekt austritt und Instrumente der nichtmilitärischen sozialen Verteidigung in die Wehrpflicht integriert.
Vorstand der Solidar-Werkstatt Österreich, 23.9.2012
Siehe auch Dossier: Nein zum Berufsheer - Ja zur Neutralität!