
Eines der wichtigsten Ergebnisse des NATO-Gipfels in Chicago ist wohl die Bekräftigung des zügigen Aufbaus eines sog. „Raketenabwehrschildes“. Die Staats- und Regierungschefs der 28 NATO-Staaten erklärten in Chicago, das System sei nun teilweise einsatzbereit. Bis 2020 soll die Raketenabwehr vollständig stehen. Das Projekt sieht den Aufbau eines Netzes aus Radaranlagen und Stellungen mit Abfangraketen vor, um Europa und die USA „vor Raketen aus Iran und Nordkorea zu schützen“, wie die NATO beteuert.
Diese Argumentation, die alleine auf Grund der konkreten Stationierungsorte des Schutzschildes unglaubwürdig ist, wird zur Einlullung der öffentlichen Meinung verbreitet, in der amerikanischen Fachpresse wird dagegen offen eingestanden, dass dieses „Raketenabwehrschild“ aggressiven Zwecken dient. So hieß es in einem Artikel der renommierten Foreign Affairs mit dem bezeichnenden Titel “Der Aufstieg der USA zur nuklearen Vorherrschaft” folgendermaßen: “Die Art von Raketenabwehr, die von den USA wahrscheinlich zum Einsatz gebracht werden wird, wäre primär in einem offensiven Kontext sinnvoll – nicht in einem defensiven – als Ergänzung einer amerikanischen Erstschlagfähigkeit, nicht als Schutzschild an sich. Wenn die Vereinigten Staaten einen Nuklearangriff gegen Russland (oder China) führten, blieben dem angegriffenen Land nur ein kleines Arsenal übrig – wenn überhaupt. Dann wäre sogar ein relativ bescheidenes oder wenig wirksames Raketenabwehrsystem zur Verteidigung gegen Vergeltungsschläge ausreichend, denn der schwer angeschlagene Feind hätte nur noch wenige Sprengköpfe und Ablenkungsattrappen. [...] Washingtons konsistente Weigerung, einen Erstschlag auszuschließen und die Entwicklung einer begrenzten Fähigkeit zur Raketenabwehr bekommen so eine neue, möglicherweise weit bedrohlichere Bedeutung.” (1)

„Raketenabwehrschild“ dient der atomaren Erstschlagsfähigkeit
Die Bush-Jahre waren geprägt von wachsender Rivalität und Entfremdung zwischen den Machteliten in den USA und der Europäischen Union. Seit dem Amtsantritts Obamas zeichnet sich ein neuer transatlantischer Deal zwischen USA und EU ab. Die Machteliten in den USA wissen mittlerweile, dass sie im Alleingang ihre Vormachtstellung nicht mehr halten können. Auf beiden Seiten des Atlantiks mehren sich die politischen Signale, angesichts ihrer bröckelnden Hegemonie wieder näher zusammenzurücken, divergierende Interessen zurückzustellen und sich auf ein gemeinsames Feindbild einzuschwören. Obama hat zum ersten Mal klar verlautbart, dass die USA keinerlei Einwände mehr gegen die Schaffung einer EU-Armee hätten. Der US-Präsident: „Wir wollen militärisch starke europäische Verbündete. Je besser die europäischen Verteidigungskapazitäten sind, umso besser können wir miteinander kooperieren, umso glücklicher sind wir.“ (2) Sein Außenminister Biden setzt nach: „Die USA werden mehr tun, aber die USA werden auch mehr von ihren Partnern verlangen …, einschließlich ihrer Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, wenn alles andere fehlschlägt.“ (3) Motto: Mehr mitschießen, mehr mitbestimmen! Die EU-Machteliten sind sichtlich angetan von der Aussicht, auf Augenhöhe mit den USA in zukünftige Weltordnungskämpfe ziehen zu können. So heißt es in einem Strategiepapier des sicherheitspolitischen EU-Establishments: „Wir konnten das Ende der unipolaren Weltordnung beobachten – eine Weltordnung, die von einer einzigen Macht, den USA, dominiert wurde. […] Neue wirtschaftliche, politische und militärische Mächte sind aufgetaucht. Die Alleingangsstrategie („go it alone strategy“) der USA ist gescheitert. Wir beobachten soeben das Entstehen einer multipolaren Welt, ein neues ‚Zeitalter der Imperien‘. Europa muss daraus als eines dieser Imperien hervorgehen. Hierbei sind die USA sowohl der natürliche als auch unverzichtbare Verbündete.“ (4)
„Atomare Eskalationsdominanz“
Hauptziel dieses transatlantischen „New Deal“ der westlichen Imperien ist es, dem wirtschaftlichen und politischen Aufstieg neuer Mächte wie China aber auch der machtpolitischen Rückkehr Russlands mit einem überlegenen militärischen Drohpotential, inklusive der Drohung mit dem atomaren Erstschlag entgegenzutreten. Bereits 2008 hatten fünf hochrangige NATO-Generäle sich in der Studie „Towards a Grand Strategy in an Uncertain World“ kein Blatt vor den Mund genommen: „Der Ersteinsatz von Atomwaffen muss im Köcher der Eskalation bleiben ... Ein solches Konzept erfordert Eskalationsdominanz, die das volle Arsenal von Zuckerbrot und Peitsche nutzt - und zwar tatsächlich alle Instrumente der weichen und harten Macht, die von diplomatischen Protesten bis hin zum Einsatz von Atomwaffen reicht." (5).
Das Raketenabwehrschild von USA und EU ist ein Eckpfeiler dieser Strategie. Angestrebt wird die Neutralisierung eines russischen Zweitschlags, um die atomaren Erstschlagsfähigkeit der NATO zu herzustellen. USA und EU läuten mit dem gemeinsamen Raketenabwehrschild unmissverständlich eine neue Runde des Kalten Krieges und des atomaren und konventionellen Wettrüstens ein. Denn Reaktionen werden nicht lange auf sich warten lassen, wie die Ankündigung Russlands zeigt, neue Iskander-Raketen in Kaliningrad und Südrussland zu stationieren.
Letztklassiger Auftritt des Kanzlers in Chicago

Neutralität ist zukunftsfähiger denn je
Der letztklassige Auftritt des Kanzlers kommt dabei höchstens im Ausmaß der Devotheit überraschend. Er reiht sich ein in die sozialdemokratische Politik seit Vranitzky, die Neutralität in Sonntagsreden hochleben zu lassen, um Bevölkerung und Parteibasis Sand in die Augen zu streuen, um danach Neutralität und Verfassung umso mehr mit Füßen zu treten. Seit dem EU-Beitritt wird die Neutralität unter roten wie schwarzen Kanzlern systematisch demontiert. Jeder Schritt der EU-Militarisierung wird anstandslos mitvollzogen, jetzt auch die Intensivierung der militärischen Kooperation zwischen EU und USA.
Der nächste Anschlag auf die Neutralität steht ab 1. Juli 2012 bevor. Ab dann sollen einige hunderte österreichische SoldatInnen im Rahmen der sog. EU-Battlegroups für ein halbes Jahr „auf Abruf“ bereitstehen, um auf Beschluss des EU-Rates und unter deutschem Kommando zu globalen Militärmissionen aufzubrechen. Als Solidar-Werkstatt wollen wir dem ein deutliches Zeichen des Protests entgegensetzten. Wir freuen uns über Verbündete. Denn Neutralität als friedenspolitisches Ausscheren eines kleinen Landes aus der brandgefährlichen Konfrontationsstrategie waffenstarrender Imperien ist dieser Tage drängender und zukunftsfähiger denn je.
Gerald Oberansmayr
(29.5.2012)
Anmerkungen:
(1) Lieber, Keir A./Daryl G. Press: The Rise of U.S. Nuclear Primacy, in: Foreign Affairs, März/April 2006
(2) Zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.4.2009
(3) Joseph Biden, Rede auf der 45. Münchner Sicherheitskonferenz 2009
(4) Guy Verhofenstadt, Romano Prodi, Romano: Preface, in: Nicole Gnesotto: Reshaping EU-US Relations: A Concept Paper, Notre Europe, März 2010
(5) Towards a Grand Strategy for an Uncertain World. Renewing Transatlantic Partnership, Lunteren 2007. Die Studie erschien beim Center for Strategic and International Studies (CSIS)
(6) Kleine Zeitung, 22.5.2012