Der Libyen-Krieg als Angriff auf das Völkerrecht zur Schaffung von Groß-Europa
Europas Machteliten träumen bereits wieder davon, “das Reich der Römer oder Napoleons zurückzuerobern.” Der Libyen-Krieg dient ihnen dazu, die völkerrechtlichen Hindernisse für ihre Großmachtsambitionen aus dem Weg zu räumen. Pierre Levy, Herausgeber von “Le Nouveau Bastille-République-Nations”, vermittelt Einblicke in die französische Debatte.
Beim EU-Gipfel am 24./25. März 2011 kam es in Brüssel zu einer interessanten Szene. Es war beinahe ein Uhr morgens. Der französische Präsident Sarkozy marschiert ins Pressezentrum. Gefragt zu den Bombenangriffe auf Libyen, die fünf Tage zuvor begonnen hatten, jubelte er: „Das ist ein historischer Augenblick. Was derzeit in Libyen geschieht, schafft neues Recht… es ist ein Wendepunkt in der Außenpolitik Frankreichs, Europas und der ganzen Welt”. Tatsächlich enthüllte Nicolas Sarkozy, was wahrscheinlich das am wenigsten sichtbare aber das vielleicht wichtigste Ziel dieses Krieges ist. An diesem Morgen beschrieb auch der Sonderberater des UN-Generalsekretärs, Edwar Luck, die Resolution als „historisch“, die das furchterregende Prinzip der „Verantwortung zum Schutz“ zum ersten Mal in die Praxis umgesetzt hatte, seit es im Jahr 2005 angenommen wurde.
Vorwand für Angriffskrieg
Dieser „Schutz von ZivilistInnen“ ist nicht nur eine himmerschreiende Heuchelei der westlichen Führer. Vor allem stellt sie einen Vorwand für Angriffskriege dar, absolut im Gegensatz zu den Grundsätzen der UN-Charta: Der Souveränität und der Gleichheit jedes Staates vor dem Recht.
Die sog. „Internationale Gemeinschaft“ ist kein Anfänger, wenn es um bewaffnete Interventionen auf souveräne Staaten geht. Aber es ist das erste Mal, dass der UNO-Sicherheitsrat ausdrücklich dafür grünes Licht gegeben hat. Auch der Generalsekretär Ban Ki-Moon spielte eine aktive Rolle bei der Entfesselung des Krieges. Wir müssen die vollen Auswirkungen beachten: Ein brutaler Angriff auf die Souveränität eines Staates wurde legalisiert – wenn auch nicht legitimiert. Die herrschenden Oligarchien auf dieser Welt, denen es letztlich um Weltherrschaft geht, haben dadurch einen wichtigen Sieg errungen: „Präventiver“ Interventionismus kann fortan zur Regel werden.
Dieses Konzept, das ausdrücklich der Charta der Vereinten Nationen widerspricht, ist eine Zeitbombe: Es untergräbt alle Grundfesten, auf denen das Völkerrecht ruht und kann eine veritable Rückkehr zur Barbarei in den internationalen Beziehungen auslösen. Die kompromisslose Verteidigung des Prinzips der Nicht-Einmischung stammt nicht von irgend- welchen archaischen oder fundamentalistischen Überlieferungen, sondern in erster Linie von einem Grundprinzip: Es ist die Angelegenheit jedes einzelnen Volkes allein, seine eigene Zukunft zu bestimmen. Ansonsten verliert jede Vorstellung von Politik ihre Bedeutung.
Eine einzige Ausnahme führt zur Aushöhlung des Rechts
Es ist bei Militärinterventionen genau so wie bei der Folter. Grundsätzlich sind zivilisierte Menschen gegen die Anwendung von Folter – aber jemanden kann man immer finden, der darauf besteht, dass in „Extremfällen“ eine Ausnahme gemacht werden sollte („um mörderische Angriffe zu verhindern“, wie es man es während des Algerienkriegs sagte, „um Massaker an ZivilistInnen zu verhindern“, wie es die Rechtfertigung im Elysee und sonstwo heute ist). Aber wie die Erfahrung zeigt, wenn eine Ausnahme gewährt wird, sind es bald zehn, dann hundert, die man genehmigt, sobald man die erbärmliche Debatte akzeptiert, die das Leiden eines gefolterten Menschen mit dem Nutzen abwägt, den man daraus zieht. Genauso verhält es sich mit dem Respekt vor der Souveränität von Staaten: Eine einzige Ausnahme führt zur Aushöhlung des Rechts. Es gibt keinen Umstand, der eine militärische Intervention rechtfertigt. Nehmen wir an, Nicolas Sarkozy würde eine Politik verfolgen, die in völligem Gegensatz zu den Interessen seines Landes und der Menschen wäre (natürlich eine vollkommen absurde Hypothese) – auch das würde der Libyschen – oder bengalischen oder ghanaischen – Luftwaffe kein Recht geben den Champs Elysée zu bombardieren.
"Den Raum der Römer zurückerobern.“
Es lässt sich kaum vermeiden, an die Rede von Nicolas Sarkozy im Jänner 2007 in Strasbourg zu denken, als er sich während einer Wahlkampagne als „überzeugter Europäer“ präsentierte. Bei dieser Gelegenheit glorifizierte er „den zerschlagenen Traum von Karl den Großen und des Heiligen Römischen Reiches, der Kreuzritter, des großen Schismas zwischen östlicher und westlicher Christenheit, den gefallenen Ruhm von Ludwig XIV und Napoleon…“ Und er setzte fort: „Europa ist heute die einzige Kraft, die das Projekt der Zivilisation vorwärts bringen kann.“ Um dann zur Schlussfolgerung zu kommen: „Ich möchte der Präsident Frankreichs sein, der das Mittelmeer in den Prozess der europäischen Wiedervereinigung nach zwölf Jahrhunderten der Spaltung und schmerzlicher Konflikte einbringt. Amerika und China haben bereits mit der Eroberung Afrikas begonnen. Wie lange wird Europa warten, um das Afrika von morgen zu errichten? Während Europa zögert, gehen die anderen voran.“
Da wollte sein Gegenspieler Dominique Strauss-Kahn nicht zurückstehen. Zur selben Zeit formulierte dieser das Verlangen, dass Europa „vom ewigen Eis der Arktis im Norden bis zu den Wüsten der Sahara“ reichen möge und „dass Europa, wenn es existieren will, das Mittelmeer als internes Meer wiederherstellen muss. Es muss den Raum zurückerobern, den die Römer oder Napoleon zusammenzuführen versuchten.“ Vergessen wir bei der Gelegenheit nicht, dass die höchste Auszeichnung, die von der EU verliehen wird, der sog. „Karlspreis“ ist – ein Hinweis darauf, was die EU-Integration von ihren Anfängen an war und niemals aufhörte zu sein: ein durch und durch imperiales und marktradikales Projekt.
Worum es geht, ist nicht, dass Gaddafi ein unschuldiger Sängerknabe gewesen wäre, sondern welche Zukunft die Welt haben wird: Die freie Wahl jedes Volkes, über die eigene Zukunft zu bestimmen, oder die Akzeptanz von Militärinterventionen als die Norm - im Gewand der „Menschenrechte“.
Barriere gegen das Recht des Dschungels
Denn eine offensichtliche Tatsache sollte nicht vergessen werden: Interventionen sind niemals etwas anderes gewesen und werden niemals etwas anderes sein als die Einmischung der Starken in die Angelegenheiten der Schwachen. Der Respekt vor der Souveränität in den internationalen Beziehungen bedeutet dasselbe wie das gleiche Stimmrecht für StaatsbürgerInnen: sicherlich keine absolute Garantie – weit davon entfernt – aber eine unabdingbare Barriere gegen das Recht des Dschungels. Dieses Recht des Stärkeren könnte bald die Weltbühne beherrschen. Wenn das alles zu abstrakt erscheint, kehren wir zur jüngsten Geschichte Libyens zurück. Nach Jahren, in denen Libyen einem Embargo unterworfen war und als Pariah behandelt wurde, unternahm Gaddafi Schritte der Annäherung an den Westen, die in einem offiziellen Verzicht auf alle atomaren Waffenprogramme Gestalt annahm – im Gegenzug wurde ihm, besonders von Washington, eine Nicht-Angriffs-Garantie versprochen. Acht Jahre später sehen wir, dass diese Verpflichtung nur solange dauerte, bis der Westen einen Grund fand, darauf herumzutrampeln. Nun kann in allen vier Himmelsrichtungen jeder selbst ermessen, was das Wort wert ist, das von den Mächtigen gegeben wird und wie wertvoll ihre Zusagen sind.
Wenige Wochen vor Libyen gab der UN-Sicherheitsrat seinen Segen für Kanonenboot-Diplomatie in der Cote d´Ivoire (Elfenbeinküste) – einzig und allein unter dem Vorwand der Vermutung von Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen.
Schon jetzt polieren die Westmächte ihre (militärischen und ideologischen) Waffen für die nächsten Abenteuer. Paddy Ashdown, vier Jahre lang Hoher Repräsentant der EU in Bosnien-Herzegowina, vertraute der „Times“ an, dass wir von nun an das „Libysche Modell“ der Intervention einsetzen und uns daran gewöhnen sollten, im Unterschied zum „Irakischen Modell“ der massiven Invasion, das sich als unangemessen erwiesen habe. Der NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen für seinen Teil machte eine Appell an die EuropäerInnen, ihre militärischen Mittel in der Phase budgetärer Einschränkungen besser zu bündeln, denn – so Rasmussen, „wie Libyen bewiesen hat, können wir zwar nicht wissen, wo die nächste Krise kommt, aber sie wird kommen.“ Das zumindest ist klar.
KOMMENTAR:
Römische Lektion
“Die alten Römer kannten einen erfolgreichen Trick, um den eigenen Einfluss zu erweitern: An der Grenze ihres Reiches schürten sie unter verfeindeten Stämmen bestehende Konflikte, bis diese eskalierten. Mit der Begründung, der Krieg im Nachbarland gefährde die Sicherheit Roms, erreichten die Militärs, dass ihnen der Senat die notwendigen Mittel für ein Einmischen bereitstellte. Anschließend griffen die römischen Truppen auf Seiten des Schwächeren in den Krieg ein, verhalfen diesem zum militärischen Durchbruch und unterwarfen ihn anschließend selbst. Am Ende hatten sie ihre Macht auf ein neues Gebiet ausgeweitet, das sie dem Römischen Reich einverleibten. Wenn man die Einmischung der NATO, genauer Frankreichs, Großbritanniens und der USA sowie einzelner weiterer Staaten, in den Bürgerkrieg in Libyen analysiert, erscheint einem das römische Beispiel plötzlich gar nicht mehr so abwegig.”