ImageSeitdem die Westmächte den "Regime-Change" in Libyen herbeigebombt haben, ist es in den westlichen Medien zum Thema Libyen auffallend ruhig geworden. Wir bringen einen Bericht von Angelika Grusche, die auf Grund ihrer vielen Reisen mit dem Land und der Region vertraut ist, über die aktuelle Lage in Libyen. Dieser Bericht könnte auch erklären, warum die westlichen Medien so schweigsam geworden sind.

Libyen ist nicht Afghanistan, hier leben keine wilden Bergstämme, in denen sich ein mittelalterlicher Islamismus mit einem kämpferischen Ehrenkodex paart. Unter Gaddafi war der Schulbesuch für alle Kinder, ob Jungen oder Mädchen, Pflicht, viele Libyer studierten im europäischen Ausland. Libyen liegt nicht am Hindukusch, sondern am Mittelmeer, nur einen Steinwurf von Malta und Sizilien, also der Europäischen Union entfernt. Dazu steht auch nicht im Widerspruch, dass überproportional viele Libyer unter den Dschihadisten sind, die sich in Afghanistan und anderswo der Al Kaida anschlossen. In einem Land, in dem der islamistische Extremismus keine Chance hatte, bleibt nur der Gang ins Ausland.

Libyen war auch kein armes Land, dessen Menschen von einer kargen Landwirtschaft leben, sondern das Land war durch seine Öl-, Gas- und Wasservorkommen reich und die große Mehrzahl der Bevölkerung wohlhabend. Viele Gastarbeiter aus den umliegenden Ländern fanden in Libyen einen Broterwerb, die einfachen Arbeiten ließ man von Immigranten aus Schwarzafrika verrichten. Deshalb wird die bisherige und auch die weitere politische Entwicklung nicht mit jener in Ägypten oder Tunesien zu vergleichen sein, in deren Gesellschaften immer mehr Menschen in immer größere Armut abrutschen. Auch wurden in diesen Ländern die neuen politischen Verhältnisse nicht durch Nato-Bomben erzwungen. Libyen könnte den US-amerikanischen Pläne zur Umgestaltung des Nahen Ostens ein Begräbnis erster Klasse bereiten.

Wie jetzt auch in Syrien wurden in Libyen die bewaffneten Kämpfe gegen die Regierung in der Hauptsache von radikalen islamistischen Brigaden getragen, die vom Westen und den Golfstaaten mit Waffen und Geld versorgt wurden. Und genauso wie in Syrien, wo laut seriösen Umfragen inzwischen etwa siebzig Prozent der Syrer Assad unterstützen sollen1, kann auch in Libyen der politische Islamismus mit keiner Mehrheit in der Bevölkerung rechnen.

Im Jahre 2011 war es trotz der immensen Unterstützung aus dem Westen und den Golfstaaten und der militärischen Schwäche Gaddafis den „Aufständischen“-Brigaden auch nach monatelangen Kämpfen nicht gelungen, einen Sieg über die regulären Truppen zu erzielen. Im Gegenteil, die „Aufständischen“ wurden immer weiter zurückgedrängt und nur die hemmungslose Bombardierung des Landes durch die Nato und deren Einsatz von Spezialeinheiten konnte ihre Niederlage und einen Sieg der libyschen Armee verhindern2. Die Islamisten fanden bei der libyschen Bevölkerung nicht den nötigen Rückhalt, genauso wie große Teile des libyschen Volkes das Eingreifen der Nato verurteilten, die mit ihren Bomben die gesamte Infrastruktur des Landes zerstörte und Zehntausende von Toten hinterließ. Auch wenn etliche Libyer inzwischen das System Gaddafi als überholt ansahen und sich eine ernst zu nehmende Opposition gebildet hatte, war das Letzte was man sich wünschte, dass Islamisten die Macht im Land übernahmen und der Westen Libyen und damit seine Öl- und Wasservorkommen kontrolliert.

Nach der bestialischen Ermordung Gaddafis wurde ein pseudo-demokratisches System unter Ausschluss der Dschamahirija-Anhänger errichtet.  Positive Äußerungen über Gaddafi und die Dschamahirija wurden geahndet, grüne Flaggen – grün ist die Farbe der Dschamahirija – verboten. Echte und vermeintliche Dschamahirija-Anhänger wurden und werden verfolgt, eingesperrt, gefoltert, getötet. Listen mit ihren Namen zirkulieren im Internet.

Wie bereits in Irak und Afghanistan stellte sich auch in Libyen schnell heraus, dass die für den Libyen-Krieg Verantwortlichen keinerlei Konzepte für eine tragfähige politische Neugestaltung des Landes vorzuweisen hatten. Die „Aufständischen“ hatten unter der Fahne des alten Königreichs gekämpft. Doch eine institutionelle Monarchie nach Vorbild des heutigen Marokko oder Jordanien wiederzubeleben stellte sich schnell als Illusion heraus. Zu sehr erinnerte man sich in Libyen an den letzten König Idris, der das Land praktisch komplett den Amerikanern und Engländern zur Ausbeutung überlassen hatte. Die Staatsform der Monarchie hat keinen zukunftsweisenden Charakter, auch nicht in islamischen Ländern, schon gar nicht in so gut entwickelten wie Libyen einst eines war.

Also versuchte man sich in Wahlen. Doch obwohl alle Grünen Kräfte von der Wahl ausgeschlossen wurden, spielten zur großen Überraschung die Islamisten keine überragende Rolle im neuen Parlament. Doch sind sie aufgrund ihrer Bewaffnung und militärischen Stärke immer noch der bestimmende machtpolitische Faktor im Land.

Inzwischen ist das Volk nicht nur unzufrieden, sondern zornig: Es  herrschen Angst und Unsicherheit, der Wohlstand ist dahin, auf den Straßen sieht man Bettler und Obdachlose, die Korruption blüht wie nie zuvor, die Petrodollars verschwinden in dunklen Kanälen, die Rechte der Frauen wurden eingeschränkt, islamistische Brigaden terrorisieren Parlament und Bevölkerung. So verwundert es nicht, dass sich ein breiter Protest gegen die politischen Zustände und die Milizen bildete, an deren Spitze sich der nach schweren Niederlagen wieder neu formierte Grüne Widerstand gesetzt hat.

Die Lage in Libyen spitzt sich immer weiter zu. Seit dem letzten Wochenende kam es zu zahlreichen Angriffen auf Kontroll- und Stützpunkte der Militärbrigaden sowie auf das Hauptquartier der Polizei in Bengasi. Die Aufständischen, die sich zum Grünen Widerstand zählen dürften, also zu den Anhängern der Dschamahirija Gaddafis, konnten zahlreiche militärische und polizeiliche Gebäude in Brand setzen und eine Menge Waffen erbeuten. Im Moment ist die Situation noch immer angespannt, der Flughafen von Bengasi geschlossen, die Armee in Alarmbereitschaft.

Die offiziellen Kräfte in Libyen haben die Kontrolle über das Land verloren. Der Süden, also der Teil der Sahara, der zu Libyen gehört und an Nordmali, Niger und Algerien grenzt, bleibt völlig unbeherrschbar. Der Grüne Widerstand hatte dort bereits im April in der Garnisonsstadt Sebha eine Polizeistation erfolgreich angegriffen. Es kam in Sebha auch zu einer Gefängnisrevolte, bei der fast allen Häftlingen, in der Hauptsache Gaddafisten, die Flucht gelang.

Doch auch in der Hauptstadt Tripolis überstürzen sich seit Ende April die Ereignisse. Es erfolgte die Explosion einer Autobombe vor der französischen Botschaft, wenige Tage später zerstörte eine Bombenexplosion das Polizeikommissariat in Bengasi. Am 28. April wird aus Tripolis gemeldet, dass mit Maschinengewehren bewaffnete islamische Milizen aus der Stadt Misrata einen Fernsehsender und das Innenministerium gestürmt haben sowie das Außenministerium umstellten. Sie wollten ein Gesetz erzwingen, das für alle während der Gaddafi-Ära in Ämtern gewesenen Personen jede politische Tätigkeit untersagt und die Entlassung aus Regierung und Verwaltung vorsieht. Dieses sogenannte „Isolationsgesetzt“ wurde am 5. Mai vom libyschen Parlament verabschiedet, doch bereits am 17. Juni erklärte der libysche Premierminister Ali Zeidan, dass das Gesetzt nicht umgesetzt werden könne, da zu viele unentbehrliche Personen und Fachkräfte davon betroffen wären – unter anderem er selbst: Er gehörte unter Gaddafi dem diplomatischen Dienst an.

Zwischenzeitlich demonstrierten in Tripolis Zehntausende gegen die ehemaligen Bürgerkriegsmilizen und deren Terror. Verteidigungsminister Mohammed al Barghati trat zurück, offiziell aus Protest gegen das mit Waffengewalt durchgesetzte „Isolationsgesetzt“, inoffiziell wohl eher wegen seiner Unfähigkeit, die bewaffneten Milizen unter die Kontrolle des Staates zu bekommen. Kurz darauf zog er seinen Rücktritt wieder zurück. Auch Übergangspräsident und Parlamentschef Mohammed al Margarief trat aus Protest von seinem Amt zurück: Auch er diente unter Gaddafi als Diplomat. Sollten alle ehemaligen Gaddafi-Beamten und -mitarbeiter wirklich ihre Jobs und Posten verlieren, auf welche Seite im politischen Kampf um Libyen werden sie sich schlagen?

Immer häufiger kam es zu nächtlichen Schießereien und Explosionen in Tripolis, in Bengasi wurden weitere Polizeidienststellen überfallen, die Explosion einer Autobombe fordert Tote und Verletzte, auch in Tripolis gehen Bomben hoch, zu denen sich niemand bekennt.

Wie ernst die Lage ist, zeigte sich Mitte Mai als Großbritannien erklärte, es werde seine Mitarbeiter aus seiner Botschaft in Tripolis wegen „anhaltender politischer Unsicherheit“ abziehen. Das britische Außenministerium warnte vor Reisen unter anderem nach Tripolis und Misrata. Das US-Außenministerium hatte schon vorher bekannt gegeben, dass es sein Personal aus Tripolis abziehen würde, dem schloss sich kurz darauf das Ölunternehmen BP an und zog sein Büropersonal aus Tripolis ab. Das Pentagon versetzte eine in Stuttgart stationierte Sondereinheit sowie eine Abteilung der Marines im spanischen Moron wegen der Eskalation in Libyen in erhöhte Bereitschaft und verlegte zum Schutz von US-Bürgern in Libyen 500 Marineinfanteristen nach Sizilien.

Erwähnt werden sollte vielleicht noch, dass die tunesische Zeitung Al-Chourouk Ende Mai von zwei Trainingslager in Libyen berichtete, eines nahe bei Tripolis, ein anderes in 150 Kilometer Entfernung, in denen Dschihadisten für den Einsatz in Syrien vorbereiten werden, während in Bani Walid, der Hochburg der Gaddafisten, sich eine Solidaritätsbewegung für Syrien und seinen Präsidenten Assad gründete. In der Stadt kam es zu Demonstrationen.

In Nalut, eine Berberstadt nahe der tunesischen Grenze, wurde ein Regierungsposten von Zivilisten angegriffen. Nur zehn Prozent der noch im Land verbliebenen Libyer – sehr viele Libyer verließen während der Angriffe durch die Nato und nach dem Sturz Gaddafis das Land – sollen die aktuelle Regierung unterstützen.

Doch damit nicht genug. Anfang Juni nutzte Ahmed El Senussi Zoubeiri, ein Verwandter des früheren Königs Idris und Ratsvorsitzender der libyschen Provinz Barqah, die Schwäche der Regierung und rief die Unabhängigkeit der Provinz Barqah aus. Das libysche Parlament setzte zur Untersuchung dieser Vorgänge ein Sonderkomitee ein.

Als im Juni in Bengasi bei Kämpfen zwischen Demonstranten und bewaffneten Milizen über dreißig Menschen ums Leben kamen und mehr als hundert verletzt wurden, musste auch der Stabschef der libyschen Armee, Yousef Mangoush, zurücktreten.

Russland zeigte sich über die bewaffneten Konflikte in Bengazi sehr besorgt und rief alle Seiten zur Besonnenheit auf. Derweil bemühte sich die libysche Regierung um eine Kontaktaufnahme mit Russland, um Waffen zu kaufen und ausgesetzte Verträge wieder aufzunehmen. Die  Nato gab bekannt, sie will zukünftig Militärhilfe für Libyen leisten, um die dortigen Sicherheitskräfte zu unterstützen.

Ein neues Kräftemessen um die Macht in Libyen und die Zukunft des Landes hat begonnen. An dessen Ende wird das Scheitern der amerikanischen Umgestaltungspläne für die arabischen Länder stehen, so wie es sich auch in Syrien abzeichnet. Amerika hat zwar die Karten im Machtpoker um Einfluss und Öl neu gemischt, doch ist der Wendepunkt in Libyen erreicht. Zu viele unbekannte Joker sind im Spiel.

(Erstabdruck in: Der Freitag, 22. Juni 2013)

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