Thierry Breton, Industriekommissar der EU, fordert schon seit dem Vorjahr, dass sich Europa „auf einen Kriegswirtschaftsmodus umstellen“ muss. Jetzt liefert die EU-Kommission dafür die legistischen Grundlagen. Und zwar in Form der „European Defence Industry Strategy“ (EDIS) - als gemeinsame Mitteilung an EU-Rat und EU-Parlament - und des „European Defence Industry Programme“ (EDIP) - als Vorschlag für eine EU-Verordnung.
Gleich zu Beginn werden die Ziele schnörkellos umrissen: „In Zeiten von Kriegshandlungen mit hoher Intensität bedarf dies der Fähigkeit, Verteidigungsgüter wie Munition, Drohnen, Luftabwehrraketen und -systeme, Tiefschlag- sowie Nachrichtengewinnungs-, Überwachungs- und Aufklärungsfähigkeiten in großem Umfang herzustellen und ihre rasche und ausreichende Verfügbarkeit zu gewährleisten. Um diese Massenproduktion zu ermöglichen, muss die Organisation der Verteidigungsindustrie weiterentwickelt werden. […] Eine Industrie, die in neue Kapazitäten investiert und bereit ist, bei Bedarf zu einem für Kriegszeiten geeigneten Wirtschaftsmodell überzugehen, ist von entscheidender Bedeutung.“ (1) Zwar freut sich die EU-Kommission, dass „der Verteidigungsmarkt in der EU zwischen 2017 und 2023 um 64% gewachsen ist“ (2), doch noch immer werde viel zu viel Geld für US-Waffen ausgegeben, erfolgt die Beschaffung rein national.
Mehrwertsteuerbefreiung
In Zukunft soll als Leitmotiv gelten: „Mehr, besser, gemeinsam und in Europa investieren.“ (3) So sollen die EU-Staaten den Anteil der Rüstungsgüter, die sie innerhalb der Union beschaffen, bis zum Jahr 2030 auf mindestens 50 Prozent, bis 2035 dann auf 60 Prozent anheben. Zudem sollen sie bis 2030 mindestens 40 Prozent ihrer Rüstungskäufe gemeinsam mit anderen Mitgliedern tätigen. Nur so können die entsprechenden economy of scale erreicht werden und Rüstungsgiganten entstehen, die mit der US-Rüstungsindustrie mithalten können. Die Mitgliedsstaaten sollen daher ihre Nachfrage nach Waffen bündeln. Die Kommission will dafür einen neuen Rechtsrahmen – die Struktur für das Europäische Rüstungsprogramm (SEAP) – zur Verfügung stellen (4). Der finanzielle Anreiz ist mit 1,5 Milliarden Euro vorerst gering, gewichtiger ist allerdings, dass die Mehrwertsteuer entfallen soll, wenn zumindest drei EU-Staaten ihre Rüstungsbeschaffung zusammenlegen.
Militärisch-industrieller Komplex erhält Führung
Doch nationale Rüstungspläne sind manchmal unwägbar, möglicherweise immer noch demokratisch beeinflussbar. Um die Entscheidungsfindung zu zentralisieren, soll deshalb ein „Ausschuss für die industrielle Bereitschaft im Verteidigungsbereich“ eingerichtet werden, der unter Führung der EU-Kommission die Mitgliedsstaaten dazu bringen soll, „1) die gemeinsame Programmplanungs- und Beschaffungsfunktion der EU im Verteidigungsbereich wahrzunehmen und 2) die Umsetzung des EDIP zu unterstützen.“ (5) Der militärisch-industrielle Komplex (MIK) soll also ein Führungsgremium erhalten. Die Arbeit dieses „kriegswirtschaftlichen Ausschusses“ wird durch eine „hochrangige Gruppe“ der Rüstungsindustrie verstärkt, die „für eine wirksame Zusammenarbeit zwischen Staaten und der Industrie und für einen intensiveren Dialog und mehr Engagement sorgen soll“ (6). Gemeinsam mit der Pesco/EU-SSZ, der Rüstungsagentur und dem rüstungsindustriellen Evaluierungsmechanismus (CARD), dem sich die EU-Staaten Jahr für Jahr unterziehen müssen, würde damit ein militärisch-industrielles Geflecht entstehen, das den Rüstungsmotor beständig ankurbelt. Der „Capability Developement Plan“ (CDP) der EU-Rüstungsagentur gibt die Marschroute vor (7). Dieser reicht von allen Arten der Bodenkampffähigkeit, des Seekampfs, des Unterwasser- und Meeresbodenkrieges über Luftkampfplattformen, Drohnen, Lufttransport und integrierte Raketen- und Luftabwehr, Waffen zur Führung des Kriegs im Weltraum und Cyberraum bis hin zu einem ehrgeizigen Programm, um Straßen und andere Transportwege „panzerfit“ zu machen, damit das Kriegsgerät rascher Richtung Osten rollen kann.
„Kanonen ohne Butter“
Was sich hinter diesem EU-Katalog der Aufrüstung an finanziellem „Sprengstoff“ verbirgt, hat Greenpeace am Beispiel eines dieser Waffensysteme, des Luftkampfsystems FCAS, berechnet (8). Von der Forschung, Entwicklung, Beschaffung bis hin zum Betrieb und Unterhalt kostet dieses deutsch-französisch-
Kriegswirtschaftliche Ermächtigung
Neben der Zentralisierung der Nachfrage nach Kriegsgerät geht es der EU-Kommission auch um die Zentralisierung des Angebots, um ein Hochfahren der Produktion mit einer möglichst autarken EU-Kriegswaffenindustrie zu gewährleisten. Dafür behält sich die EU-Kommission eine Reihe von Kontroll- und Eingriffsrechten vor, die ganz offen kriegswirtschaftliche Züge tragen. So will sie die Lieferketten für wichtigere Rüstungsgüter sorgfältig registrieren und überwachen. Das gilt nicht nur für einzelne Bauteile, sondern auch für strategische Rohstoffe. Mit einem derartigen „mapping“ und „monitoring“ erhalte man Einblick in die Kapazitäten der EU-Rüstungsproduktion „nahezu in Echtzeit“, was die Voraussetzung dafür bietet, im Falle plötzlich auftretender Mängel Abhilfe zu schaffen (10). Dazu will die Kommission das Recht erhalten, im Krisen- oder Kriegsfall in die Produktion einzugreifen und die Herstellung kriegswichtiger Güter zu Lasten ziviler Produkte zu priorisieren. Ob ein Krisenfall vorliegt, soll die Kommission „mit Unterstützung“ des EU-Außenbeauftragten entscheiden dürfen (11).
„Ambitionierte Finanzausstattung“
Die Pläne der EU-Kommission sind ambitioniert, aber noch setzen die überschaubaren finanziellen Mittel, auf die man direkt zugreifen kann, Grenzen. Noch. Denn auch dies soll sich bald ändern: „Im Hinblick auf das Ausmaß der Anstrengungen, die erforderlich sind, um die industrielle Bereitschaft im Verteidigungsbereich in der gesamten Union sicherzustellen, sind diese Mittel als eine – vom Umfang her begrenzte – Brücke zum nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) zu betrachten. In Anbetracht dessen, dass die sicherheitspolitischen Herausforderungen, mit denen Europa konfrontiert ist, wahrscheinlich bestehen bleiben werden, ist es umso wichtiger, dass der nächste MFR für den Zeitraum ab 2028 eine ambitionierte Finanzausstattung für die Verteidigung mit entsprechenden Haushaltsmitteln für die Nachfolgeinstrumente des Europäischen Verteidigungsfonds und des EDIP umfasst.“ (11) Im Jänner 2024 hat EU-Industriekommissar Thierry Breton im Zusammenhang mit der geplanten Vorstellung von EDIS und EDIP die Idee eines eigenen EU-Rüstungsetats ventiliert: „Um sicherzustellen, dass die gesamte Industrie mehr und mehr zusammenarbeitet, brauchen wir Anreize […]. Ich glaube, dass wir einen riesigen Verteidigungsfonds brauchen, um zu helfen, ja sogar zu beschleunigen. Wahrscheinlich in der Größenordnung von 100 Milliarden Euro.“ (12)
Herz- und Lungenmaschine
Für die Umsetzung der EDIS und des EDIP soll nach dem Willen der EU-Kommission ein neuer EU-Verteidigungskommissar verantwortlich sein. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat zugesagt, diesen Posten eines „Kriegswirtschafts-Kommissars“ umgehend einzurichten, sobald sie im Amt bestätigt ist. Allerdings müssen die geplanten Maßnahmen noch vom Europäischen Parlament und vor allem von den EU-Mitgliedstaaten genehmigt werden. Da kann es noch einiges an Rangelei um Posten, Pfründe und nationalen Einfluss geben. Doch entscheidend ist: Die Lokomotive des militärisch-industriellen Komplexes (MIK) kann auf EU-Ebene nicht aufgehalten werden. Die EU ist nicht bloß ein guter Resonanzboden für die Interessen der Rüstungsindustrie, die EU selbst ist die Herz-Lungen-Maschine des MIK. Das beginnt mit dem EU-Primärvertrag, wo – einzigartig in der Welt – die Verpflichtung zur militärischen Aufrüstung festgehalten ist. Über Auf- oder Abrüstung kann nicht demokratisch entschieden werden, die Aufrüstung ist Gebot und Verpflichtung in der EU, die sich Wahlen entzieht. Ein Geflecht von Institutionen sorgt dafür, dass die Militarisierung der EU vorangetrieben wird: die Rüstungsagentur, die Ständig Strukturierte Zusammenarbeit mit ihren mittlerweile 72 konkreten Rüstungsprojekten, der EU-Rüstungsfonds, die EU-Kriegskasse namens „Friedensfazilität“. Auch die militärischen Strukturen haben über die Jahre Gestalt angenommen: Die Militarisierung der Außengrenzen über Frontex, die EU-Battlegroups und die Schnelle EU-Eingreiftruppen ab 2025, erstmal geführt über ein eigenes EU-Oberkommando; im Konzept der „Rahmennationen“ hat Deutschland eine Strategie entwickelt, die Armeen kleiner EU-Staaten sukzessive in die Kommandostrukturen der deutschen Bundeswehr einzugliedern. Das alles sind Schritte hin zu einer „Armee der Europäer“ (Ursula von der Leyen).
„Konkurrenz der großen Mächte“
Die kriegswirtschaftlichen Ermächtigungen für die EU-Kommission sind ein weiterer Baustein auf dem Weg der EU zu einer imperialen Militärmacht. Es ist naiv anzunehmen, dass dieser Pfad erst mit dem Krieg Russlands in der Ukraine begonnen hat. Schon im Maastricht-Vertrag (1992) ist dieser Weg grundgelegt und wird seither – mit Widersprüchen, aber mit großer Beharrlichkeit – über die EU-Technokratie und die Eliten der großen EU-Staaten fortgeführt. Wladimir Putin hat mit seinem völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine der EU und ihrem MIK einen enormen Gefallen getan. Seither gerieren sich die EU-Eliten als die Verteidiger des Völkerrechts. Dass sie selbst, zumeist mit den USA, dieses Völkerrecht nach Strich und Faden gebrochen haben (Jugoslawien, Afghanistan, Libyen …), wird dabei geflissentlich ausgeblendet. Die Entfaltung des MIK braucht und produziert immer wieder Konflikte und Kriege. Denn nur indem immer wieder die „Konkurrenz großer Mächte“ (13) beschworen wird, kann in der Bevölkerung die Angst geschürt werden, die es braucht, um die Zumutungen von Aufrüstung und Krieg zu schlucken. Auch die mögliche Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten wäre Wasser auf die Mühlen einer eigenständigen EU-Militarisierung.
Damit soll keine Hoffnungslosigkeit verbreitet werden. Der MIK steht in groteskem Widerspruch zu den Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung an Frieden, Abrüstung, sozialer Sicherheit und Klimagerechtigkeit. Hoffnungslos wird die Situation nur dann, wenn wir uns nicht aus der EU-Fixierung lösen können. Die Neutralität Österreichs bietet einen Strauß an Möglichkeiten, friedenspolitisch aktiv zu werden, der geopolitischen Konkurrenz der Großmächte entgegenzutreten und Verbündete dafür auf der ganzen Welt zu finden. Doch wie Othmar Karas einmal in einem Anflug von Wahrhaftigkeit festgehalten hat: „Die Neutralität entspricht weder dem Geist der EU noch dem Buchstaben des Lissabon-Vertrages“ (14). Wenn wir die Neutralität erhalten und wieder gewinnen wollen, müssen wir mit Geist und Buchstaben des EU-Vertrages brechen. Wir brauchen also letztlich den EU-Austritt. Diese Wahrheit muss zumutbar sein.
Gerald Oberansmayr
Anmerkungen:
(1) EU-Kommission, European Defence Industry Strategy (EDIS), 5.3.2024, Seiten 4, 8
(2) EDIS, Seite 17
(3) EDIS, Seite 2
(4) EDIS, Seite 14
(5) EDIS, Seite 9
(6) EDIS, Seite 10
(7) https://eda.europa.eu/what-we-
(8) https://www.greenpeace.de/
(9) www.zdf.de, 22.2.2024
(10) EU-Kommission, European Defence Industry Programme (EDIP), 5.3.2024, Seite 62
(11) EDIS, Seite 28
(12) Aurélie Pugnet, EU-Verteidigungsindustrie: Breton schlägt 100-Milliarden-Euro-Fonds vor, euractiv.com, 10.1.2024
(13) Ursula von der Leyen, Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz, 15.2.2019
(14) Standard, 29.1.2013