
Um die Abwärtsspirale, in der sich Libyen seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des Westensund ihrer arabischen Verbündeten in ihrem gesamten Ausmaß zu verdeutlichen, ist es wiederholt wichtig, sich durch einen kurzen Rückblick den Entwicklungsstand Libyens vor dem abscheulichen Verbrechen, zu vergegenwärtigen.
Trotz der stark umstrittenen Person des einstigen autoritären Staatsoberhauptes Gaddafi gab es in Libyen äußerst bemerkenswerte soziale Errungenschaften und wirtschaftliche Entwicklungen. Libyen erreichte bis 2010 als einziges afrikanisches Land den Status „hohe Entwicklung“. Der größte Teil der Exporteinnahmen wurde zugunsten der Bevölkerung in Dienstleistungen investiert.
Dies zeigte sich unter anderem in einem kostenlosen Schulsystem. Der Alphabetisierungsgrad lag bei 90%, mehr als die Hälfte der Schüler besuchte nach der Pflichtschule eine höhere Schule. Immer mehr Frauen absolvierten einen hochqualifizierten Bildungsabschluss, meist an Universitäten. Dies trug, im Gegensatz zu den meisten anderen muslimischen Staaten, dazu bei, dass der Anteil von Frauen im formalen Arbeitsbereich zirka 30% betrug. Auch die Familienplanung wurde zusehends immer häufiger von den Frauen bestimmt. Sehr bemerkenswert war auch das kostenlose Gesundheitssystem. Es gab 1500 Kliniken und 100 Krankenhäuser. Libyen hatte die WHO-Erklärung von Alma-Ata umgesetzt und es wurde ein 100% Zugang zu den Gesundheitsdienstleistungen bestätigt (aus online-Nachrichten: Telepolis) Frischvermählte bekamen eine hohe Summe Geld zur Verfügung, um sich ihre erste Wohnung kaufen zu können. Ein Heim zu haben galt als unabdingbares Menschenrecht. Libyen hatte eines der höchsten Pro-Kopf Einkommen des Afrikanischen Kontinents, wobei man noch die gratis Dienstleistungen dazurechnen muss.
Da Libyen über keinen ständigen Fluss verfügt wurden sämtliche Städte und Ansiedlungen über riesige Pipelines aus einem fossilen Meer unter der Sahara mit Fließwasser versorgt. Eisenbahnlinien wurden ausgebaut, dass Telekommunikationsnetz wurde auf den neuesten Stand gebracht und vieles mehr.
Es gäbe noch eine ganze Reihe aufzuzählen, um sich bewusst zu machen, dass sich Libyen vor dem Angriffskrieg auf einem aufblühenden Entwicklungsweg befand. Verglichen mit anderen afrikanischen und arabischen Ländern herrschten in Libyen nahezu paradiesische Zustände.
Unter der autoritären Führung Gaddafis hat es sicherlich auch vieles gegeben, auch schwere Menschenrechtsverletzungen, die zu verurteilen und gegen die anzukämpfen war. Doch aufgrund des Entwicklungsweges der breiten Bevölkerung wäre es den Menschen in Libyen wahrscheinlich, ohne gewaltsame Einmischung von außen, selbst gelungen, menschenrechtswidrige Vorgehensweisen zu bekämpfen und abzuschaffen, weitere Verbesserungen einzufordern und auch umzusetzen.
Diese große, hoffnungsvolle Chance wurde vom schmutzigen Krieg des Westens in schier unerreichbare Ferne gebombt.
Der rasche Beginn des Angriffskrieges und die Sabotage sämtlicher friedlicher Lösungsvorschläge
Kurz davor nach außen noch die besten Freunde von Paris bis Wien, stand doch im Hintergrund Libyen schon auf der Abschussliste der heuchlerischen Westmächte und ihrer arabischen Verbündeten. Im Windschatten des arabischen Frühlings wurden mit Lichtgeschwindigkeit die Voraussetzungen für den NATO-Angriff geschaffen. Französische und britische Kampftruppen trainierten kurz davor im Manöver „Southern Mistral“ unter dem Tarnnamen „Southland“ die Vernichtung einer Diktatur, das anschließend enttarnt in Libyen brutalste Realität wurde. Bombardierungsziele wurden vorher von verdeckten britischen Spezialeinheiten ausgekundschaftet.Westliche Militärberater und mit Hochtechnologie ausgestattete Spezialtruppen wurden den Rebellen unterstützend zur Seite gestellt.
Die gefährliche Schwachstelle Libyens waren die Regionen im Osten des Landes, in denen sich viele Teile der Bevölkerung gegenüber dem westlichen Teilbenachteiligt fühlten. Der Teil des Landes, in dem die Islamisten ihre Hochburgen hatten und deren Ziel es war, die Rückkehr zum strengen Islam und deren Befolgung in allen Lebensbereichen (Scharia) voranzutreiben und durchzusetzen. Schon allein aus diesem Grund war Gaddafi ihr Hauptfeind, da er gegen eine Islamisierung des Landes war. Diese, für später entscheidende Gelegenheit bot sich durch die Aufstände ab Mitte Februar 2011, die von Beginn an durch massive Gewalt und Zerstörung begleitet waren. Auch für die Westmächte und ihrer arabischen Verbündeten war dies der entscheidende Moment ihre auf Hochtouren laufenden Vorbereitungen in Taten umzusetzen, um ihr Opfer bis zur völligen Vernichtung nicht mehr loszulassen. Wie immer schon wurden Kriegslügen verbreitet, wie die Gefahr eines Genozides und Luftangriffe auf Demonstranten durch das libysche Militär das selbst vom damaligen US-Verteidigungsminister, Robert Gates, mit den Worten „es gäbe hierfür keine wirklichen Beweise“, dementiert wurde. Trotzdem konnten die Westmächte im UN-Sicherheitsrat durch die Resolution 1973 die Einrichtung einer Flugverbotszone durchsetzen, die im anschließenden Vollzug aufs schändlichste missbraucht wurde, indem darauf eine 8-monatige Bombardierung des Landes erfolgte. Sämtliche Vorschläge zur friedlichen Beilegung der Konflikte seitens der libyschen Regierung, der Afrikanische Union, anfangs selbst von der türkischen Regierung wurden von den Angriffsstaaten und den sogenannten Rebellen abgelehnt und sabotiert. Im Eilestempo wurde Anfang März eine prowestliche Stellvertreterregierung für die Rebellen zusammengebastelt.
Fast 2 Millionen Menschen (Libyen hatte insgesamt 6 Mio. Einwohner) strömten am 1. Juli 2011 nach Tripolis um gegen die Barbarei der NATO und der Aufständischen zu demonstrieren und ihre Solidarität mit der damaligen Regierung kundzutun. Über 50.000 Zivilisten kamen durch das 8-monatige Bombardement und die brutale Gewalt der Aufständischen (Dschihadisten) ums Leben, 100tausende waren auf der Flucht.
„We came, we saw, he died“
Kriegsverbrechen reihte sich an Kriegsverbrechen. Von oben durch Bomben, am Boden durch die Rebellen. Es wurden Schulen, Krankenhäuser, Wohnhäuser, Supermärkte usw. bombardiert. Um das rassistische Töten von Schwarzafrikanern durch die Rebellen zu legitimieren, wurden sie als eingeschleuste Söldner für die libysche Armee dargestellt. Tawergha, eine kleine Oasenstadt nahe Misrata, war einst Heimstätte von ungefähr 40.000 dunkelhäutigen BerberInnen und SchwarzafrikanerInnen. In Tawergha wurde von den sogennannten Freiheitskämpfern unter dem Schutzschirm der Angriffsstaaten eine ethnische Säuberung, durch Gefangennahme, brutale Folter, laut HRW 1300 Hinrichtungen und die vollständige Vertreibung der einstigen Bewohner vollzogen. Sämtliche Häuser und Geschäfte wurden geplündert und in Brand gesetzt, gemeinsame Einrichtungen und die Infrastruktur zerstört. Tawergha ist heute eine Geisterstadt. Sympathiesanten und gefangengenommene Soldaten der einstigen Regierung wurden mit Kabelbindern gefesselt, abgeführt und hingerichtet.
Das Finale der ersten Etappe: Am 20. Oktober 2011 wurden 66 Gefolgsleute Gaddafis in Sirte gefangengenommen, geschlagen und hingerichtet. Mutassim (Gaddafis Sohn) wurde ebenfalls gefoltert und anschließend liquidiert. Schockierende Bilder der qualvollen Hinrichtung Muammar al Gaddafis umgeben von einer schreienden, johlenden Menge von blutrünstigen „Freiheitskämpfern“ kreisten um die Welt.
Selbst Scholl-Latour äußerte sich damals in einer ARD-Sendung, „…..nur hätte ich ihm zumindest eine Kugel in den Kopf gegönnt und nicht, dass er gepfählt wird mit einer Eisenstange. Und das ist eben eine Sauerei gewesen … jetzt stellen sie sich einmal vor, der ist gepfählt worden,…. im Zeichen der Demokratie….“. Von den westlichen Staatsoberhäuptern wurde diese bestialische Hinrichtung mit Freuden gefeiert. Hillary Clintons darauf reagierende Worte waren, „we came, we saw, he died“, und brach in schallendes Gelächter aus.
Alleine diese Haltungen der Machteliten westlicher Wertegemeinschaften sprechen Bände was sich hinter deren Maske in Wirklichkeit verbirgt, mit der sie vorgeben sich international für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie einzusetzen. Schon am 23. Oktober wurde vom Übergangsrat die Scharia verkündet, Gesetze die dem Islam widersprechen sind unwirksam.
Am 31. Oktober wurde der NATO-Angriffskrieg beendet.
Libyen- 4 Jahre nach Beginn des Angriffskrieges
Schamlos eilten umgehend nach dem offiziellen Ende des Krieges westliche Geschäftemacher um die Wette ins Land um ihre Beute zu begutachten und abzusichern. Sarkozy und Cameron beglückwünschten die Bevölkerung zur gelungenen Revolution. Seither hat sich kein Staatsoberhaupt mehr in Libyen blicken lassen. Ihre heißersehnte prowestliche Regierung konnte sich bis heute nicht stabilisieren und somit sind ihre Träume auf nicht absehbare Zeit auf Eis gelegt. Außenminister Steinmeier schlich wohl Ende Jänner 2015 in den Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko herum und verkündet in einem Hörsaal einer Universität in Tunis vor 300 StudentInnen in seiner Rede, „der islamistische Terror ist unser gemeinsamer Feind“, bezugnehmend auf den Anschlag in Paris.
Doch genau diese idealen Bedingungen für das hervorragende Gedeihen des islamistischen Terrors haben die Weststaaten in Libyen herbeigebombt. Die westlichen Mächte und ihre arabischen Verbündeten haben wissentlich Terrormilizen, also radikale Islamisten und Rassisten, finanziert und bewaffnet und damit das Personal für den Terror an die Macht befördert. Durch den gewaltsamen Regierungssturz, ohne schon genau zu wissen was nachher folgt, ist ein Machtvakuum entstanden, in dem sich diese Djihadisten ausbreiten und jeder Kontrolle entziehen konnten.
23 von 25 Grenzübergängen werden von Terrormilizen kontrolliert. Dadurch wurden und werden auch die Nachbarstaaten destabilisiert. An den Konflikten Nordmalis 2012 waren bereits salafistische Milizen aus Libyen beteiligt. Anfang 2013 starteten Terrorübergriffe auf Algerien und Ägypten in deren Folge 22 ägyptische Grenzsoldaten getötet wurden. Zwei Regierungen bekämpfen sich gegenseitig. Unter enormen Druck der Islamisten auf den Obersten Gerichtshof wurde das gewählte Parlament und die international anerkannte prowestliche Regierung für aufgelöst erklärt und musste in ein Hotel nach Tobruk, nahe der ägyptischen Grenze fliehen. Stets ein Schiff vor Anker, um im Falle großer Gefahr jederzeit nach Europa flüchten zu können. Die nicht anerkannte islamistische Regierung hat nun in Tripolis ihren Sitz.
Dass sich Libyen durch den Staatszerfall als die beste Basis für die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) anbietet, war voraussehbar. Bereits viele vorherige Milizengruppen haben sich der IS-Organisation angeschlossen. Die tunesische Regierung sicherte schon vor einem Jahr mit zusätzlichen 5000 Soldaten die Grenzen zu Libyen zwecks Abwehr systematischer Infiltrierung. Die größte Angst des Westens hat sich vor ein paar Tagen mit der Enthauptung von 21 ägyptischen Kopten In Tripolis öffentlich gezeigt. Die Geister, die sie riefen, die werden sie nun nicht mehr los.
Libyen gehört für Journalisten mittlerweile zu den fünf tödlichsten Ländern der Welt. Mit den 100.000en Flüchtlingen in der Kriegszeit und den, im darauf folgenden Chaos und Terror Geflüchteten haben beinahe ein Drittel der Bevölkerung ihr Heimatland verlassen.
Krieg brachte nicht Freiheit und Demokratie, sondern den Islamischen Staat!
Das einst wohlhabendste Land Afrikas versinkt immer tiefer in Armut. Libyen ist heute hoch verschuldet. Die einstigen eingefrorenen Milliardenguthaben des Staates sind verschwunden. Seit Monaten sind die Schulen geschlossen und das Gesundheitssystem ist am Zusammenbrechen. Selbst die Ernährungssicherheit hunderttausender Menschen ist gefährdet. Das Energienetz, Telefon- und Internetleitungen brechen immer wieder zusammen.
Tausende Menschen, aus politischen oder willkürlichen Gründen, sind landesweit inhaftiert. Im Jahr 2013 waren mehr als 8000 allein in regierungsamtlichen Gefängnissen ohne Gerichtsverfahren inhaftiert. Zusätzlich ist schon lange bekannt, dass auch viele Menschen in versteckten Gefängnissen unter den schlimmsten Bedingungen gefangen gehalten werden. Die Gefangenen haben keine Rechte, werden misshandelt, gefoltert, versklavt. Sie sind ihren Peinigern schutzlos ausgeliefert. Laut einem Amnesty International Bericht sind Entführungen, Folter, Hinrichtungen, Plünderungen, Brandschatzungen im jetzigen Libyen an der Tagesordnung. Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen haben ein erschreckendes Ausmaß angenommen.
Die grundlegenden Bedürfnisse nach Sicherheit und Bewegungsfreiheit sind nicht mehr gegeben. Besuche von Familienangehörigen in einer anderen Stadt sind nur unter Lebensgefahr möglich. Die im Krieg, im Zuge der ethnischen Säuberung, aus Tawergha vertriebene Bevölkerung die bis heute in Flüchtlingslagern leben sind sich auch dort ihres Lebens nicht sicher. Rebellen und Milizen dringen rücksichtlos ein, schießen um sich, wobei Frauen und Kinder oder Ältere nicht geschont werden. Es werden beliebig Männer entführt und gefoltert. (aus Tawergha-Foundation)
Hinterlassen wurde eine sich immer stärker zuspitzende Tragödie, deren Ende nicht absehbar ist. Ein ganzes Volk wurde in den Abgrund gestürzt, um eine dem Westen unliebsame Regierung und dessen Machthaber zu stürzen. Libyens Verhängnis war, dass es sich bis 2011 den gierigen Interessen des Westens, letztlich auch der Gründung einer europäischen Mittelmeerunion (Gaddafi: „Wir sind keine Hunde, denen man einen Knochen hinwirft!“) entgegengestellte und stattdessen, einen vom Westen unabhängigen Kontinent aktiv vorantrieb. Selbst Gaddafi hat die Grausamkeit der westlichen Machteliten unterschätzt und wurde durch seine diametrale Positionierung gegenüber deren Rekolonialisierungsbestrebungen von seinen gestrigen Freunden und deren Handlangern kaltblütig hingerichtet.
Wo sind nun alle jene geblieben, die im Geschrei nach einem sofortigen humanitären Eingreifen, den Angriffskrieg und die die darauf folgende heutige Tragödie noch angefeuert haben? Die Ratten haben schon lange das sinkende Schiff verlassen. Niemand, auch nicht Österreich zeigt sich mitverantwortlich für die nun tatsächliche Katastrophe. Wo bleiben nun die wirklichen humanitären Hilfen der EU-„Friedensmissionare“? Wer setzt sich jetzt wirklich für die Opfer der tagtäglichen schweren Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen ein? Alles nur leeres Geschwätz! Jegliche Entschuldigung und zumindest Versuche einer Wiedergutmachung sind ausgeblieben. Sie sind jetzt alle still und heimlich derselben Meinung wie US-Außenministers Kerry, der erst nach dem Krieg zur Auffassung kam, „die Probleme Libyens könnten nur von den Menschen in Libyen selbst gelöst werden…“
Kurz nachgefragt
„Ein Instrument des reichen Nordens“
Werktatt-Blatt: Du hast Ende Februar 2012 eine Anklageschrift gegen die Kriegsverbrecher Nr. 1 Sarkozy, Cameron, Obama und alle anderen am Angriffskrieg Beteiligten an den ICC in Den Haag geschickt. Hast du darauf jemals eine Antwort erhalten?
Johanna Weichselbaumer: Nein, dieser Illusion habe ich mich auch nicht hingegeben. Aber sie ist angekommen und sicher auch von jemand gelesen worden und das hat trotzdem, wenn auch minimal etwas hinterlassen. Wenn es auch nur eine kurz aufflammende Botschaft war, die da und dort den Knopf für ihre eigentliche, unterschiedslose Zuständigkeit etwas angerührt und kurzfristig angedacht etwas in Schwingung gebracht hat.
WB: Was ziehst du für Rückschlüsse daraus?
Johanna: Dass der ICC ein Instrument des Nordens ist hat sich für mich endgültig bestätigt. Das heißt, die Freunde der nördlichen reichen Länder sind die, die den Neoliberalismus und das Freihandelsregime ausreichend unterstützen, egal ob sie die schlimmsten Diktatoren sind, ihnen wird alles verziehen. Diejenigen aber, die sich dem entgegenstellen, zu wenig kooperativ oder unzuverlässig sind, sind die Feinde. Und die werden vor den ICC gezerrt, wie im Falle Jugoslawiens. Oder sofern sie nicht vorher schon ermordet werden wie Muammar Gaddafi, damit dem Westen unliebsame Tatsachen nicht ans Tageslicht kommen.