ImageDas Werk, das Karl Kraus im Ersten Weltkrieg schuf, steht ohne Vergleich da. Österreich kann sich glücklich schätzen, mit ihm den wortgewaltigsten, konsequentesten und unbestechlichsten Kriegsgegner aus den Reihen des Bürgertums besessen zu haben. Ein Beitrag von Univ. Prof. Dr. Hans Hautmann.  

Das Werk, das Karl Kraus im Ersten Weltkrieg schuf, steht ohne Vergleich da. Trotz der Einschränkung durch die Zensur konnte er von 1914 bis 1918 neunzehn Ausgaben seiner „Fackel“ herausbringen, die zusammen fast einhundert Nummern umfassen. Die „Fackel“ war die einzige deutschsprachige Zeitschrift – genauer gesagt: die einzige deutschsprachige nichtsozialistische Zeitschrift – , die schon 1914 dem Krieg gegenüber kritisch Stellung bezog und diese Haltung mit wachsender Vehemenz bis zum Kriegsende beibehielt. Und schon während des Krieges begann Karl Kraus mit der Niederschrift der ersten Fassung seines großen apokalyptischen Dramas „Die letzten Tage der Menschheit“, das 1919 zunächst als „Akt-Ausgabe“ und 1922 in der endgültigen Fassung erschien. Man sagt nicht zuviel, wenn man dieses Drama als das bedeutendste Werk der gesamten Antikriegsliteratur bezeichnet.

Weniger bekannt, aber ebenso wichtig und lesenswert ist die „Fackel“-Nummer vom Jänner 1919 mit der 120 Seiten langen Schrift „Nachruf“, dem stärksten Fluch auf den Krieg, der je in deutscher Sprache zu Papier gebracht wurde.

Der Kritiker der „Bürgerwelt“

Von Bertolt Brecht stammt der Ausspruch: „Als das Zeitalter Hand an sich legte, war Karl Kraus diese Hand“. Damit drückte er ein hohes Lob, aber auch eine Einschränkung aus, denn die strafende und rächende Hand von Karl Kraus blieb ein Organ jenes Gesamtkörpers, an dem sie ihr Urteil vollstreckte: Karl Kraus, einer der schonungslosesten Kritiker alles Bürgerlichen, war und blieb ein Bürger. Aus dieser Diskrepanz entsprangen letztlich all die Schwierigkeiten seiner Lebens- und Schaffensumstände.

Er musste sich in einem unendlichen und aufreibenden Kampf gegen seine bürgerliche Umwelt abgrenzen und behaupten, immer in der Gefahr schwebend, ein Schweigen könne als Zustimmung missdeutet werden. Es war die Qual seines Lebens und Schaffens, täglich neu antreten zu müssen. Und es war seine Größe, täglich neu antreten zu können, vierzig Jahre hindurch, trotz der Erkenntnis, nur kritisieren und warnen zu können, ohne den Gang der Geschichte sichtbar verändern zu können.

Karl Kraus war im Unterschied zu Bertolt Brecht kein Marxist. Aber vom bürgerlichen Standpunkt leistete er bei seiner Analyse des Verfalls der bürgerlichen Werte, wie er im Ersten Weltkrieg in krasser Weise zum Ausdruck kam, das Äußerste, was möglich war. Immer wieder wies er die massenverdummende Funktion der bürgerlichen Presse nach, und immer wieder demonstrierte er, dass die bürgerliche Gesellschaft den technischen Fortschritt für die Beförderung der Humanität nicht mehr nutzbar machen konnte. Dies war ihm nur möglich, indem er der bürgerlichen Gesellschaft das Ideal des ursprünglichen, natürlichen Menschen entgegenhielt und sie daran maß.

Bei seiner Kritik am Kapitalismus, dessen Übergang in sein imperialistisches Stadium er selbst erlebte, hat Karl Kraus eine besondere Fähigkeit entwickelt, die Analyse seiner Ideologie. Weit entfernt, ein historischer Materialist zu sein, gelangen ihm hier wesentliche Einsichten in die gesellschaftlichen Zusammenhänge und ihre jeweiligen konkreten Abläufe. Besonders fruchtbar erwies sich dabei, dass er auch scheinbare Winzigkeiten nicht außer Acht ließ. Wenn der tschechische Schriftsteller Karel Capek einmal sagte, Karl Kraus habe zu lesen gelehrt, dann meinte er genau diese Leistung.

Auf diese Weise ist sein Werk zu einem ganzen Pandämonium der deutschen und österreichischen bürgerlichen Gesellschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geworden. Karl Kraus hat nie eine Figur oder einen Vorgang „erfunden“. Sein Werk ist eine Dokumentation, und zwar die umfangreichste und dataillierteste Dokumentation, die es in der Literatur gibt. Er hat auch nie einen bloß „sachlich-objektiven“ Bericht angestrebt, sondern es verstanden, die Erscheinungen stets auf ihren Kern zurückzuführen. Die Bürgerwelt wird bei Karl Kraus umfassend interpretiert, ohne dass er Entscheidendes zu ihrer qualitativen Veränderung beitrug und beitragen konnte – wenn man davon absieht, dass seine Interpretation in jedem Fall den Leser zur Schlussfolgerung führt, dass eine Veränderung unerlässlich sei.

Der Propagandafeldzug der Phrasen und Lügen

Der Erste Weltkrieg war – abseits und jenseits des Schlachtenlärms – auch ein Krieg der Worte. Die Jahre 1914 bis 1918 waren von einem ohrenbetäubenden Propagandagetöse begleitet. Tonnen an Druckerschwärze wurden in die Schlacht geworfen, um die Gehirne der Menschen dahin zu bringen, den Zustand als Notwendigkeit zu empfinden, ja ihn als Überwindung alter Klassenschranken und –gegensätze, als Hoch und Nieder die gleichen Pflichten abverlangende „Volksgemeinschaft“ gutzuheißen. Zum Lohn für diese Bekennerhaltung wurde versprochen, dass man aus dem Krieg „erneuert“ und „verjüngt“ hervorgehen werde, worunter sich jeder das vorstellen konnte, was ihm als Ideal gesellschaftlichen Zusammenlebens vorschwebte. Ganze Tintenmeere wurden aber auch verspritzt, um den Krieg als gerechten, „heiligen Verteidigungskrieg“ hinzustellen, seinen räuberischen Charakter zu verschleiern und die Volksmassen dazu zu motivieren, sich freiwillig an falschen, gegen ihre ureigensten Interessen gerichteten Fronten gruppieren zu lassen. Dass das im Juli/August 1914 gelang, war einer der größten Triumphe, den Herrschende je feiern, und eine der bittersten Niederlagen, die Beherrschte je erleiden mussten.

Im Krieg wurde überall eine ungeheure Propagandamaschinerie aufgebaut. Um die schon bald einsetzenden Leiden und Entbehrungen erträglich scheinen zu lassen, mussten die Menschen mit Stimmungsmache über den hehren Zweck des Krieges und den Ruhm, für das Vaterland zu sterben, bis zur Besinnungslosigkeit überfüttert werden. Die imperialistische Kunst der Menschenverführung, der Manipulierung, Heuchelei und Lüge erreichte eine ungeahnte Perfektionierung.

Das alles erkannt und durchschaut zu haben, kann sich Karl Kraus als Verdienst zuschreiben. Und unser Land Österreich kann sich glücklich schätzen, mit ihm den wortgewaltigsten, konsequentesten und unbestechlichsten Kriegsgegner aus den Reihen des Bürgertums besessen zu haben. Seine Schriften aus dem Ersten Weltkrieg, der „Nachruf“ und sein dokumentarisches Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ sind etwas Einzigartiges; sie sind bleibend aktuelle Lehrstücke für das Erkennen der Produktionsmethoden falschen Bewusstseins.

Aber damit nicht genug: Die Ereignisse von 1914 bis 1918 machten ihm klar, dass die von den Machteliten verkündeten Leitbilder lediglich die ideologische Tarnung für einen ökonomisch motivierten Expansionskrieg abgaben. Der Krieg war für ihn die Folge der „Unterwerfung der Menschheit unter die Wirtschaft“. Die „Helden“ werden an die Fronten geschickt, um den „Händlern“ ihre Märkte zu sichern. Schon in seiner ersten Stellungnahme zum Krieg, veröffentlicht in der Dezember-Nummer von 1914 der „Fackel“ unter dem Titel „In dieser großen Zeit“ , schrieb er: „Ich weiß genau, dass es zu Zeiten notwendig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit aus diesen wieder Absatzgebiete werden.“

War Karl Kraus schon vor 1914 als Satiriker und Kulturkritiker eine Berühmtheit, so hat er sich in den Kriegsjahren erst in seiner ganzen Größe aufgerichtet, als einer, der hinter der „feschen“, „gemütlichen“ Fassade, die das Habsburgerreich so bühnenwirksam vor sich hertrug, die profane und brutale Praxis eines zum Untergang verurteilten Staatsgebildes zu erblicken imstande war. Deshalb begrüßte Karl Kraus im November 1918 das Verschwinden der Habsburgermonarchie, bekannte sich zur Republik, ja sogar zum Sozialismus, wie er von der damals regierenden österreichischen Sozialdemokratie vertreten wurde, und hat in den 1920er Jahren nirgendwo lieber seine Lesungen gehalten, als vor der sozialistischen Arbeiterschaft.

Dr. Hans Hautmann ist ao. Universitätsprofessor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte im Ruhestand. in Wien