Der italienische Außenminister unterbreitete einen bemerkenswerten 4-Punkte-Plan zum Frieden in der Ukraine, der von EU und NATO geflissentlich ignoriert wird.

Der Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, der nicht zu rechtfertigen ist. Zugleich muss auch die Vorgeschichte dieses Krieges betrachtet, nicht um diesen Krieg zu relativieren, sondern um die Möglichkeiten zur Beendigung des Gemetzels zu erkennen und Vorschläge für eine nachhaltige Friedensordnung in Europa entwickeln zu können, die die Fehler der Vergangenheit vermeiden. Der Mainstream der westlichen Politik und der westlichen Medien blendet diese Vorgeschichte systematisch aus – wohlwissentlich dass dann vielen Menschen klar werden würde, dass dieser Krieg sowohl verhinderbar gewesen wäre (1) als auch dass es jetzt noch Alternativen zur Fortsetzung des Gemetzels gibt.

„Bis zum letzten Ukrainer…“

Zur Kriegsstrategie des Westens hatte sich bereits am 24. März Chas Freeman geäußert, ein US-Diplomat, dessen Karriere im Auswärtigen Dienst der Vereinigten Staaten in den Jahren von 1965 bis 1995 ihn unter anderem auf den Posten des US-Botschafters in Saudi-Arabien und in eine Spitzenposition im US-Verteidigungsministerium führte. Freeman urteilt, „alles, was wir [der Westen] tun, zielt offenbar darauf, die Kämpfe zu verlängern, anstatt ihr Ende und einen Kompromiss zu beschleunigen“. Das sei „gut für den militärisch-industriellen Komplex“; es bestätige „unsere negativen Ansichten über Russland“; es stärke die NATO, und es bringe China in Verlegenheit. Zwar werde dieses Vorgehen zu einer großen Zahl an Todesopfern führen; dennoch fragten sich einige im Westen offenbar insgeheim: „Was ist so schrecklich an einem langen Krieg?“ Schließlich sei das Ganze – de facto ein Stellvertreterkrieg gegen Russland – für den Westen „im Wesentlichen kostenfrei“. Man könne – so Freeman - die Strategie der transatlantischen Mächte so auf den Punkt bringen: „Wir kämpfen bis zum letzten Ukrainer für die ukrainische Unabhängigkeit.“ (2)

Friedensverhandlungen torpediert

Tatsächlich schraubten USA und EU-Staaten die Waffenlieferungen ab dem Zeitpunkt in die Höhe, als im März erste Stimmen von den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russlands in der Türkei nach außen drangen, es könne sich eine politische Verständigung zwischen der Ukraine und Russland anbahnen. Kernpunkt dieser Verständigung war eine militärische Neutralität der Ukraine zwischen Westmächten und Russland. Die Neutralität des Landes werde „als möglicher Kompromiss betrachtet“, so Kreml-Sprecher Dimitri Peskow (3). Auch der ukrainische Präsident Selensky erklärte, „dass er bei dementsprechenden Sicherheitsgarantien vonseiten Russlands bereit sei, über eine Neutralität und einen nicht nuklearen Status seines Landes zu sprechen.“ (4)

Doch Washington, London und Brüssel taten alles, um Verhandlungen in Richtung einer Neutralität der Ukraine zu torpedieren. Als Selenskij seine Bereitschaft erklärte, mit Russland über einen Neutralitätsstatus zu verhandeln, begannen NATO- und EU-Staaten die Ukraine mit Waffen vollzupumpen. Allein aus der neuen EU-Kriegskasse („Friedensfazilität“) wurden Waffenlieferungen im Ausmaß von zwei Milliarden Euro finanziert. Seither geht es nicht mehr um eine Friedenslösung, sondern um „Sieg“ und „die Ruinierung Russlands“. Die Verhandlungen kamen zum Erliegen.

Damit setzen die westliche Großmächte auch während des Krieges jene fatale Politik fort, die schon davor den Konflikt maßgeblich angeheizt hatte. Denn die Ukraine war neutral, bevor im Februar 2014 durch einen prowestlichen Staatsstreich die fragile, aber friedliche Balance dieses Landes zwischen Ost und West gekippt wurde. Um jeden Preis sollte gegen den Willen der damaligen demokratisch gewählten Regierung in Kiew das EU-Ukraine-Assoziierungsabkommen durchgeboxt werden, das nicht nur den neoliberalen Ausverkauf des Landes, sondern auch die militärische Anbindung an die EU vorsah. Neofaschistische Verbände, die von EU und USA unterstützt wurden, spielten eine wesentliche Rolle bei diesem gewaltsamen Putsch, der schließlich in Sezession und Bürgerkrieg mündete und zwischen 2014 und 2022 rund 14.000 Menschen das Leben kostete. Intensiv erfolgte nach dem Staatsstreich eine de facto Angliederung der ukrainischen Streitkräfte an die NATO.

Was sieht der italienische Friedensplan vor?

Umso höher ist es zu bewerten, dass der italienische Außenminister Luigi Di Maio im Mai einen „Vier-Schritte“-Plan zum Frieden in der Ukraine präsentierte, der aus dieser Eskalationspolitik ausschert. Di Maio hat den Plan im Mai 2022 UN-Generalsekretär António Guterres vorgelegt. Der Friedensplan soll in vier Schritten umgesetzt werden und sieht Verhandlungen zwischen der ukrainischen und russischen Regierung unter Einbindung der UN, der EU und der OSZE vor.

  • 1. Schritt: Verhandlung eines Waffenstillstands bei gleichzeitiger Entmilitarisierung der Kampfzonen und der Einrichtung internationaler Kontrollmechanismen;
  • 2. Schritt: Friedenskonferenz über die Einrichtung des neutralen Status der Ukraine, der mit internationalen Verträgen im Sinne einer Schutzgarantie abzusichern ist.
  • 3. Schritt: Bilaterales Abkommen zwischen Russland und der Ukraine über den Status der umkämpften ukrainischen Gebiete: Weitgehende Autonomie der Krim und Gebiete des Donbass in den nationalen Grenzen der Ukraine. Klärung der Fragen des freien Zugangs, des freien Handels und des Zahlungsverkehrs sowie kultureller und sprachlicher Rechte.
  • 4. Schritt: Verhandlung eines multilateralen Abkommens unter der Regie der OSZE über einen europäischen Sicherheitspakt, der auch die Beziehungen zwischen EU und Russland regelt. Inhalte dieses Vertrages wären internationale Abrüstung und Rüstungskontrolle, Sicherheitsgarantien, Konfliktprävention sowie der Abzug der russischen Truppen aus den besetzten ukrainischen Gebieten. Im Rahmen dieser Maßnahmen könnten die Sanktionen gegen Russland Schritt für Schritt zurückgenommen werden. (5)
Bruch mit Eskalationslogik

Dieser Plan ist deshalb so bemerkenswert, weil er endlich mit der Eskalationslogik bricht und einen Weg aufzeigt, nicht nur den Krieg zu beenden, sondern darüber hinaus auch Lehren aus der Vorgeschichte des Krieges zu ziehen, wie sie von vielen Friedenskräften gefordert werden: Aufbau eines „gemeinsamen Hauses Europa“, in dem imperiale Konfrontation und Hochrüstung einer Kooperation auf Augenhöhe zum gegenseitigen Vorteil Platz machen.

Frieden, Souveränität und Einheit durch Neutralität

Neutrale Staaten können, ja müssen dabei eine herausragende Rolle spielen: Denn die Neutralität ermöglicht es gerade kleinen und mittelgroßen Staaten, sowohl Brücken zwischen Großmächten zu bauen, als auch ihre Unabhängigkeit gegenüber diesen zu wahren. Wer wirklich die Unabhängigkeit und Einheit der Ukraine anstrebt, kann weder wollen, dass das Land als russischer Satellitenstaat noch als Anhängsel von EU und NATO endet bzw. zwischen Ost und West zerrissen wird. Die Neutralität der Ukraine ist der Weg zur Beendigung des Krieges, zu ihrer Souveränität und Einheit und zum Aufbau einer neuen Friedensordnung in Europa, die aus den Fehlern der Vergangenheit lernt. Kurz gesagt: Eine neutrale Ukraine ist im Interesse aller, die Frieden in Europa anstreben.

Es spricht Bände, dass die Vorschläge des italienischen Außenministers von EU und NATO ignoriert werden. Umso wichtiger wäre es, dass Österreich diese aufgreift und sich für Verhandlungen stark macht. Als neutrales Land wäre Österreich prädestiniert, sich für eine Verhandlungslösung in Richtung einer neutralen Ukraine stark zu machen, statt sich an Wirtschaftssanktionen und – über die Mitfinanzierung der neuen EU-Kriegskasse (6) - indirekt an Waffenlieferungen für die Ukraine zu beteiligen. Die Friedensvorschläge des italienischen Außenministers sind freilich nicht vom Himmel gefallen. Sie sind Ausdruck dessen, dass die Friedensbewegung in Italien zunehmend an Stärke gewinnt. Und darum geht es auch hierzulande.

Gerald Oberansmayr
(Juni 2022)

Anmerkungen:

  1. Siehe dazu ausführlicher auf https://www.solidarwerkstatt.at/frieden-neutralitaet/ukraine-ein-verhinderbarer-krieg
  2. zitiert nach: www.german-foreign-policy.com; „Bis zum letzten Ukrainer“, 19.4.2022
  3. zitiert nach ORF, 16.3.2022
  4. zitiert nach ORF, 27.3.2022
  5. Quelle: Klaus Mögling, Russland Krieg gegen die Ukraine: Vier Schritte nur zum Frieden?, in: Telepolis, 6.6.2022
  6. 2021 wurde die sog. "Friedensfazilität" gegründet - eine von allen EU-Staaten finanzierte EU-Kriegskasse. Aus dieser Kriegskasse wurden bereits Waffen im Umfang von zwei Milliarden Euro für die Ukraine bewilligt. Österreich beteiligt sich an der Kriegskasse mit ca. 2,5%. Also rund 40 Millionen Euro von österreichischem Steuergeld wurden bislang zur Finanzierung von Waffen für den Ukraine-Krieg verwendet. Dass man per Protokoll  vermerkte, der österreichische Beitrag solle nur für "nicht letale Waffen verwendet werden", zeigt einmal mehr den schlitzohrigen Umgang der Regierung mit der österreichischen Neutralität. 

siehe dazu auch:
Immerwährende Neutralität statt dauerhafte Neutralitätslüge!