ImageKommentar von David Stockinger, Vorstandsmitglied der Solidarwerkstatt und langjähriger Balkankenner, zu den sozialen Aufständen in Bosnien und Hercegovina (BiH).

 

Die aktuelle Hungerrevolte der Arbeiter und Jugendlichen in Bosnien u.Hercegovina ist ein direktes Resultat vom Krieg, der in das Land (Jugoslawien) hineingetragen wurde, von 20 Jahren EU/US-Neokolonialismus, radikalem Ausverkauf und Privatisierung unter der Ägide diverser ausländischer "Hoher Repräsentanten" (zur Zeit wiedermal ein Österreicher- Valentin Inzko), der Selbstbereicherung der lokalen willfährigen korrupten Kollaborateure und Mafia-Paten und der damit verbundenen hohen Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Die Städte Zenica oder Tuzla waren in der volksrepublikanisch-sozialistischen Periode durch ihre Kombinate ein Synonym für industriellen Fortschritt und Entwicklung. Das wurde schon einige Jahre nach der Volksbefreiung von den faschistischen Okkupanten 1945 so greifbar, dass sogar das Wappen der sozialistischen Teilrepublik BiH die Schlote der Schwerindustrie zeigte (sh. Bild unten). Als ich das letzte Mal 2011 in Zenica war, gab es fast nur mehr Industrieruinen und die jungen moslemischen Frauen waren oft verhüllt wie in den Golfmonarchien, was zuvor im Islam jugoslawischer Prägung nie üblich war. In den  kleinsten Dörfern der moslemisch-kroatischen Föderation (der größeren Entität BiHs) werden mit Geld aus der Türkei und Saudi-Arabien absurd protzige Moscheen gebaut. Die Waffe des Imperialismus zur Zerstörung Jugoslawiens war der gesäte Nationalismus, heute zur Beherrschung soll der kosmopolitisch verbrämte Neoliberalismus durch die wirklich Bestimmenden in BiH - EU, USA, Hoher Repräsentant, westliche NGOs - implementiert werden. Militärisch abgesichert wird das ganze Projekt durch die EUFOR-Truppen, deren österreichisches Kontingent aktuell aufgestockt wird. Der Protektorats-Verwalter Valentin Inzko hat kürzlich sogar einen Einsatz der EU-Soldaten gegen die Demonstranten in Betracht gezogen.

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Das alte Wappen der Sozialistischen Republik Bosnien und Hercegowina

Die Forderung nach einer Reorganisation des moslemisch-kroatischen Teils (Föderation) Bosnien und Hercegovinas ist berechtigt. Es gibt die Föderationsregierung in Sarajevo und jeder Kanton hat auch seine eigene Regierung mit Ministern und einer überbordenden Bürokratie. Darunter gibt es weitere Verwaltungsebenen. Diese Struktur ist natürlich disfunktional, es versickert viel Geld, die Korruption und die persönliche Bereicherung der politischen Kaste ist zum Himmel schreiend. Interessant ist die Tatsache, dass sich bisher die Proteste im serbischen Teil Bosniens, der Republika Srpska sehr in Grenzen halten, ja teilweise beobachten viele Serben die Entwicklung in der Föderation sogar verängstigt mit Argusaugen. Dies hat einerseits damit zu tun, dass sich die sozialökonomische Situation in der RS, wenn auch nur sehr gering, aber dennoch ein wenig besser darstellt als in der Föderation und dass die Verwaltung einfacher (zentralisierter) in Opstine (Großgemeinden) gestaltet ist. Auch hier ist Korruption ein großes Problem. Wenn man die RS durchquert, fällt einem aufmerksamen Beobachter jedoch eine weitaus bessere Infrastruktur auf. Auch die Kriegsschäden sind in der RS nicht mehr in dem Ausmaß sichtbar wie in der Föderation, obwohl die internationalen Gelder in den letzten 20 Jahren fokussiert in die Föderation gepumpt wurden. Nun werden die Stimmen für eine tiefgreifende Änderung der Verfasstheit, nicht nur der moslemisch-kroatischen Föderation, sondern auch des Gesamtstaates, seitens vieler Demonstranten lauter. Das ist bis zu einem gewissen Grad völlig nachvollziehbar und berechtigt. Eines muss aber ausgeschlossen sein: Ein Zurück zu dem, was Alija Izetbegovic 1992 vorschwebte, nämlich keine verfassungsrechtlichen Schutzgarantien und Kompetenzen für die Serben in Bosnien vorzusehen, darf es nicht geben. Die religiös-fundamentale Einstellung Izetbegovics, die er bereits in seiner „Islamischen Deklaration“ veröffentlichte, hätte der serbischen Bevölkerung den Status eines konstitutiven Staatsvolkes abgesprochen und sie zu Menschen 3. Klasse gemacht. Die Gründung der Republika Srpska im Rahmen BiH als Reaktion war daher nur logisch. Die EINSEITIGE durch Izetbegovic gewollte und durch den Westen geförderte Unabhängigkeit war dann der Auslöser für den Bürgerkrieg in Bosnien der letztendlich mit dem Kompromiss des Dayton-Abkommens  beendet wurde, das nicht nur ein Friedensabkommen sondern auch die Grundlage für die heutige (komplizierte) Organisation des Landes darstellt. Die Serben werden also kaum die Struktur der Republika Srpska - unabhängig davon welche Partei in Banja Luka regiert - aus nachvollziehbaren Gründen aufgeben.

Es bleibt zu hoffen, dass moslemisch-nationale Elemente diese wichtige soziale Protestbewegung nicht vereinnahmen, sondern dass sie eine nicht-ethnische und eine politisch-soziale Hegemonie und Dimension behält. Wer diese Weltregion kennt, weiß, dass die Gefahr einer politischen Ethnisierung sozialer Proteste in BiH nach wie vor besteht und es gibt bereits Tendenzen, dass die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und struktureller Neuordnung des Landes von in- wie ausländischen Machtfaktoren ausgenutzt bzw. vereinnahmt werden können um die politische Balance hinsichtlich der Serben und der Republika Srpska zu revidieren. Die jüngsten Aussagen des ehemaligen kroatischen Staatspräsidenten Stipe Mesic, moslemisch-nationaler Politkreise in Sarajevo und einiger EU-Offizieller diesbezüglich könnten so interpretiert werden. Und wenn die Forderung nach Auflösung der Republika Srpska - und damit verbunden wieder eine erhöhte Kriegsgefahr - das einzige sein sollte, was von diesen wichtigen Protesten übrigbleibt, dann haben diese Demonstrationen dem Westen letztendlich in die Hände gespielt. Daher sind meiner Meinung nach die Entwicklung der Proteste, ihr künftiger Charakter und die daraus folgenden Zielsetzungen noch offen und noch keineswegs zur Gänze einzuschätzen, solange die maßgeblichen Protagonisten der Protestes nicht endgültig die politische wie ökonomische Okkupation durch den Westen in den Mittelpunkt einer multiethnischen gemeinsamen Gegenbewegung stellen.   

Sollte dies gelingen, wäre dies nicht nur ein großer Schritt für die Völker BiHs, sondern auch für alle anderen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens. Wenn dann die westlichen "Internationals" und "Protektoren" am 28. Juni 2014 nach Sarajevo zur Geschichtsklitterung und zum scheinheiligen Gedenken an den Ausbruch des 1. Weltkriegs kommen und nebenbei die Serben bzw. Gavrilo Princip als die Schuldigen für den 1. Weltkrieg darstellen, hoffe ich, dass ihnen die jungen Menschen und Arbeiter vor Ort einen gebührenden Empfang - im Geiste einer jugoslawischen Unabhängigkeit - bereiten werden. Denn das, was am Vorabend des 1. Weltkriegs in der südslawischen Region durch die Großmächte angerichtet wurde, wird heute unter dem Mantel der "Demokratie" und der "EUropäischen Werte" von den selben Mächten erneut verbrochen: Die Völker werden gegeneinander ausgespielt um die Region ökonomisch auszubeuten und die geopolitische Unterwerfung zu stabilisieren.

Sloboda Narodu!*)

David Stockinger, Schwechat


*) Freiheit dem Volk!

(12.2.2014)