Im vergangenen Jahr gingen 7.340 Militärtransporte vor allem von NATO/EU-Staaten durch Österreich, 1.049 fremden Militärmaschinen überflogen österreichisches Territorium. Die Regierung setzt die seit dem EU-Beitritt eingeschlagene Politik fort, die scheibchenweise Entsorgung der immerwährenden Neutralität durch Lügen und Halbwahrheiten zu tarnen.

In den letzten Wochen wurden verstärkt Transporte fremder Militärs durch Österreich gesichtet: Ein französischer Militärkonvoi durchquerte Wien, deutsche Soldaten und Panzer machten in St. Pölten Rast, polnische Militärfahrzeuge verursachten auf der Innkreis-Autobahn in Oberösterreich einen Unfall. Schon in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten haben diese Kriegsmaterialtransporte durch Österreich enorme Ausmaße erreicht: zum Beispiel für Kriegseinsätze in Afghanistan und Libyen oder für NATO-/EU-Militäreinsätze und -manöver in Osteuropa. Eskaliert sind die Kriegsmaterialtransporte durch Österreich offensichtlich im vergangenen Jahr. Laut Zeitungsmeldungen gab es allein im vergangenen Jahr 7.340 Militärtransporte (1) auf Straße und Schiene und 1.049 Überflüge (2) von fremden Militärmaschinen über österreichischem Territorium. Viele davon für das NATO-Militärmanöver „Defender Europe 2021“ in Osteuropa an den Grenzen zu Russland.

Sind diese Militärtransporte durch unser Land mit der Neutralität vereinbar? Natürlich nicht. Neutralität bedeutet die Verpflichtung, sich nicht nur an keinen Kriegen zu beteiligen, sondern auch keine Beihilfe zu Kriegen oder Militärmanövern zu leisten, die der Aufschaukelung von Konflikten dienen.

Eliminierung des Neutralitätsvorbehalts

Die Regierung rechtfertigt die Genehmigung dieser Waffentransport lapidar: das sei „mit Verweis auf die EU-Verträge zulässig.“ (2) Nach dem Motto: Wer an der EU-Militarisierung, die in den EU-Verträgen verankert ist, teilhaben will, muss bereit sein, sein Territorium als Auf- und Durchmarschgebiet für westliche Streitkräfte zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich hat die damalige schwarz-blaue Regierung im Jahr 2002 mit der Novellierung des Kriegsmaterial- und Truppenaufenthaltsgesetzes die dafür notwendigen – neutralitätswidrigen – gesetzlichen Grundlage geschaffen: Ansuchen der NATO oder EU reichten in Zukunft aus, um Kriegsmaterial- und Truppentransporte zu genehmigen und den zeitlich unbeschränkten Aufenthalt von EU- und NATO-Truppen unabhängig von einem UNO-Mandat zu ermöglichen. Der Neutralitätsvorbehalt wurde in diesen Gesetzen völlig eliminiert. Der Anlass für diese Novellierungen war die Anpassung an die damaligen Militarisierungsschritte der EU. Zur Erinnerung: Es war die Zeit, in der eine eigene EU-Interventionstruppe aus der Taufe gehoben wurde, in der Folge dann die EU-Battlegroups, die EU gab grünes Licht für die Beteiligung am Afghanistankrieg.

Legal – illegal – scheißegal …

Die derzeit wieder hochkochende Frage Neutralität oder NATO-Beitritt geht an Wesentlichem vorbei und dient eher der Ablenkung: Die Europäische Union selbst ist spätestens seit dem Lissabon-Vertrag (2009) zu einem Militärpakt geworden – mit einer militärischen Beistandsverpflichtung, die sogar härter als die der NATO ist. Darauf angesprochen verweisen Regierungspolitiker zumeist auf die sog. „Irische Klausel“ im EU-Vertrag. Diese sieht im Art. 17 des EU-Vertrags vor, dass die "Politik der Union nach diesem Artikel … nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten (berührt)“. Augenzwinkernd wird in diese „Irische Klausel“ die Möglichkeit zur Bewahrung der Neutralität hineininterpretiert. Doch dieser Einwand ist durchtrieben, weil dieselben Politiker (zumeist) sehr gut wissen, dass das österreichische Parlament durch die Novellierung des Artikel 23f (heute 23j) bereits im Jahr 1998 beschlossen hat, diesen „besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ – sprich die Neutralität – außer Kraft zu setzen, sofern es um die EU-Außen- und Sicherheitspolitik geht. Der Artikel 23j erlaubt die Beteiligung des Bundesheeres an „Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung“, die von der EU durchgeführt werden. Das ist ein Freibrief für die Teilnahme an globalen Kriegseinsätzen, auch solchen, die nicht vom UNO-Sicherheitsrat mandatiert worden sind. In den Erläuterungen zum Artikel 23f (j) wurde sogar ausdrücklich festgehalten, dass die Beteiligung an EU-Kriegseinsätzen – pardon: „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung“ - "auch für den Fall gilt, dass eine solche Maßnahme nicht in Durchführung eines Beschlusses des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ergriffen wird“. Der seinerzeitige ÖVP-Klubobmann Andreas Khol frohlockte nach der Beschlussfassung des Artikels 23f(j): „Damit wird die Neutralität für den Bereich der EU außer Kraft gesetzt“ (3).

Kriegsermächtigungsartikel 23f/j

Gestützt auf diesen „Kriegsermächtigungsartikel“ bekundete Verteidigungsministerin Tanner, dass Österreich bei der für 2025 geplanten EU-Eingreiftruppe „selbstverständlich dabei ist“. Die Neutralität „steht dem nicht im Weg“, da man – so die Ministerin - ja auch bisher schon bei den EU-Battlegroups mitgemacht habe (4). Das nennt man Chuzpe: Der Missachtung der Neutralität in der Zukunft wird mit der Missachtung der Neutralität in der Vergangenheit begründet. Legal – illegal – scheißegal … So sieht Anarchie von oben aus. Weder das bisherige Mitmarschieren bei den EU-Battlegroups noch das zukünftige bei einer EU-Eingreiftruppe sind mit der Neutralität vereinbar, die nach wie vor im Verfassungsrang steht. Vereinbar ist das bloß mit der Fortsetzung der seit dem EU-Beitritt eingeschlagenen Politik, die schrittweise Entsorgung der Neutralität mit Lügen und Halbwahrheiten zu tarnen.

Rüstungslobbyist Karas spricht Klartext

Manchmal muss man fast dankbar sein für Politiker vom Schlage eines Othmar Karas. Der EU-Parlamentarier, ein glühender Anhänger einer EU-Armee, sprach wiederholt Klartext. Er forderte das österreichische Politik-Establishment auf, „mit der Neutralitätslüge aufzuräumen“ (5), denn:Die Neutralität entspricht weder dem Geist der EU noch dem Buchstaben des Lissabon-Vertrages“ (6). Die „Buchstaben des Lissabon-Vertrages“ stehen für Aufrüstungsverpflichtung, Stärkung der Rüstungsindustrie, globale Militärinterventionen; der „Geist der EU“ für imperialen Expansionsdrang und geopolitische Konfrontation. Niemand weiß das besser als Othmar Karas, der einige Jahre die Präsidentschaft der Kangaroo-Group innehatte, einer führenden Lobby-Organisation in Brüssel, über die die Rüstungsindustrie maßgeblich die EU-Entscheidungsprozesse beeinflusst. Neutralität dagegen steht für eine aktive Friedenspolitik, für das Bauen von Brücken und internationale Kooperation auf Augenhöhe. Sie steht für ein „gemeinsames Haus Europa“ statt einem waffenstarrenden „Imperium EU“ (O-Ton Manuel Barroso, damaliger EU-Kommissionspräsident).

Wenn wir auch sonst konträre Positionen zum Rüstungslobbyisten Karas haben, in einem Punkt ist ihm Recht zu geben: Mit der Unterordnung unter die EU-Verträge verträgt sich eine glaubwürdige Neutralitätspolitik schlicht und einfach nicht. Daraus gilt es friedenspolitisch die Konsequenzen zu ziehen: für die immerwährende Neutralität statt der dauerhaften Neutralitätslüge.

Gerald Oberansmayr
(12.5.2022)

Quellen:
(1) OE24, 6.5.2022
(2) OE24, 10.5.2022
(3) Salzburger Nachrichten, 29.5.1998
(4) Wiener Zeitung, 21.3.2022
(5) Der Standard, 16.1.2011
(6) Standard, 30.1.2013).