Seit Anfang 2008 kursiert in Brüssel und bei den Regierungen der EU-Staaten eine 152-Seiten starke Studie mit dem Titel „Towards a grand strategy in an uncertain world.“ Die Autoren sind fünf hochdekorierte frühere NATO-Generäle und Generalstabschefs ihrer Länder, vier aus EU-Staaten, einer aus den USA: Klaus Naumann (BRD, u.a. Vorsitzender des Nato-Militärausschusses beim Angriff auf Jugoslawien ), John Shalikashvili (USA), Lord Peter Inge (Großbritannien), Jacques Lanxade (Frankreich) und Henk van den Breemen (Niederlande). Der Inhalt: die Sicherstellung der Vorherrschaft des Westens mit allen Mitteln, nicht zuletzt durch den atomaren Erstschlag. Der EU-Generaldirektor für außenpolitische Angelegenheit signalisiert Zustimmung.

 

Diese fünf Generäle a.D. treibt eine große Sorge um: wie kann der Westen – sprich USA und EU – seinen „Way of Life“ in einer zunehmend unsicheren Welt verteidigen, in der das Böse immer und überall lauert: „Der internationale Terrorismus zielt heute darauf ab, unsere Gesellschaften, unsere Wirtschaften und unseren ‚Way of Life’ zu zerreißen und zu zerstören.“

„Globale Konkurrenz um Rohstoffe.“
Bald entdeckt man bei Lektüre dieser Studie, dass der „Kampf gegen den Terrorismus“ die Kulisse ist, hinter der sich der Kampf gegen aufsteigende Großmächte wie China oder Indien und der unbedingte Drang verbirgt, die rohstoffreichen Weltregionen unter westliche Kontrolle zu bringen: „Es gibt eine wachsende globale Konkurrenz um knappe Rohstoffe, insbesondere bei fossilen Treibstoffen. Mit dem globalen demographischen und ökonomischen Wachstum wird ein wachsender globaler Bedarf an Öl kommen – man rechnet mit einem durchschnittlich zweiprozentigen Anstieg pro Jahr über die nächsten 20 Jahre. Die verstärkte Nutzung der Atomenergie in diesem Jahrhundert wird zu einem Anstieg der Nachfrage nach Uran führen. China und Indien, die einen bedeutenden Anteil an diesem Wachstum und Bedarf haben werden, werden zunehmend einflussreiche und konkurrenzfähige Nationen werden.“ (S. 47)

Besonders ins Fadenkreuz der fünf Generäle gerät der Iran: „Als Atommacht würde der Iran immun gegenüber internationalen Sanktionen werden. Darüber hinaus würde er die Region dominieren, die die größten Öl- und Gasreserven der Welt besitzt.“ (S. 58) „Große Besorgnis“ löst auch die politische und militärische „Rückkehr“ des rohstoffreichen Russland aus, dessen Führung unmissverständlich ausgerichtet wird, sich „niemals wieder” Hoffnung zu machen, “zweite Supermacht (zu) werden“ (S. 63).  Höchstes Augenmerk gilt Afrika, dem „Schauplatz im frühen Stadium der globalen Konkurrenz zwischen den westlichen Nationen, China und der islamischen Welt“. (S. 58/59)

Freie Marktwirtschaft. Die Generäle warnen uns, dass es „keine Garantie gibt, dass die westlichen Nationen als Sieger hervorgehen werden, wenn sie die Dinge ‚einfach geschehen lassen.’“ (S. 117) Notwendig für den westlichen Endsieg sei eine neue gemeinsame „Grand Strategy“ von EU und NATO, die „große Geduld, Nerven und Hartnäckigkeit erfordert“, vor allem aber „die Bereitschaft, hart mit militärischer Kraft zuzuschlagen, wenn es notwendig ist“ (S. 43). Scharf gehen die Generäle auch mit den westlichen Interventionen in Bosnien, Kosovo, Afghanistan und Irak ins Gericht. Aber nicht weil dort mittlerweile hunderttausende Menschen von westlicher Feuerkraft niedergemetzelt wurden, sondern weil „die westlichen Nationen zu viele nationale Vorbehalte für den Einsatz ihrer Streitkräfte erhoben“ und nicht bereit waren „die Operationen mit ausreichenden Ressourcen – sowohl hinsichtlich Personal als auch Material – auszustatten.“ (S. 83) Diese westliche Zauderei müsse endgültig überwunden werden, mahnen die Autoren der „Grand Strategy“. Freilich sollte zunächst jedem antiwestlichen Opponenten eine faire Chance gegeben werden, sich zu „Menschenrechten“ und „freier Marktwirtschaft, die das Streben nach Glück erlaubt“ (S. 102) zu bekehren.

Nuklearer Erstschlag. Doch wenn keine Einsicht vorhanden ist, muss der Westen letztlich auch zum totalen Krieg bereit sein – bis hin zum nuklearen Erstschlag:

„Der Ersteinsatz von Atomwaffen muss im Köcher der Eskalation bleiben als das ultimative Instrument, um den Gebrauch von Massenvernichtungswaffen zu verhindern…
Atomwaffen sind die ultimativen Instrumente einer asymmetrischen Antwort – und zugleich das ultimative Werkzeug der Eskalation. Aber sie sind mehr als ein Instrument, da sie die Natur jedes Konflikts von einem regionalen zu einem globalen transformieren. Bedauerlichweise sind Nuklearwaffen – und mit ihnen die Option auf den Erstschlag – unentbehrlich, weil es einfach keine realistische Aussicht auf eine atomwaffenfreie Welt gibt. … Im Ergebnis bleiben Atomwaffen unentbehrlich, und die nukleare Eskalation bleibt weiterhin ein Element jeder modernen Strategie….
Atomare Eskalation ist der ultimative Schritt asymmetrisch zu antworten, und zugleich der mächtigste Weg, Unsicherheit beim Gegner zu erzeugen…. Obwohl der Einsatz militärischer Mittel der ultimative Ausweg der Politik ist, so ist er nicht der letzte. Diese ultima ratio könnte sehr gut auch die erste Option sein, die eingesetzt wird. Der frühe Einsatz militärischer Reaktionen ist oft mit Präemption und Prävention verbunden – beides Elemente einer modernen Strategie...
Was wir brauchen ist eine Politik der Abschreckung durch eine proaktive Antwort, wo Präemption eine Form der Reaktion ist, wenn eine Bedrohung bereits immanent ist, und Prävention der Versuch ist, die Initiative wiederzuerlangen, um einen Konflikt zu beenden. Da die Abschreckung gelegentlich verloren gehen oder versagen kann, ist die Fähigkeit diese Abschreckung durch Eskalation jederzeit wiederherzustellen, ein weiteres Element einer proaktiven Strategie.
Eskalation ist eng verbunden mit der Option, ein Instrument als erster einzusetzen. … Eskalation ist ein ‘Trampolin’, das es erlaubt, die Aktion augenblicklich himmelwärts zu treiben und im nächsten Moment stillzustehen. Ein solches Konzept interaktiver Eskalation erfordert Eskalationsdominanz, die das volle Arsenal von Zuckerbrot und Peitsche nutzt – und zwar tatsächlich alle Instrumente der weichen und harten Macht, die von diplomatischen Protesten bis hin zum Einsatz von Atomwaffen reicht….“
(S. 94ff)

„Medienkampagne“. Die Generäle sind sich im Klaren, welche Ungeheuerlichkeit sie vorschlagen. Entsprechend machen sie sich Sorgen, dass die Bevölkerungen an der „Heimatfront“ ihrer Sehnsucht nach Stahlgewittern nicht zu folgen bereit sind. Sie fordern daher, die Medien an die Kandare zu nehmen: „Jeder Schritt muss von einer sorgfältig orchestrierten und gut koordinierten Medienkampagne begleitet werden, in dem es ebenfalls zentral ist, die Initiative zu gewinnen und aufrechtzuerhalten. Eine moderne ‘Grand Strategy’ muss eine Medienstrategie beinhalten, um die Herzen und Hirne der Menschen rund um die Welt zu gewinnen. Informationsüberlegenheit muss sichergestellt werden, und dadurch die die Glaubwürdigkeit unserer Aktionen gewährleisten. Es sollte eigentlich eine ‚Erstschlags-Medienstrategie’ sein, die darauf abzielt die Schlagzeilen als erste zu treffen, natürlich niemals auf Kosten der Wahrheit.“ (S. 99) Natürlich nicht, denn die Wahrheit ist ja, dass „die NATO eine Streitmacht für das Gute ist.“ (S. 129)

Eine wenig verhüllte Warnung wird auch an die Friedensbewegung und andere kriegsunwillige Kräfte im Inneren gerichtet, es mit der Demokratie nicht zu weit zu treiben, denn: „Demokratische Debatten“ könnten den Feind „ermutigen, einen Keil in den Zusammenhalt der Nation oder des alliierten Zusammenhalts zu treiben.“ Solche Auseinandersetzungen im Innern der westlichen Nationen könnten daher „leicht die Gefahr terroristischer Attacken erhöhen.“ (S 105)

Faust(gewohnheits-)recht. Nicht nur der mögliche Widerstand der Bevölkerung auch das Völkerrecht, sprich die UNO-Charta, stehen diesen Atomkriegsambitionen im Weg. Die Feldzüge der „Grand Strategy“ sollten daher auf einen völkerrechtlichen Sanktus verzichten, „wenn es keine Zeit gibt, den UNO-Sicherheitsrat einzubinden oder wenn der UNO-Sicherheitsrat sich als unfähig erweist, eine Entscheidung zu einem Zeitpunkt zu treffen, wo sofortige Aktion notwendig ist, um eine große Zahl von Menschenleben zu schützen.“ (S. 122) Außerdem merken die Generäle süffisant an, dass „internationales Recht nicht nur kodifiziertes Recht ist, sondern auch Gewohnheitsrecht, das durch Aktionen und ungeschriebene Regeln der Auslegung und Legitimität gestaltet wird.“ (S. 107)  Motto: wenn wir oft genug die UNO-Charta brechen, haben wir das Faustrecht selbst per Gewohnheitsrecht zur neuen völkerrechtlichen Norm erhoben.

“EU-Reformvertrag hilft”. Die Fünferbande fordert EU, USA und NATO auf, die „Grand Strategy“ unverzüglich in Angriff zu nehmen. Sie geißelt, die immer noch zu geringen Rüstungsanstrengungen der EU. „Europa muss den Preis der Verstärkung der militärischen Kapazitäten bezahlen“, um „die USA zu überzeugen, in eine erneuerte Abmachung einzutreten“, mit einem „besseres Gleichgewicht der transatlantischen Partner bei Entscheidungsfindung und Lastenteilung“. (S. 120) Freilich sehen die Generäle mit dem EU-Reformvertrag einen Silberstreif am Horizont: „Die EU-Verfassung bzw. der Lissabon-Vertrag können helfen die Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit und der gemeinsamen Politik zu fördern.“ (S. 73) Schließlich umfasst der EU-Reformvertrag all das, wonach sich die Generäle sehnen: Permanente Aufrüstungsverpflichtung, unbeschränktes Mandat für weltweite Kriege – auch ohne UNO-Zustimmung, Zentralisierung und Hierarchisierung der politischen und militärischen Führung. Robert Cooper, als Generaldirektor für außenpolitische Angelegenheit der EU und Büroleiter des EU-Außenbeauftragten Javier Solana einer der höchsten EU-Offiziellen, signalisiert Zustimmung zur „Grand Strategy“: "Vielleicht werden wir eher als alle anderen Atomwaffen einsetzen, aber ich würde mich hüten, das laut zu sagen.." (The Guardian, 22.01.2008)

Gerald Oberansmayr

(erschienen in: guernica 1/2008)

Quelle:
Towards a Grand Strategy for an Uncertain World. Renewing Transatlantic Partnership, Lunteren 2007.
Die Studie erschien beim Center for Strategic and International Studies (CSIS): www.csis.org/component/option,com_csis_events/task,view/id,1468/