ImageÜber Opferzahlen bisheriger Kriege des Westens aufklären, um neue zu verhindern. Ein Beitrag aus dem Werkstatt-Blatt 4/2014 von Joachim Guilliard
(Journalist und Friedensaktivist, Heidelberg, BRD)

Führende deutsche Politiker, Think Tanks und Medien drängen seit letztem Herbst verstärkt darauf, die Bundeswehr zukünftig häufiger in den Krieg zu schicken. Ein wichtiges Mittel gegen deren intensiven Bemühungen, dies durch Präsentation von angeblich neuen Bedrohungen und Aufbau von Feinbildern der Bevölkerung schmackhaft zu machen, ist, die verheerenden Folgen der letzten Kriege einer breiten Öffentlichkeit in ihrem ganzen Ausmaß vor Augen zu führen.

Wenn Bundespräsident Gauck und diverse Minister die angebliche „deutsche Zurückhaltung“ geißeln, so können sie damit nur das Nein zum Libyen-Krieg meinen. Die NATO führte ihre Bombenkampagne gegen das ölreiche Land offiziell allein zum „Schutze der Zivilbevölkerung“. Die Angaben, wie viele Libyer und Libyerinnen diesen „Schutz“ nicht überlebten, schwanken von 10.000 bis 50.000. Angesichts von 9.700 Angriffsflügen, rund 30.000 abgeworfener Bomben und einem halben Jahr heftiger Bodenkämpfe dürfte die tatsächliche Zahl wesentlich höher liegen und sie steigt angesichts des hinterlassenen Chaos täglich weiter. Obwohl der Krieg vom UN-Sicherheitsrat legitimiert - und im Westen gerne als Anwendung des neuen Konzepts der Schutzverantwortung „Responsibility to Protect“ gewertet - wurde, unterließen es die Vereinten Nationen seine Folgen genauer zu untersuchen.

Auch im gleichfalls unter UN-Mandat laufenden Afghanistankrieg wurde bisher keine ernsthafte Untersuchung über die Zahl der Opfer durchgeführt. Summiert man die Angaben der UN-Mission in Afghanistan, so liegt die Zahl der Ziviltoten für die bisherigen 12 Jahre Krieg unter 20.000 – weit weniger als beispielsweise pro Kopf und Jahr in US-Großstädten wie Detroit oder Baltimore Gewalttaten zum Opfer fallen.

Der Krieg gegen den Irak, dessen Beginn sich am 20. März zum elften Mal jährt, stand länger im Fokus der Öffentlichkeit und eine Reihe von Initiativen bemühte sich, die Zahl seiner Opfer zu erfassen. Repräsentative Umfragen, die Wissenschaftler auf eigene Initiative im besetzten Land durchführten, ergaben, dass bereits Mitte 2006 mehrere Hunderttausend Iraker dem Krieg zum Opfer gefallen waren. Obwohl nach denselben Methoden wie z.B. in der sudanesischen Provinz Darfur durchgeführt, wo die Ergebnisse Basis von UN-Resolutionen gegen den Sudan wurden, wurden ihre Forschungsergebnisse in den westlichen Medien sofort als unglaubwürdig abgetan, Mit durchschlagendem Erfolg: in den Bilanzen zum 10 Jahrestag des Krieges wurde die Zahl der Kriegstoten auf höchstens 110.000 beziffert. Laut Umfragen geht die Mehrheit der US-Amerikaner und Briten sogar davon aus, dass der Krieg ihres Landes höchstens 10.000 Menschleben gekostet habe.

Eine Million Tote im Irak

Um dem Ignorieren und Verharmlosen der Folgen der von westlichen Staaten geführten Kriege etwas entgegenzusetzen, initiierte die deutsche Sektion der IPPNW eine Studie über die Opferzahlen im sogenannten „Krieg gegen den Terror“. Sie wurde von Lühr Henken, Knut Mellenthin und mir verfasst, 2012 als Broschüre veröffentlicht und letztes Jahr noch einmal aktualisiert.*) Sie zeigt, dass der Krieg Afghanistan mit Sicherheit mehr als 100.000 Menschen tötete und belegt, dass die Ergebnisse, der auf Umfragen vor Ort beruhenden Mortalitätsstudien, durchaus realistisch sind, realistischer jedenfalls als alle auf Beobachtung beruhender Zahlen. Im Irak liegt die Zahl der bisherigen Opfer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit bei einer Million.

Die von den Medien meist angegebene Zahl beruht auf der Arbeit des britischen „Iraq Body Count“ (IBC). Dieses Projekt versucht die Zahl der Ziviltoten zu bestimmen, indem es alle Fälle, die in renommierten englischsprachigen Medien gemeldet oder anderweitig registriert wurden, sammelt. Bis 2013 wurden so rund 110.000 zivile Opfer erfasst.

Die statischen Erhebungen, die 2004 und 2006 in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurden, sowie die des britischen Meinungsforschungsinstituts „Opinion Research Business“ (ORB) legten hingegen nahe, dass bereits 2007 eine Million Iraker Krieg und Besatzung zum Opfer gefallen waren. Obwohl renommierte Fachleute auf diesem Gebiet ihnen bescheinigten, nach gängigem wissenschaftlichen Standard verfahren zu sein, reichte vielen Medien allein die große Diskrepanz zischen der Zahl der beobachten und der durch Hochrechung ermittelten Toten aus, um die Ergebnisse der Studien als spekulativ und völlig übertrieben abzutun.

Ein wesentlicher Grund für diese Diskrepanz liegt schon in der Zählweise. Indem sie die Sterblichkeit vor und nach Kriegsbeginn vergleichen, versuchen Mortalitätsstudien die Gesamtzahl der Menschen erfassen, die infolge eines Krieges starben. Initiativen wie IBC hingegen zählen als Kriegsopfer nur Zivilisten, die durch kriegsbedingte Gewalt getötet wurden. Damit fallen nicht nur Kombattanten aus dem Statistik, sondern auch alle, die an indirekten Kriegsfolgen, wie mangelnde Gesundheitsversorgung starben. Dies sind jedoch oft mehr als direkt getötet werden. Ohne genaue Untersuchungen vor Ort, lässt sich zudem weder der Status eines Toten noch die Todesursache zuverlässig feststellen.

In Kriegszeiten kann ohnehin nur, so die Erfahrungen aus anderen Konflikten, ein kleiner Teil der tatsächlichen Opfer durch passive Beobachtung erfasst werden. Stichproben in der über Internet zugänglichen Datenbank des IBCs belegen dies auch für den Irak. Selbst wochenlange Offensiven der US-Armee, mit massiven Luft- und Artillerieangriffen auf ganze Stadtviertel, hinterließen dort oft nicht die geringste Spur, häufig fand sich auch in den Fällen, wo glaubwürdige Berichte einheimischer Zeugen über Dutzende Tote vorliegen, kein Eintrag. Betrachtet man anderseits das ganze, sichtbar gewordene Ausmaß der Gewalt in den Jahren 2005 bis 2008, wird die Zahl von einer Million Toten leider durchaus plausibel.

Im Oktober 2013 wurden im Fachjournal PLOS Medicine die Ergebnisse einer neuen Mortalitätsstudie veröffentlicht, die möglichen Kritikern durch ein wesentlich konservativeres Vorgehen von Anfang an den Wind aus den Segeln nehmen wollte. Ihre Autoren schätzen die Zahl der Todesfälle im Irak, die bis Juli 2011 direkt oder indirekt auf den Krieg und die Besatzung zurückzuführen sind, auf eine halbe Million. Trotz der Diskrepanz zu den Schätzungen der früheren Studien, stützt sie diese mehr als dass sie widerlegt.

Zum einen liegt ihre Hochrechnung um ein Mehrfaches über der Zahl, die Medien üblicherweise vermelden. Entsprechend gering war deren Echo. Zum anderen halten die beteiligten Wissenschaftler selbst ihr Ergebnis für eine Unterschätzung. Ein Problem ist die lange Zeit, die seit den Hochzeiten des Krieges vergangen ist, ein noch gravierenderes, die mehr als drei Millionen Flüchtlinge, die in die Studie nicht adäquat einbezogen werden konnten – und damit gerade die Familien, die besonders stark vom Krieg betroffen waren. Auch Familien, die vollständig ausgelöscht oder sich nach dem Tod mehrerer Mitglieder aufgelöst haben, fielen aus der Statistik. Wären die Toten von zwanzig solcher Familien – das entspricht einem Prozent der befragten Familien – mit eingeflossen, so hätte das Ergebnis leicht um 50 Prozent höher ausfallen können.

Vermutlich über 200.000 Tote in Afghanistan

Unabhängig davon bestätigt auch die neue Studie die Notwendigkeit statistischer Erhebungen. Natürlich sind die Ergebnisse aller statistischen Erhebungen mit erheblichen Ungenauigkeiten behaftet, auch die Lancet-Studien auf die wir uns bisher stützten. Dennoch können nur mit Umfragen vor Ort die Größenordnungen der Opfer realistisch geschätzt werden. Nur so können zudem auch Informationen über die Täter ermittelt werden. Da in den Medien vor allem über die Bomben- und Selbstmordanschläge auf zivile Ziele berichtet wird, erscheinen diese z.B. in Statistiken, die auf gemeldeten Fällen beruhen, wie die des IBC, auch als hauptsächliche Todesursache. Die früheren und die neue Umfragen stimmen hingegen überein, dass weit mehr Menschen durch Kleinfeuerwaffen, Luft- und Artillerieangriffe getötet wurden. Allein die Luftangriffe der Besatzungstruppen werden für ein Siebtel aller Kriegstoten verantwortlich gemacht.

Man kann selbstverständlich die Erkenntnisse aus dem Irak nicht eins zu eins auf den Krieg in Afghanistan übertragen. Sie legen jedoch nahe, dass auch hier die Gesamtzahl der Opfer ein Vielfaches über der Zahl gemeldeten liegt und vermutlich 200.000 übersteigt – eine vernichtende Bilanz für einen Nato-Einsatz, der als „Internationale Sicherheits- und Unterstützungstruppe“ firmiert. Eine genauere Schätzung kann auch hier nur eine statistische Erhebung bringen. Friedens- und Menschrechtsgruppen sollten daher verstärkt von der UNO und der eigenen Regierung die Durchführung solcher Untersuchungen fordern – in Afghanistan, in Libyen und an allen anderen Orten wo die Bundeswehr und ihre Verbündeten im Einsatz sind.

*) „Body Count – Opferzahlen nach zehn Jahren Krieg gegen den Terror“, IPPNW, März 2013, als PDF-Dokument zu finden unter: http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/Body_Count_Maerz2013.pdf


Weitere Infos auf dem Blog des Autors: http://jghd.twoday.net/

19.11.2014