Die FPÖ und deren Spitzenkandidat für das EU-Parlament Harald Vilimsky gerieren sich derzeit regelrecht als Schutzmantelmadonna der Neutralität. Gleichzeitig streichen sie hervor – Vilimsky mehrfach in ORF-Interviews -, dass sie für das „Szenario 4“ der „Zukunft der EU“ eintreten, das der Neutralität den Todesstoß versetzen würde.
Kurze Hintergrundinformation: Die EU-Kommission unter Jean Claude hat 2017 in einem „Weißbuch zur Zukunft Europa“ fünf mögliche Szenarien entwickelt, welchen Weg die EU in Zukunft einschlagen könnte. Es lohnt sich nachzulesen. Unter der Überschrift „Weniger aber effizienter“ charakterisiert das „Szenario 4“ den zukünftigen Pfad für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik folgendermaßen:
„Die EU spricht mit einer Stimme zu allen Themen der Außenpolitik; eine Europäische Verteidigungsunion wird geschaffen. … Gemeinsame Verteidigungskapazitäten werden eingerichtet.“
Im Klartext: Schluss mit dem Einstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik, gemeinsame Aufrüstung bis hin zu gemeinsamen EU-Streitkräften, gemäß dem Prinzip: mit einer Stimme sprechen und mit einer Faust zuschlagen. Mit der Neutralität Österreichs ist dieses Szenario 4 in keiner Art und Weise vereinbar. Denn Neutralität bedeutet genau das Gegenteil: Unabhängigkeit in der Außenpolitik, um Raum für eine aktive Friedens- und Dialogpolitik zu haben, und kein mitmarschieren bei Militärpakten und Großmachtarmeen.
Wer sich ein wenig mit der FPÖ und ihrer Geschichte beschäftigt, weiß: Diese Partei des deutschnationalen Rechtsextremismus hasst die 2. Republik und die österreichische Neutralität (ausführlich siehe hier). Folgerichtig hat sie in Regierungsverantwortung alle Schritte gesetzt und (mit-)beschlossen, die die Neutralität mit Füßen treten: Teilnahme an EU-Battlegroups und EU-SSZ/Pesco, neutralitätsfeindliche Novellierung des Kriegsmaterialgesetzes, Einbindung des Bundesheeres in die Strukturen der deutschen Bundeswehr u.v.a.m. In Oppositionszeiten versucht sich die FPÖ dagegen als EU-kritisch und Verteidiger der Neutralität zu profilieren. Insofern ist für uns diese Doppelbödigkeit der FPÖ wenig überraschend. Wir fragen uns aber: Wie kann es sein, dass es keinen einzigen Journalisten, keine einzige Abgeordnete in einer anderen Partei gibt, der/die die FPÖ der Lüge überführt, wenn sie die Neutralität hochleben lässt und zugleich „Szenario 4“ der EU-Entwicklung propagiert, das der Neutralität diametral entgegensteht. Mit einem Schlag würden Kickl und Vilimsky wie weiland im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ pudelnackert dastehen.
Wir wissen das nicht, aber wir haben eine Vermutung: Die meisten anderen Parteien unterstützen das „Szenario 5“, das im Weißbuch für die Zukunft der EU entworfen wird. Dort finden wir – unter der Überschrift „Viel mehr gemeinsames Handeln!“ - zum Bereich Außen- und Sicherheitspolitik folgende lakonische Bemerkung:
„Wie im Szenario 4 „Weniger, aber effizienter“ spricht die EU mit einer Stimme zu allen Themen der Außenpolitik; eine Europäische Verteidigungsunion wird geschaffen.“
Es wäre doch zu peinlich, wenn die Parteiführungen sich gegenseitig überführen würden, dass ihre öffentlichen Bekenntnisse zur Neutralität gleichermaßen Lug und Betrug sind und sie hinter den Kulissen gemeinsam – wenn auch mit verteilten Rollen – eine eigenständige österreichische Friedens- und Neutralitätspolitik zu Grabe tragen wollen. Immerhin unterstützt nach wie vor eine große Mehrheit der Bevölkerung aus gutem Grund die Neutralität Österreichs. Alle Parteien sowie der Großteil der Medien ziehen es daher offensichtlich vor, sich dumm zu stellen und zu schweigen – über Szenario 4 ebenso wie über Szenario 5.
(Oktober 2023)