Wir erleben in Europa einen besorgniserregenden Rechtsrutsch, ausgelöst und vorangetrieben durch ein uraltes Herrschaftsinstrument: die Ethnisierung des Sozialen. Insbesondere das Flüchtlingsleid wird gnadenlos instrumentalisiert, um die Zentralisierung, Hierarchisierung und Militarisierung in der EU voranzutreiben.
Wenn soziale Existenzängste für das herrschende System bedrohlich werden, dann wählen die Systemeliten oft den Ausweg, die sozialen Konflikte zu ethnisieren, d.h. die Verängstigten und Empörten auf Gruppen zu hetzen, die sich kulturell, religiös oder von Herkunft und Aussehen unterscheiden. Diese Ethnisierung des Sozialen soll die Verängstigten und Empörten davon abhalten, sich zu solidarisieren und ihre Wut gegen die gesellschaftlichen Ursachen der Existenzängste zu richten. Ihre Empörung soll weggelenkt werden von den Konzerneliten und Technokratien, die – hierzulande vor allem über die EU – ein neoliberales Regime etabliert haben, in dem Armut, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit sprunghaft zunehmen. Die Empörung soll umgelenkt werden in einen Hass gegen besonders verletzliche Gruppen, insbesondere Flüchtlinge, die vor jenen Kriegen fliehen, die maßgeblich von den Interessen derselben Konzerneliten- und Technokratien angefeuert wurden: durch Bombenkriege, durch Rüstungsexporte, durch Unterstützung von jihadistischen oder neofaschistischen Gruppierungen, um einen prowestlichen Regimechange in jenen Ländern an der „Peripherie“ zu erzwingen, die nicht zur völligen Unterwerfung berat waren. Die Opfer der Sozialabbaupolitik im Inneren werden auf die Opfer der Kriegspolitik im Äußeren gehetzt. Teile und herrsche.
Es führt in die Irre, diese Entwicklungen als Verschwörung sinistrer Kräfte zu deuten, die hinter den Kulissen souverän die Fäden ziehen und die Puppen tanzen lassen. Auch die Mächtigsten sind oftmals Getriebene, ihre eigene Politik wirft immer wieder neue Widersprüche auf, die für sie selbst gefährlich werden, ihre gegenseitige Rivalität zermalmt nicht selten ihre eigenen Projekte. Gerade die EU-Eliten erleben, wie ihre Politik des „Regime Change“ gegenüber der eigenen Bevölkerung (Beseitigung des Sozialstaats) als auch gegenüber anderen Staaten (Neoliberalismusexport durch Krieg) auf immer heftigeren Widerstand stößt. Besonders beunruhigt die Mächtigen, dass immer mehr Menschen beginnen, die EU insgesamt in Frage zu stellen, deren Versprechungen von mehr Wohlstand und Frieden sich als Jahrhundertbetrug entpuppt haben. Das EU-Konkurrenzregime hat zentrifugale Kräfte freigesetzt, die den inneren Zusammenhalt gefährden. Die Regime-Change-Politik in Libyen, Syrien und der Ukraine hat Geister wachgerufen, die sich nun gegen deren westliche Entfessler wenden.
Zentralisierung, Hierarchisierung, Militarisierung
Wir wissen aus der Geschichte: Wenn die Herrschenden nicht mehr so können, wie sie wollen, und die Beherrschten nicht mehr so wollen, wie sie sollen, dann drohen dem herrschenden System tiefe Erschütterungen. Das eröffnet neue Spielräume für progressive Alternativen – in Richtung mehr Demokratie, mehr Gleichheit, mehr Solidarität. Die EU-Eliten tun alles, um das zu unterbinden. Die EU ist geradezu das Projekt, solche progressiven Alternativen zu versperren. Bedrängte Kapitaleliten haben – auch das wissen wir aus der Geschichte – oftmals die Flucht nach vorne angetreten, indem sie mit offen antidemokratischen, rechtsextremen Kräften Allianzen bilden. Hauptzweck – siehe oben: Die Ethnisierung des Sozialen, um die Opfer gegeneinander zu hetzen. Das eröffnet den Herrschenden Spielräume, nicht nur um sozialen und demokratischen Fortschritt zugunsten unterer sozialer Schichten abzuwehren, sondern auch um die Ängste unterer sozialer Schichten als Triebkräfte für die aggressivsten Pläne der Herrschenden zu mobilisieren. Maßgebliche EU-Eliten treten derzeit diese Flucht nach vorne an. Das Flüchtlingsleid, das durch ihre Kriege, durch ihre neoliberale Freihandelspolitik maßgeblich verursacht wurde, wird brutal ausgenutzt, um die Zentralisierung, Hierarchisierung und Militarisierung in der EU voranzutreiben:
- Aufrüstung einer zentralen EU-Armee mit globalem Interventionsmandat und Durchgriffsrechten im Inneren)
- Installierung einer EU-Geheimdienstes mit umfassenden Bespitzelungsvollmachten
- weitere Entmündigung der nationalen Parlamente in der Wirtschaftspolitik, um den Sozialstaat zum „Auslaufmodell“ (EZB-Chef Mario Draghi) zu machen.
Durch die weitere Machtverschiebung zugunsten der EU-Technokratie sollen die Interessen der unteren sozialen Schichten völlig aus dem politischen System ausgegrenzt, zentrifugale Kräfte an der Peripherie diszipliniert und eine militärische Supermacht etabliert werden. Die konkrete Form dieser Zentralisierung, Hierarchisierung und Militarisierung könnte über die Installierung eines von Berlin dominierten „Kerneuropas“ laufen. Bereits im Sommer 2015 legte Michel Barnier, der vom Kommissionspräsidenten zum Sonderberate für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ernannt worden ist, ein Strategiepapier vor, das die Einrichtung eines militärischen Kerneuropas („Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“, nach Art. 42, Abs 6, EUV) einfordert, um dem Ziel einer EU-Armee näher zu kommen. Berlin und Paris haben umgehend die Unterstützung dieses Planes angekündigt.
Über Frontex zur EU-Armee?
Auch die österreichische Regierung marschiert in diese Richtung. Das Proklamieren von sog. „Obergrenzen“ für Menschen, die in Österreich um Asyl ansuchen dürfen, signalisiert die Bereitschaft, die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Genfer Flüchtlingskonvention zu ignorieren. Bedeutender im aktuellen Asylpaket der Bundesregierung könnte jedoch ein anderer Passus sein, der öffentlich weniger thematisiert wird, weil hier sowohl Regierung als auch blaue, pinke und grüne „Opposition“ an einem Strang ziehen: Flüchtlinge sollen so bald wie möglich überhaupt keine Möglichkeit mehr haben, in Österreich um Asyl anzusuchen. Die gesamte Asylpolitik soll völlig auf EU-Ebene zentralisiert werden. Asylanträge sollen nur mehr in den „Hotspots“ an den EU-Außengrenzen gestellt werden können. Frontex soll von einer „Grenzschutzagentur“ zu einer mächtigen EU-Grenztruppe ausgebaut werden.
Über Frontex soll in den Hotspots an den EU-Außengrenzen vorselektiert und dann auf die EU-Staaten aufgeteilt oder gleich abgeschoben werden. Aus den EU-Türkei-Gesprächen ist durchgesickert, dass solche Vorselektionen in Hotspots vor allen den Zweck verfolgen, die wirtschaftlich „Verwertbaren“ von den „Unverwertbaren“ zu trennen. Damit wird die Genfer Flüchtingskonvention völlig ins Gegenteil verkehrt. Statt endlich Waffenexport und Kriege zu beseitigen, werden Selektionszentralen eingerichtet, um von Krieg und Rüstungsgeschäften ein zweites Mal zu profitieren, indem man gut ausgebildete, billige Arbeitskräfte aus den zerstörten Staaten absaugt. Gegenüber den „Unverwertbaren“ werden die Mauern hochgezogen, um sich das Kriegsgeschäft nicht vermiesen zu lassen. Wie rasch diese militarisierte Flüchtlingsabwehr in offene Militärinterventionen umschlagen kann; zeigt das Mandat der EUNAFOR-Med-Mission-Mission im Mittelmeer, das von der Zerstörung von Schiffen bis hin zur Interventionen auf libysches Territorium reicht.
Auch die Machterweiterung für Frontex zielt in Richtung einer EU-Armee. Die Europäische Volkspartei hat bereits im Herbst 2015 ein Papier beschlossen, in dem der Kampf gegen Flüchtlinge und die Stärkung von Frontex als Zwischenschritt zu einer EU-Armee gesehen wird. Dadurch sollen die Militärausgaben "wieder erhöht und nationale militärische Ressourcen gebündelt werden." Bis zum Sommer 2016 soll der EU-Auswärtige Dienst eine diesbezügliche Strategie vorlegen. EVP-Präsident Joseph Daul: "Wir werden eine Europa-Armee schneller bekommen, als viele Leute glauben." (Die Presse, 20.10.2015)
Diese Zentralisierung der Asylpolitik hätte eine weitreichende Machtverschiebung zur Folge: Nicht nur der Schutz der EU-Außengrenzen wird den einzelnen Nationalstaaten und ihren Parlamenten entzogen, die EU-Bürokratie würde weitreichende Eingriffsrechte in die Organisation der inneren Sicherheit in allen EU-Staaten erhalten, um jene Flüchtlinge zu verfolgen, die durch die Mauern an den Außengrenzen geschlüpft sind. Dass jetzt bereits der Vorschlag auf dem Tisch liegt, Frontex zum Einmarsch in EU-Staaten auch gegen deren Willen zu ermächtigen, liefert dafür einen Vorgeschmack.
FPÖ – Partei der aggressivsten EU-Eliten
Jene die geglaubt haben, die EU könne vor einem Erstarken der extremen Rechten schützen, sollten endlich aufwachen. Es ist gerade die EU-Politik - genauer: die von Macht- und Konzerneliten betriebene Politik, über die EU eine imperiale Großmacht zu etablieren und den Sozialstaat auszuhebeln - die den Aufstieg der extremen Rechten befeuert. Die Mächtigen wissen: Imperiale Großmachtspolitik und Neoliberalismus können nur durch die entfesselte Ethnisierung des Sozialen durchgesetzt werden. Nur so kann der Widerstand gegen Kriegs- und Sozialabbaupolitik gebrochen und die weitere Zentralisierung, Hierarchisierung und Militarisierung durchgesetzt werden. Die FPÖ ist die Partei jener aggressiven EU-Eliten, die jetzt die Flucht nach vorne antreten wollen. Die Ethnisierung des Sozialen und der Aufbau einer EU-Armee sind ebenso Programm der FPÖ wie die „kerneuropäische“ Zentralisierung und Hierarchisierung von Macht unter der Vorherrschaft der deutschen Eliten.
Bereits nach den Wien-Wahlen im Oktober 2015 vermerkte der freiheitliche Historiker Lothar Höbelt süffisant, dass „die FPÖ im Trend“ liege und die EU mittlerweile „zwei Drittel des FPÖ-Programms“ umgesetzt habe. Mit den aktuellen Vorhaben nähert sich das der 100%-Marke. Nicht zufällig hat die FPÖ-Führung die jüngsten EU-Beschlüsse zur Aufrüstung von Frontex begrüßt.
Menschlichkeit und Sicherheit nicht auseinanderreißen!
Ethnisierung des Sozialen bedeutet Rückfall in die Barbarei. Die große Mehrheit der Menschen verabscheut Barbarei. Um die Menschen für diese Unmenschlichkeit empfänglich zu machen, bedienen sich die Mächtigen immer wieder desselben Kniffs: Humanismus und Sicherheitsbedürfnisse der Menschen werden in Gegensatz zueinander gebracht. Wer Angst um seine Sicherheit und die seiner Nächsten hat, der/die ist – so zeigt die Geschichte – zu großer Grausamkeit fähig. Ebenso zeigt die Geschichte: Wer immer sich von den Herrschenden aus Angst um seine Sicherheit dazu verleitet lässt, die Menschlichkeit aufzugeben und auf noch Schwächere einzudreschen, der ist in der Regel der nächste oder übernächste, dem die Haut abgezogen wird. Der Schulterschluss mit den Herrschenden schützt nicht, er macht wehrlos! Wer die Menschlichkeit – und dazu gehört nicht zuletzt das Asylrecht für Flüchtlinge! - für vermeintliche Sicherheit aufgibt, verliert letztlich beides. Barbarei und Unsicherheit sind ebenso sehr zwei Seiten einer Medaille wie Menschlichkeit und Sicherheit. Wir müssen daher alles daran setzen, diese perfide Strategie, Humanität und Sicherheit auseinanderzureißen, zu durchkreuzen. Wer ein gewaltstrotzendes Imperium aufbauen will, muss permanent Angst und Unsicherheit schüren, um die Menschen für diesen antidemokratischen Gewaltakt gefügig zu machen. Und umgekehrt: Wenn wir Menschlichkeit fördern wollen, müssen wir um gesellschaftliche Rahmenbedingungen ringen, die die Menschen von Angst und Ohnmacht befreien.
Was kann das hier und heute heißen?
Erstens: Verteidigen wir das österreichische Asylrecht! Grenzkontrollen an Österreichs Grenzen, die helfen, dieses Asylrecht geordnet und ohne Bilder des Chaos zu verwirklichen, sind nicht das Problem. Das Problem ist die Militarisierung der EU-Außengrenzen, die das Mittelmeer zum Massengrab macht und dazu dient, eine EU-Armee für weltweite Kriegseinsätze aufzubauen. Daher: Schluss mit der Beteiligung Österreichs am EU-Krieg gegen Flüchtlinge! Raus aus Frontex und den EU-Dublin-Verordnungen!
Zweitens: Bekämpfen wir die Fluchtursachen, nicht die Flüchtlinge! Die Kriegspolitik der westlichen Großmächte, die oftmals mit brutaler Gewalt durchgesetzten EU-Freihandelsregime und die Ausplünderung der Ressourcen in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten sind die wahren Ursachen für die Flüchtlingstragödien. Österreich kann alleine diese Fluchtursachen nicht beseitigen, aber Österreich kann aufhören, Teil des Problems zu sein. Beenden wir die die Genehmigung von Waffentransporten für EU- und NATO-Kriege durch unser Land, stoppen wir die Einbindung von Betrieben und Unis in den militärisch-industriellen-Komplex, hören wir auf, bei den EU-Battlegroups mitzumarschieren und im EU-Auswärtigen Dienst die Vorgaben aus Brüssel und Berlin abzunicken, steigen wir aus der militärischen EU-Beistandsverpflichtung aus und verweigern wir die Zustimmung zu neoliberalen Freihandelsverträgen. Beginnen wir Teil der Lösung zu werden – durch eine aktive Friedens- und Neutralitätspolitik, die sich international für friedliche Konfliktlösungen und Abrüstung engagiert; durch die Stärkung kooperativer Handelsbeziehungen statt räuberischem Freihandel!
Drittens: Drehen wir die Debatte um „Obergrenzen“ um! Natürlich wissen wir, dass es in einer begrenzten Welt für alles Obergrenzen gibt, aber anstatt inhumane Obergrenzen zu proklamieren, die niemandes Sicherheit dienen, rufen wir humane Obergrenzen aus, die unserer Sicherheit wirklich dienlich sind: Obergrenze für Arbeitslosigkeit (möglichst der Null-Prozent-Marke), Obergrenzen für soziale Ungleichheit (also Mindestlöhne und Obergrenzen für Spitzeneinkommen), Obergrenzen für Mietpreise und Wohnungskosten, Obergrenzen für Schadstoffemissionen (deutlich niedrigere als die bisherigen), (möglichst niedrige) Obergrenzen für Wartezeiten auf medizinische Behandlungen bzw. auf die Inanspruchnahme von sozialen Dienstleistungen. Um solche Obergrenzen durchsetzen zu können braucht es freilich vor allem eine Obergrenze für die Deregulierung und Liberalisierung von Waren-, Kapital- und Arbeitsmärkten – konkret: eine demokratische Regulierung der Wirtschafspolitik statt des neoliberalen EU-Binnenmarkt, der die arbeitenden Menschen in eine gnadenlose Konkurrenz zueinander treibt, die soziale Sicherheit zerstört und die süd- und osteuropäischen Staaten ausbluten lässt. Wenn wir eine solche Politikumkehr durchsetzen, die Sicherheit und Menschlichkeit miteinander verbindet, dann wird es vielen leichter fallen, Menschen, die fliehen müssen, die helfende Hand zu reichen, statt sie als Bedrohung zu sehen.
Viertens: Enttabuisieren wir endlich die Frage des EU-Austritts! Der Aufbau einer imperialen Großmacht nach außen und der Abbau des Sozialstaates im Inneren bedürfen der permanenten Ethnisierung des Sozialen. Rechtsextremismus ist der siamesische Zwilling des EU-Projekts. Wer die Frage des EU-Austritts tabuisiert, lähmt den Kampf gegen Militarisierung, Sozialabbau und Rassismus.
Gerald Oberansmayr
(29.1.2016)