Der Krieg in der Ukraine geht in sein drittes Jahr. Ein friedenspolitischer Ausweg braucht ein Verständnis für die Vorgeschichte des Krieges – und den Druck der Friedensbewegung.
In unseren Medien wird immer wieder die Redewendung vom „unprovozierten Angriffskrieg“ Russlands verwendet. Dass es ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg war, ist richtig, dass er unprovoziert war, wird durch die gebetsmühlenartige Wiederholung nicht zutreffender, auch wenn die Provokationen kein einmaliger Akt waren, sondern eine Politik, die sich über drei Jahrzehnte erstreckt. Ein kurzer historischer Abriss verdeutlicht das.
Osterweiterung der NATO
Russland vertraute auf das Versprechen der NATO, „keinen Zentimeter Richtung Osten“ vorzurücken – und wurde dabei kalt über den Tisch gezogen. Tatsächlich breitete sich die NATO in fünf Erweiterungswellen 2.000 km weiter nach Osten aus.
Parallel dazu wurden Verträge aus der Entspannungszeit zwischen Ost und West aufgekündigt: 2002 traten die USA aus dem ABM-Vertrag aus. Der ABM-Vertrag („Anti-Ballistic-Missile-Treaty), der die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen vorsah, war ein wichtiges Abkommen zwischen den USA und der Sowjetunion (bzw. Russland), um keiner der atomaren Supermächte durch ein Raketenabwehrschild eine nukleare Erstschlagkapazität zu verschaffen. 2019 kündigten die USA den INF-Vertrag, der die Stationierung von nuklearen Raketensystemen mit mittlerer und kürzerer Reichweite verbietet.
Neoliberale Schocktherapie fordert 10 Millionen Opfer
Ein weiterer Aspekt wird regelmäßig unter den Tisch gekehrt, dabei kann nichts, was im postsowjetischen Russland passiert ist, ohne ihn erklärt werden: die postkommunistische Transformation. Unter dem Einfluss westlicher Havard-Ökonomen wurde in Russland eine Schocktherapie durchgezogen, die in den 90er Jahren eine Spur der Devastierung durch das Land zog: In 500 Tagen wurden mehr als 200.000 Unternehmen privatisiert und dem Raubtierkapitalismus freie Bahn gegeben. Arbeitslosigkeit, Armut und Verlust an Lebensperspektive nahmen epidemische Ausmaße an und ließen zwischen 1990 und 1994 die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern von 63,8 auf 57,6 Jahre und von Frauen von 74,4 auf 71,2 Jahre sinken. Es war ein lautloses Massaker, die Menschen starben an Alkoholismus, Selbstmord, Kriminalität, dem Zusammenbruch des staatlichen Gesundheitswesens, der sozialen Verelendung. Zehn Millionen RussInnen verschwanden aus der Statistik (1). Die westliche Schocktherapie wurde mit autoritären Methoden durchgezogen: Unter westlichem Applaus wurde 1993 das Parlament in Moskau von Panzern zusammengeschossen und eine autoritäre Verfassung durchgezogen. Die westliche Schocktherapie hinterließ ein schwer traumatisiertes Land.
Prowestlicher Staatsstreich in Kiew
Die Ukraine war – ökonomisch, politisch und kulturell – ein zutiefst gespaltenes Land. Ohne Rücksicht darauf zielte der Westen auf die Einbindung in NATO und EU. Bereits 2008 stellte der NATO-Gipfel der Ukraine eine Mitgliedschaft in Aussicht. 2013/14 betrat dann die EU machtvoll das Spielfeld. Durch das EU-Ukraine-Assoziationsabkommen sollte die Ukraine dem neoliberalen Freihandel und dem Ausverkauf an westliche Konzerne geöffnet und militärisch an die EU angebunden werden. Die damalige Regierung Janukowitsch, die zwischen Moskau und Brüssel zu pendeln versuchte, lehnte das Abkommen schließlich ab, weil sie wusste, dass damit die tief gespaltene Ukraine in die ultimative Zerreißprobe geführt und die mühsame Balance zwischen Ost und West zerstört werden würde. Genau das geschah. EU und USA unterstützten mit Hilfe faschistischer Kräfte im Februar 2014 einen gewaltsamen prowestlichen Staatsstreich, der eine Regierung an die Macht hievte, die rasch das EU-Ukraine-Assoziationsabkommen durchpeitschte. Es folgte die russische Annexion der Krim, die Abspaltung der sog. Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten des Landes und ein grausamer Bürgerkrieg, der zwischen 2014 und 2022 rd. 14.000 Menschen das Leben gekostet hat.
Repressive Durchsetzung westlicher Politik
Wie immer man diese Abspaltungen beurteilt, sie sind unmittelbare Folge des gewaltsamen Staatsstreichs in Kiew. Dieser löste eine Repression gegen die Opposition aus: Kommunistische (später alle linken und liberalen) Parteien und oppositionelle Medien wurden verboten, die russische Sprache – immerhin die Muttersprache von rd. einem Drittel der UkrainerInnen – wurde aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Es ist keine russische Erfindung, dass nach dem Regime Change in Kiew rechtsextremer Straßenterror den Widerstand gegen die neuen Machthaber brutal einzuschüchtern versuchte. Brutaler Höhepunkt: Im Mai 2014 verbrannte ein rechtsextremer Mob Dutzende DemonstrantInnen bei lebendigem Leib in einem Gewerkschaftshaus in Odessa. Der Westen schwieg und Kiew deckt bis heute die Mörder.
Hintertreibung des Minsker Abkommens
Nachdem die ukrainische Armee Ende 2014/Anfang 2015 im Bürgerkrieg gegen die abtrünnigen Republiken in die Defensive geraten war, stimmte Kiew im Februar 2015 dem Minsker Abkommen zu. Dieses sah eine Waffenruhe vor, bot darüber hinaus aber auch eine Perspektive, die Einheit der Ukraine zu bewahren: Die Ukraine sollte im Dialog der Konfliktparteien eine neue Verfassung ausarbeiten, die den Regionen mehr Autonomie zugestehen sollte. Heute wissen wir: Kiew hintertrieb - mit dem Wohlwollen der westlichen Mächte - das Minsker Abkommen und nutzte die brüchige Waffenruhe, um die Armee mit westlichen Waffen massiv aufzurüsten. Ende November 2017 sagte der ukrainische Innenminister Arsen Awakow auf dem 8. Nationalen Expertenforum: „Ich bin der Meinung, dass die Minsker Vereinbarungen tot und nicht mehr der Rede wert sind … Wir haben das Abkommen unterschrieben, ohne vorzuhaben, es zu erfüllen.“ (3) Angela Merkel bestätigte in einem Spiegel-Interview diese Aussage: „Das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.“ (4) Nach dem Staatsstreich provozierte das neue ukrainische Parlament 2015 Russland durch einen Beschluss, die Stationierung von westlichen Atomwaffen auf ihrem Territorium zuzulassen. 2018 verlieh die NATO der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten. Im Februar 2019 schrieb die Ukraine das Ziel des NATO- und EU-Beitritts in die Verfassung.
Strategische Falle?
Diese langfristige Offensive des Westens führte manche Beobachter dazu, von einer „strategischen Falle“ zu sprechen (4), die der Westen Russland gestellt hat. Der Westen wollte Russland zur Invasion in die Ukraine provozieren. Doch auch wenn viele Fakten für diese These sprechen, eines kann dadurch nicht erklärt werden: Warum ist Russland in diese Falle gelaufen. Warum hat Russland unter Bruch des Völkerrechts diesen verbrecherischen Krieg begonnen. Das war keineswegs zwingend und alternativlos. Befördert durch die nationale Demütigung, das Trauma des Niedergangs der 90er Jahre und das ständige Vordringen des Westens hat sich im russischen Establishment eine ethno-nationalistische Sicht durchgesetzt. Reale Bedrohungssituationen vermengten sich mit eurasischen Machtfantasien. Das erklärt die wiederkehrenden Ausschweifungen Putins über 1000 Jahre alte russische Kultur und seine antikommunistischen Hasstiraden gegen die Lenin‘sche Außenpolitik, die der Ukraine das Recht auf nationale Souveränität zusprach. Mit Blut-und-Boden-Argumenten wird Geopolitik betrieben. Putin wörtlich: „Unser (russischer, Anm. d. Verf.) genetischer Code ist einer unserer Konkurrenzvorteile in der modernen Welt. Er ist sehr zäh und widerstandsfähig.“ (5) Der geschichtspolitische Irrsinn wurde offensichtlich, als Putin - anlässlich seiner Rede zur Annexion der vier ukrainischen Oblaste – andeutete, dass auch Nazi-Deutschland zu den Opfern anglo-amerikanischer Mächte zählte (6). Dieser völkische Tunnelblick führte zu der Hybris, die im völkerrechtswidrigen Überfall von 24. Februar 2022 gipfelte. Wenn der Westen eine „Strategisches Falle“ aufbaute, dann konnte sie nun zuschnappen, weil die ethno-nationalistischen Scheuklappen friedenspolitische Alternativen verdeckten.
Kurzer Hoffnungsschimmer…
Unmittelbar nach der russischen Invasion in der Ukraine gab es einen Hoffnungsschimmer, dass der Krieg rasch beendet werden könnte. Bei den russisch-ukrainischen Gesprächen in der Türkei kamen sich die Kriegsparteien erstaunlich nahe, mit einer ebenso einfachen wie friedensstiftenden Formel: Die Ukraine sollte die territoriale Integrität bewahren und zugleich neutral werden. Die Beilegung des Konflikts um die Krim sollte in einem zehnjährigen Prozess am Verhandlungstisch gefunden werden. Die USA, Deutschland, China, die Türkei und einige andere Staaten sollten die Neutralität der Ukraine garantieren (6). Souveränität und Neutralität sind nicht Gegensatzpaare, sondern ergänzen, ja bedingen sich, insbesondere bei einem Staat an der Nahtstelle geopolitischer Konflikte. Die Ukraine kann souverän gegenüber dem Westen und Russland werden, indem sie neutral wird. Mit guter Politik gepaart, könnte sich so die Ukraine vom Zankapfel zu einem Brückenbauer zwischen Ost und West wandeln.
Doch das war mitnichten die Absicht des Westens: Wozu all der Aufwand zur Zerstörung der ukrainischen Neutralität, wozu all die Investitionen in neofaschistische Paramilitärs und die Öffnung des ukrainischen Marktes. Der Krieg war unersetzlich: Er brachte endlich die Legitimation für die Militarisierung der Europäischen Union, für den Höhenflug des militärisch-industriellen Komplexes, für die geopolitische Konfrontation. Der Krieg schuf endlich den Außenfeind, der die EU „die Sprache der Macht“ (Josep Borrell) erlernen ließ. Dieser Krieg musste in die Länge gezogen werden, er durfte nicht in die Neutralität der Ukraine münden. Westliche Politiker und ukrainische Ultranationalisten torpedierten die Gespräche in Istanbul, indem sie die Parole ausgaben, bis zur „Niederlage“, ja „Ruinierung“ Russlands kämpfen zu wollen. Die „Proklamation der Ukraine als neutralen Staat“, ein 10-Punkte Vorschlag der ukrainischen Delegation bei den Istanbuler Gesprächen, verschwand – vorläufig – von der Tagesordnung.
Freilich konnte sich der westliche Imperialismus auf die Macht der ethno-nationalistischen Fraktion im russischen Machtapparat verlassen: Die russische Führung reagierte ganz in ihrem Sinne, indem sie im Herbst 2022 die vier östlichsten Oblaste der Ukraine völkerrechtswidrig annektierte. Das gab dem Westen die Legitimation, die Ukraine mit Waffen zuzuschütten und weiter in einem brutalen Abnützungskrieg bluten zu lassen. Jetzt – nachdem der Krieg offensichtlich nicht mehr zu gewinnen ist – lanciert die NATO einen „Friedensplan“: Aufgabe eines Fünftels der Ukraine, sofortiger Beitritt der restlichen vier Fünftel zur NATO. Es ist nicht schwer zu begreifen, dass das kein „Friedensplan“ für die Ukraine ist, sondern die Perpetuierung des Konflikts. Eine waffenstarrende Ukraine direkt vor die Haustür Moskaus wird zur dauerhaften Quelle für Feindbildproduktion – eine Traumsituation für den militärisch-industriellen Komplex.
… lebt wieder auf
Doch der Hoffnungsschimmer lebt wieder auf. Denn noch immer lebt der Plan einer souveränen und neutralen Ukraine. Viele haben sich dafür eingesetzt. So zum Beispiel der Vatikan, der in seiner Erklärung „Für einen gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine“ einen „ausverhandelten Frieden“ als Alternative zu einem blutigen Abnutzungskrieg sieht. In dem – in unseren Medien kaum beachteten - Dokument heißt es: „Für die Ukraine bedeutet Sicherheit, dass auf ein Friedensabkommen keine erneuten russischen Drohungen oder Übergriffe folgen werden. Für Russland bedeutet Sicherheit, dass ihrem Rückzug aus der Ukraine nicht die Osterweiterung der NATO und schwere Bewaffnung der Ukraine folgen werden. Kurz gesagt bedeutet Frieden eine neutrale Ukraine, deren Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität gesichert ist.“ (7)
Eine enorme Belebung erhielt diese Idee durch das chinesische 12-Punkte-Positionspapier „zur Beilegung der Ukraine-Krise“ im März 2023. Auch dieses Papier verbindet die Einhaltung der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, die die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit aller Länder wahren, mit der Sicherheit in der Region, die nicht durch die Stärkung oder Ausweitung von Militärblöcken erreicht wird. Die legitimen Sicherheitsinteressen aller Länder müssen ernst genommen und angemessen berücksichtigt werden. Das chinesische Papier, das auf große Zustimmung im Globalen Süden traf, wurde von westlicher Seite umgehend als „russlandfreundlich“ zurückgewiesen. Auch die russische Seite reagierte zunächst ablehnend, da der chinesische Vorschlag den Rückzug der russischen Truppen impliziert. Nun könnte sich eine Haltungsänderung der russischen Führung abzeichnen. Der russische Außenminister Lawrow bezeichnete den chinesischen Vorschlag als bisher „sinnvollste Strategie zur Lösung des sich zuspitzenden Konflikts“. Es bleibt abzuwarten, ob Moskau in der Lage ist, über seinen ethno-nationalistischen Schatten zu springen.
Friedenspolitischer Ausweg
Mit dem Versuch, die westliche Politik zu kopieren (sh. die völkerrechtswidrigen Angriffskriege in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, …), hat Russland entsetzliches Leid produziert und sich völkerrechtlich ins Unrecht gesetzt. Es gibt einen friedenspolitischen Ausweg: den Rückzug Russlands und den Verzicht des Westens, die Ukraine zum Aufmarschgebiet gegen Osten zu machen. Es ist die Aufgabe der Friedensbewegung, Druck für diese Lösung zu machen. Die Großmächte sind zu sehr in ihre geopolitischen Rivalitäten verstrickt, als dass sie die Kraft dazu aufbringen. Dieser friedenspolitische Ausweg kann beispielgebend werden, dass Konflikte kooperativ gelöst werden können und die Macht des militärisch-industriellen Komplexes zurückgedrängt werden kann. Das kann der Ukraine das Schicksal eines jahrzehntelangen Zankapfels ersparen und der Welt einen Konflikt, der sie in den Abgrund führt.
Gerald Oberansmayr
Anmerkungen:
(1) Sh. dazu: David Stuckler, Sanjay Basu, Sparprogramme töten, Wagenbach 2013
(2) zit. nach Ralph Hartmann, Ossietzy, 3/2019
(3) in: Zeit-Interview, 51/2022
(4) Georg Auernheimer, Die strategische Falle: Die Ukraine im Weltordnungskrieg, Neue Kleine Bibliothek 2014
(5) zit. nach ORF – Ö1, Putin baut Kulturpolitik um, 8.4.2017,
(7) Erklärung der Teilnehmer der “Science and Ethics of Happiness Study Group“ vom Treffen in der Casina Pio IV, Vatikanstadt, 6.-7. Juni 2022.