Eine der letzten Handlungen der schwarz-grünen Regierung bestand darin, eine neue österreichische Sicherheitsstrategie zu verfassen. Dieses Papier ist eine gute Zusammenfassung der Doppelmoral und der Lügen, auf die unsere (Un-)Sicherheitspolitik seit dem EU-Beitritt gebaut ist.
Doppelmoral…
Am Anfang der österreichischen Sicherheitsstrategie heißt es: „Die nationale, europäische und internationale Sicherheitslage sowie die geopolitischen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahren, insbesondere seit dem völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine … fundamental geändert. … Österreich setzt sich – aufbauend auf den Grundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen (VN) und den Bestimmungen des Völkerrechts – für die Erhaltung und Stärkung der regelbasierten internationalen Ordnung ein. Nicht das Recht des Stärkeren darf die internationalen Beziehungen prägen, es muss das Primat des Rechts gelten.“ (1)
Man fragt sich: Hat wirklich nur Russland das Völkerrecht gebrochen, hat die österreichische Regierung die letzten Jahrzehnte verschlafen? Hat sie den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen die BR Jugoslawien nicht mitgekriegt, einschließlich des Mitwirkens der westlichen Kräfte, v.a. Deutschlands, an der ethnischen Parzellierung des Balkans? Hat sie den völkerrechtswidrigen Angriff der USA auf Afghanistan und den zwei Jahrzehnte andauernden Krieg und die Besatzung durch NATO- und EU-Truppen am Hindukusch vergessen, dem über eine Million Menschen zum Opfer gefallen sind. Hat sie den völkerrechtswidrigen Überfall der USA und ihrer Alliierten auf den Irak verdrängt, der einschließlich der Besatzung und des Bürgerkriegs rund 1,8 Millionen Opfer seit 2003 forderte? Ist die völkerrechtswidrige achtmonatige Bombardierung Libyens durch Frankreich, Großbritannien und die USA, die das Land vollkommen devastierte, das Land zur Brutstätte des Dschihadismus und zum Ausgangspunkt weiterer Kriege in Westafrika machte, vollkommen der Demenz zum Opfer gefallen. Ist der prowestliche Staatsstreich in der Ukraine im Februar 2014 mit Hilfe neofaschistischer Milizen, die von USA und EU aufgepäppelt wurden, nicht ebenfalls völkerrechtswidrig gewesen? Und hat der Krieg der israelischen Regierung gegen Gaza und seine Zivilbevölkerung nicht nur Völkerrecht gebrochen, sondern sogar die Grenze zum Völkermord überschritten – aufgerüstet durch USA und EU? Und was ist mit den ebenfalls völkerrechtswidrigen Wirtschaftskriegen des Westens gegen Syrien, Afghanistan, Venezuela und viele andere Länder des globalen Südens, die durch Hunger und die Zerstörung der medizinischen Versorgung oft nicht weniger Tote kosten als militärische Konflikte. Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist ein zweifellos ein völkerrechtswidriges Verbrechen, aber Putin ist in die Lehre von USA und EU gegangen. Sie haben mit ihren völkerrechtswidrigen Kriegen den Boden für die Durchsetzung des Rechts des Stärkeren anstelle der Stärke der Rechts bereitet.
Für die österreichische Sicherheitsstrategie gibt es die völkerrechtswidrigen Kriege von USA und EU nicht. Kann sie nicht geben, weil sonst das ganze Gebäude der Doppelmoral in sich zusammenstürzen würde. Weil sonst auch die Mittäterschaft Österreichs - durch Rüstungsgeschäfte, Truppen und Truppentransporte, direkte und indirekte Beteiligung an Kriegen und Wirtschaftskriegen - nicht mehr länger verschwiegen werden könnte.
Lüge…
Diese doppelten Standards begründen auch die grundlegende Lüge der österreichischen Sicherheitspolitik. Einerseits wird behauptet, die Neutralität zu wahren, und gleichzeitig wird festgestellt „Österreichs nationale Sicherheit und Souveränität ist mit jener der Europäischen Union untrennbar verbunden. Österreich wird sich deshalb auch weiterhin an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU sowie an deren dynamischer Weiterentwicklung aktiv und solidarisch im Einklang mit seiner Verfassung beteiligen“ (1). Das geht aber nicht zusammen, denn die EU ist – wie die NATO – ein Militärpakt, mit Beistandsverpflichtung, globalen Interventionsambitionen und einem aggressiven Hochrüstungskurs.
In der österreichischen Sicherheitsstrategie wird betont, alle diese Schritte zur Militarisierung der EU mitzuvollziehen: „Unser Engagement erstreckt sich auf das gesamte Spektrum der im Vertrag über die Europäische Union (EUV) genannten Aktivitäten und deren Weiterentwicklung im Einklang mit der österreichischen Verfassung“ (1). Die österreichische Verfassung, sprich Neutralität, interpretiert man einfach so, dass sie dem nicht im Wege, steht oder man hat diese ohnehin klammheimlich so geändert wie z.B. im berüchtigten „Kriegsermächtigungsartikel 23j“, dass dadurch „das Bundesverfassungsgesetz Neutralität im Umfang seines Anwendungsbereiches partiell materiell derogiert“ (2) – also außer Kraft gesetzt – wurde.
… und Hochrüstung
Die österreichische Sicherheitsstrategie lässt keinen Aspekt der EU-Militarisierung aus, an dem man sich nicht beteiligen will:
„Wir werden zur Rolle der EU als stabilisierender und gestaltender Akteur im Bereich Sicherheit und Verteidigung beitragen und die Maßnahmen des Strategischen Kompasses gemeinsam mit den EU-Partnern umsetzen.“ (1) Der „Strategische Kompass“ ist ein „Aktionsprogramm“, mit dem die EU in den nächsten Jahren „einen Quantensprung“ (3) bei Hochrüstung vollziehen wird. Österreich rüstet mit: Zwischen 2022 und 2028 verdoppelt sich das Militärbudget, die Rüstungsinvestitionen sollen sich fast verfünffachen.
„Wir werden die Fähigkeitenentwicklung im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) weiterhin unterstützen und bedarfsorientiert an PESCO-Projekten teilnehmen“ (1). PESCO meint die Selbstverpflichtung zu permanenter Aufrüstung und die arbeitsteilige Entwicklung von Kapazitäten beim „Aufbau einer Armee der Europäer“ (Ursula von der Leyen).
„Das Potenzial der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) und des Europäischen Ver teidigungsfonds (EDF) werden wir für Synergien bei technologischen Entwicklungen und in der Beschaffung nützen. Österreich unterstützt die Initiativen im EU-Rahmen für die Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie und eine gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern“ (1).
„Österreich wird sich weiterhin an schnellen Eingreifkapazitäten der EU (z. B. Rapid Deployment Capacity) beteiligen.“ Explizit will das österreichische Bundesheer an Auslandseinsätzen der EU oder der NATO-PfP teilnehmen, „Priorität haben Südost- und Osteuropa, der Mittelmeerraum und der Nahe Osten sowie punktuell Afrika.“ Selbst ein UN-Mandat als Voraussetzung sucht man vergebens. Es reicht aus, dass „unsere sicherheitspolitischen Interessen betroffen sind“ – so zum Beispiel die „Sicherstellung eines … offenen, international abgestimmten und regelgeleiteten Wirtschafts-, Finanz- und Handelssystems und einer nachhaltigen Rohstoff- und Energieversorgung“ (1).
Und natürlich soll Österreichs Industrie und Forschungslandschaft beim Aufbau eines militärisch-industriellen Komplexes nicht zu kurz kommen: „Aus dem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis, den diesbezüglich im EU-Rahmen beschlossenen Initiativen … kann auch die österreichische Wirtschaft Nutzen ziehen. Österreichische Unternehmen, insbesondere KMUs, sind im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie bereits aktiv. Deren Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit soll innerhalb der internationalen Wertschöpfungsketten weiterhin gewährleistet werden“ (1).
Last but not least bekennt sich Österreich auch zur militärischen Beistandsverpflichtung des EU-Vertrags, etwas verschämt als „etwaige Hilfe und Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 42 Absatz 7 EUV“ (1) bezeichnet.
„Abkoppeln vom abendländischen Größenwahn“
Die Welt befindet sich in einer gefährlichen Zuspitzung geopolitischer Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen imperialen Machtzentren. Neutralität ist die Chance, in diese imperialen Konflikte nicht als Partei, sondern als Vermittler einzugreifen, damit diese Auseinandersetzungen nicht militärisch eskalieren bzw. - wo dies bereits der Fall ist - möglichst rasch der Weg des Dialogs beschritten wird. Neutralität ist damit immer auch das Bemühen um eine kooperative, völkerrechtsbasierte internationale Ordnung ohne doppelte Standards. Neutralität und Friedenspolitik verträgt sich daher nicht damit, bei einem dieser imperialen Machtzentren, der Europäischen Union, mitzumarschieren.
Der Gewerkschafter und Umweltschützer Günther Nenning hat einmal gemeint, „Neutralität ist der Versuch, sich vom abendländischen Größenwahn abzukoppeln“. Die österreichische Sicherheitsstrategie signalisiert demgegenüber die Bereitschaft, bei diesem Größenwahn mitzumachen, mit allen militaristischen Konsequenzen. Sie schützt weder die Menschen in Österreich noch ist sie ein Beitrag zum globalen Frieden. Österreich von diesem Größenwahn abzukoppeln, aus der EU-Militarisierung auszuscheren und damit die Voraussetzungen für eine aktive Friedens- und Neutralitätspolitik zu schaffen, bleibt die wichtigste Herausforderung einer österreichischen Friedensbewegung.
Anmerkungen:
(1) Österreichische Bundesregierung: Österreichische Sicherheitsstrategie, 2024
(2) Österreichisches Bundeskanzleramt, Stellungnahme zur Parlamentarischen Bürgerinitiative „Die Waffen nieder!“, 25.7.2024