Auf Grundlage einer aktiven Neutralitätspolitik Österreichs für eine neue Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, für ein Gemeinsames Haus Europa.


Das Jahr 2022 beginnt mit der Gefahr einer neuerlichen kriegerischen Eskalation in Osteuropa. Mit einem Krieg zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation droht die Vernichtung zahlreicher Menschenleben, die Vernichtung sozialer und wirtschaftlicher Infrastruktur. Österreich ist auf Grundlage seiner immerwährenden Neutralität gefordert, alle seine Möglichkeiten zu nutzen, das zu verhindern.

Folgt man den laufenden Medienberichten, dann sei die Ursache für die Eskalation offenkundig. Sie fände sich in der aggressiven Außenpolitik der Russischen Föderation, bzw. deren Präsidenten, Wladimir Putin. Die einzig denkbare Reaktion sei eine geschlossene Verurteilung dieser Politik, die Aufrüstung der Ukraine und die Verhängung von Sanktionen. Russland müsse in die Knie gezwungen werden. Eine andere Sprache verstehe dessen politische Führung nicht. Wir sehen darin einen fundamentalen Irrweg, der die Lage nur verschlimmern wird. Ein nüchterner Blick auf die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre zeigt, dass damit die Aussicht auf Frieden, Entspannung und Zusammenarbeit nur immer weiter in die Ferne rückt.

Freilich, bestimmte Entwicklungen in Russland sind irritierend. Die Transformation der Sowjetunion in ein Land mit Privateigentum und einer freien Marktwirtschaft führte zu einer enormen Kluft von Arm und Reich. Missachtung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten lehnen wir ab. Rechtfertigt das aber eine Politik des erhobenen Zeigefingers. Rechtfertigt das die immer neuerliche Beteiligung bei der Verhängung von Sanktionen, beim Aufbau einer militärischen Drohkulisse? Auch wenn wir bestimmte politische Praktiken ablehnen und deutlich kritisieren, Russland hat hier kein Alleinstellungsmerkmal. 1999 griff die Nato unter vorsätzlicher Umgehung des Gewaltverbots der Vereinten Nationen die Bundesrepublik Jugoslawien an. 2003 griffen die USA gemeinsam mit Großbritannien u.a. unter Konstruktion eines Lügengebäudes den Irak an. 2011 erwirkten Frankreich und Großbritannien gemeinsam mit den USA eine Militärintervention gegen Libyen, die zur Auflösung dieses Staates führte. Erinnern wir uns an das Foltergefängnis in Abu Ghraib, die allen Rechtsnormen widersprechende Internierung von Gefangenen auf Guantanamo. Fordern wir deshalb Sanktionen gegen die USA, gegen die Nato? Julian Assange sitzt für seine Informationen über die Kriegsverbrechen im Irak nach wie vor widerrechtlich in Großbritannien im Gefängnis. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich im Zusammenhang mit dem „war on terror“ aktiv an der Verschleppung von Menschen nach Afghanistan beteiligt. Der Platz reicht hier nicht aus, um all die Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit westlicher Staaten hier aufzulisten. Allein moralische Entrüstung bringt uns aber nicht weiter, wenn wir Frieden und Menschlichkeit auf den Weg bringen wollen. Bloße moralische Entrüstung wäre damit selbst ein Akt der Verantwortungslosigkeit. Was, nüchtern betrachtet, anerkannt werden muss, ist: Die Welt braucht ein starkes Russland. Eine unipolare Welt ist eine Gefahr für den Frieden und eine Gefahr für die Menschenrechte. Wie die jüngste Geschichte zeigt, ist es eine infantile Weltauffassung, davon auszugehen, dass sich Vernunft und Menschlichkeit an einem Pol stabil konzentrieren.

In gängigen Analysen und Kommentaren wird die russische Politik psychologisiert. Es sei die Sehnsucht nach Wiedererlangung vergangener Größe, die die Politik Moskaus antreibt. Doch die Erfahrung, dass für Russland die Gefahr der Filetierung und Unterjochung besteht, wenn es nicht stark ist, nicht nur historisch, ist keine Einbildung. Der Erweiterungsprozess der Europäischen Union ist nur in der propagandistischen Selbstdarstellung ein Prozess der Ausdehnung von Frieden und Wohlstand. Die Ausdehnung des binneneuropäischen Freihandelsregimes führt überall an den Rändern zu Verwerfungen. Und wie gerade das jugoslawische Beispiel zeigt, führt es zu Krieg, wenn sich einzelne Staaten versuchen, dieser Ausdehnung entgegenzustellen. Mit dem Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine im Winter 2013/14 wurde rücksichtslos die Ukraine in eine innere Zerreißprobe getrieben. Unter bewusster Zuhilfenahme eines nationalistischen, antirussischen Mobs wurde ein gewaltförmiger Regimewechsel befördert. Eine Reihe progressiver politischer Persönlichkeiten wurde ermordet, viele mussten das Land verlassen. Es ist nachvollziehbar, dass sich jene Menschen, die sich von dieser Entwicklung an Leib und Leben bedroht fühlten, dagegen zur Wehr setzten.

2008 hat die Nato der Ukraine eine Beitrittsoption eröffnet. Ist es bloß irrationaler Psychologie geschuldet, wenn sich die Russische Föderation durch die Hochrüstung der Ukraine bedroht fühlt? Einer Ukraine, deren innere Politik durch einen extremen antirussischen Nationalismus charakterisiert ist. Ukrainisch wurde zur einzigen Staatssprache erklärt. Sowohl die ungarische Minderheit im Westen als auch die russische Ethnie im Osten sind Repressionen ausgesetzt.

Reihum wird betont, dass es die autonome Entscheidung der Ukraine sei, welchem Militärbündnis sie beitreten wolle. Ja, in der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975, wurde festgehalten, dass die Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa das Recht hätten „Vertragspartei eines Bündnisses“ zu sein. In der Charta von Paris aus dem Jahr 1990 wurde erneut explizit bekannt, dass die Staaten das Recht haben, „ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen“. Im Verhaltenskodex der KSZE aus dem Jahr 1994 wurde jedoch festgehalten, dass die KSZE-Staaten „ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen“ dürfen. Sie müssten vielmehr „ihre eigenen Sicherheitsinteressen im Einklang mit den gemeinsamen Bemühungen um die Festigung der Sicherheit und der Stabilität im KSZE-Gebiet und darüber hinaus verfolgen“. Die Sicherheitsbeziehungen sollten auf einem kooperativen Ansatz aufbauen.

Im Dezember 2021 hat die Regierung der russischen Föderation ein Acht-Punkte Forderungsprogramm an die USA gerichtet. In unseren Medien wurde hauptsächlich berichtet, wie unrealistisch es sei. Warum sollte es aber unrealistisch sein, wenn Russland im Artikel 1 fordert, dass die Sicherheit anderer, nicht auf Kosten der Sicherheit Russlands gestärkt werden darf? Was soll unrealistisch daran sein, wenn die primäre Verantwortung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen für die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit betont wird?

Aufgrund dieser Gegebenheiten und Überlegungen kommt die Solidarwerkstatt Österreich zu folgenden Schlussfolgerungen:

  1. Raus aus der Eskalationsspirale. Wir fordern alle Seiten auf, auf die Anwendung oder Androhung militärischer Gewalt zu verzichten und Schritte zur Entspannung und Abrüstung einzuleiten.

  2. Wir brauchen eine neue, starke österreichische Friedensbewegung. Es gilt die Außenpolitik der österreichischen Bundesregierung wieder auf die Fundamente aktiver Neutralitätspolitik zu verpflichten. Die Haltung der Bundesregierung, dass die Beteiligung an Sanktionen, an militärischen Abenteuern, mit der Neutralität vereinbar seien, sofern sie von der EU legitimiert sind, hat uns auf eine schiefe Ebene geführt. Neutralität wurde so zu einem Feiertagsbekenntnis, das sie für ernsthafte Friedenspolitik völlig unglaubwürdig werden lässt. Österreich muss die Beistandsverpflichtung im EU-Vertrag widerrufen und sich aus der verteidigungspolitischen und rüstungstechnologischen Kooperation in der EU zurückziehen (EU-Battlegroups, EU-SSZ, EU-Verteidigungsagentur usw.). Österreich muss sich dem Sanktionsregime der EU widersetzen.

  3. Wir fordern von der österreichischen Bundesregierung einen neuen Prozess für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unter Einbeziehung der USA und Russlands anzustoßen. Die Konferenz sollte von der Haltung getragen werden, dass Sicherheit ein gemeinsames Gut ist, und nicht auf Kosten anderer hergestellt werden kann. Bei dieser Konferenz sollten alle regionalen Konflikte, die mit der Entwicklung seit den 1990er Jahren entstanden sind, auf den Tisch gelegt werden. Abrüstung und Entspannung müssen eine der zentralen Agenden einer derartigen Konferenz sein. Es geht darum, die Reset-Taste zu drücken. Es gilt dort anzuknüpfen, was in den 1980er Jahren Michael Gorbatschow mit der Formel vom „Gemeinsamen Haus Europa“ charakterisiert hat.

(Anfang Februar 2022)