Im Mai 2022 ist unser Buch über den Sahel herausgekommen, eine wenig bekannte Weltgegend, die Assoziationen von Hunger, Durst und Katastrophen wachruft. Von Günther Lanier.

Definiert wird der Sahel über die Niederschläge: 50 bzw. 700 mm jährlich sind die Richtwerte für seine Nord- bzw. Süd-Grenze. Wir wollten der Südküste der Sahara – auf Arabisch bedeutet Sahel Küste, gemeint ist die des Sand- und Steinmeeres Sahara – gerecht werden, indem wir uns nach kurzen Analysen der betroffenen Länder im thematischen Teil mit Fragen wie Ökologie, Frauen, Islam, Migration, Terrorismus, Neokolonialismus, Ökonomie beschäftigten.

Dass sich der Sahel in der heutigen Welt im Abseits befindet, liegt nicht an Ungunstlage oder Klima. Einst bot er Lebensbedingungen, die europäischen ebenbürtig, ja überlegen waren. Ibn Battuta berichtet von seiner Reise 1352-54 ins heutige Mali, da herrschte im Land Sicherheit, er bedurfte für eine 24-tägige Reise nicht des Schutzes einer Karawane, reiste nur mit drei Begleitern. Im historischen Mali lebte auch der vielleicht reichste Mann der Welt. Als Mansa Mussa 1324/25 auf seinem Weg nach Mekka dem ägyptischen Sultan seine Aufwartung machte, gab er so viel aus, dass er den Goldpreis und die ägyptische Währung zum Absturz brachte.

Dass der Sahel an den Rand gerückt wurde, ist dem Kolonialismus zu danken. Die Eingliederung in die jeweiligen Kolonialreiche erfolgte an unterstgeordneter Stelle. Am anderen Ende unseres Weltsystems, im Zentrum, finden wir Multis und die ökonomisch-militärischen Mächte, Speerspitze der weltweiten kapitalistischen Entwicklung. Das war Ende des 19. Jahrhunderts, als der Sahel ins französische und britische Weltreich und, im untypischen Fall Eritreas, ins italienische Kolonialreich eingegliedert wurde, nicht anders als heute. Funktion der Peripherie ist das Bedienen des jeweiligen Zentrums, was in Zeiten von Zwangsarbeit und Eingeborenen-Ordnung offensichtlicher war. An Unterordnung und Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Zentren hat sich aber in den Ex-, Post- oder Neo-Kolonien nichts geändert.

69 französische Militärinterventionen seit 1960
Mit Selbstbestimmung hatte Unabhängigkeit in Afrika wenig zu tun. Versuchen, alternative Herrschafts- und Wirtschaftsmodelle zu verwirklichen, wurde meist ein schnelles Ende bereitet. Im Sahel-Raum sind der unsanft von der Macht entfernte Modibo Keita in Mali 1968 und der in Burkina 1987 ermordete Thomas Sankara die besten Beispiele. Sehr viel rezenter hat 2011 der Sturz Gaddafis, der von Sarkozy & Co aus dem Amt gebombt wurde, desaströse Auswirkungen auf den Sahel gehabt.
Die Zerstörung des libyschen Staates und die damit einhergehende Freisetzung bedeutender Waffenarsenale hat sich am unmittelbarsten auf Mali ausgewirkt. Ein guter Teil von dessen Staatsgebiet befindet sich seitdem nicht mehr unter zentralstaatlicher, sondern unter djihadistischer Kontrolle. Dieses Phänomen hat sich auch auf Burkina und auf den westlichen Niger ausgedehnt. Letzterer leidet auch im Osten am Terror, wo Boko Haram seinen Aktionsradius aus Nordost-Nigeria nach Kamerun, Tschad und eben Niger ausgeweitet hat.

Die djihadistische Gefahr hat Frankreich die Möglichkeit gegeben, seine militärische Präsenz im Sahel auszuweiten. Vorauszuschicken ist, dass Paris in seinen Ex-Kolonien vor militärischen Interventionen nie zurückgeschreckt hat. In Subsahara-Afrika waren seit 1960 insgesamt 69 französische Militärinterventionen zu verzeichnen, 20 davon im Sahel. Von Bamako Anfang 2013 zu Hilfe gerufen, intervenierte Paris mit der Operation Serval, konnte dem djihadistischen Vorstoß einen Riegel vorschieben und dehnte die Intervention ab August 2014 (und bis 2022) auf die Operation Barkhane aus, die Burkina, Niger, Mauretanien und Tschad einbezog. Die Erfolge der bestausgerüsteten französischen Truppen waren sehr bescheiden. Der Verdacht kam auf, dass es Paris um militärische Präsenz ging und um ein Vorzeigen seiner Waffen (zum anschließenden Verkauf am Persischen Golf), aber nicht um einen Sieg über den Terror.

Militärinterventionen als Rekrutierhilfe für Djihadismus
Nach zwei Staatsstreichen (18.8.2020 und 24.5.2021) wuchsen in Mali die Spannungen. Die französischen Truppen wurden zunehmend als Besatzungsmacht wahrgenommen – und so entledigte sich Bamako ihrer. Barkhane ist seit Kurzem Geschichte und Paris – nach wie vor insbesondere in Niger militärisch präsent – überlegt eine neue Strategie für Westafrika. Die malische Regierung hat sich unterdessen Russland zugewandt – in Zeiten des Ukraine-Krieges eine u.a. auf internationalem Parkett problematische Entscheidung.

Was Djihadismus betrifft, so gedeiht er am besten, wo Bevölkerung von ihrem Staat vernachlässigt wird oder er gar nicht präsent ist. Das liegt an Schwäche und fehlender Finanzkraft postkolonialer Staaten, zudem am mangelnden Interesse der Eliten an nicht-“nützlichen“ Landesteilen. Brutale und ungerechte militärische Aktionen, wie sie im Kampf gegen den Terror häufig passieren, wirken als Rekrutierhilfe für terroristische Gruppen. Gegen Terror helfen Waffen wenig, es gilt vielmehr, Bedingungen, die ihn zum Blühen bringen, zu beseitigen oder zu verbessern. Unter der malischen Junta werden immerhin auf lokaler Ebene geführte Verhandlungen mit djihadistischen Gruppen akzeptiert – was Frankreich strikt abgelehnt hatte.
Nach dem Rausschmiss Frankreichs testet Mali, welche Freiräume es im heutigen Weltsystem gibt

Der Raum für staatliche Selbstbestimmung ist seit den 1980er Jahren immer enger geworden. Ökonomische “Sachzwänge“, internationale Konventionen, zunehmende Konzentration von Macht in den allerreichsten Zentren des Weltsystems hemmten ein Ausscheren aus gängigen Mustern zusehends, ja verunmöglichten selbständige nationale Projekte.

Die Systemkonkurrenz der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Freiräume eröffnet, hatte autonomes staatliches Handeln und sogar in gewissem Maß abgekoppelte Entwicklung ermöglicht. Die Bipolarität der Weltordnung war gerade für die Kleinen gut. Vielleicht war es, wie Samir Amin meint, in der Bandung-Zeit (1955-75) sogar Multipolarität. Mit dem Wegfallen der sowjetischen Systemalternative, welches auch der Blockfreienbewegung ihre Basis entzog, wurde das Verhältnis zwischen Zentren und Peripherien autoritärer. Unilateralismus machte sich breit, kapitalistisches Wirtschaften herrschte unumschränkt.

Im neuen Jahrtausend sah sich der Welthegemon zunehmender Konkurrenz ausgesetzt, zuvorderst von Seiten Chinas, das in wirtschaftlich Hinsicht überraschend schnell aufholte. Das führte in Washington in den 2010er Jahren zu einem immer rabiateren Auftreten und einem fast trotzigen Einfordern weltweiter Vorherrschaft (America First). Dafür musste die bislang dem Ökonomischen zugestandene Priorität aufgegeben oder zumindest hintangestellt werden und heutzutage dominiert wieder Politisches.

Freiräume für Eigenständigkeit?
Was heißt das für die Peripherie der Peripherie, den Sahel und konkret Mali? Die dortige Regierung, die zwar nicht gewählt worden ist, aber mit einiger Unterstützung in der Bevölkerung rechnen kann, will sich nicht länger “knebeln“ lassen. Bestehen in der heutigen Variante tentativer Multipolarität (NATO vs. BRICS) wieder Freiräume für Eigenständigkeit?

Schade, dass die malische Junta die Herrschaft ohne erkennbares politisches oder sozio-ökonomisches Projekt ergriffen hat. Ein solches Projekt könnte ihren Rückhalt stärken. Doch auch so wird aufschlussreich sein, wie Washington, Paris, Brüssel, Berlin und ihre Handlanger in der Subregion (zuvorderst in der Côte d’Ivoire) auf die Herausforderung aus Bamako reagieren, welche Register sie ziehen, um der Ausweitung des russischen (Wagner!) oder chinesischen Einflussbereiches entgegenzuhalten. Freilich ist an David nicht alles gut, auch wenn er im Kampf mit Goliath unsere Sympathien genießt.

NB: Bei aller Gefahr, die vom Islamismus ausgeht: In Mali sterben sehr viel mehr Frauen im Kindbett als an islamistischer oder politischer Gewalt

Günther Lanier

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