ImageInterview des WERKSTATT-Blatts mit dem Journalisten und Friedenaktivisten Joachim Guilliard (Heidelberg, BRD) zu den Hintergründen und aktuellen Entwicklungen des Krieges in Syrien.

WERKSTATT-Blatt: Was sind deiner Meinung nach die zentralen Gründe für den (Bürger-)krieg in Syrien?


Joachim: Die Hauptursache dafür, dass die Auseinandersetzungen in Syrien bürgerkriegsähnliche Dimensionen angenommen haben, ist die massive äußere Einmischung. Von den ersten Tagen der Proteste an nutzen bewaffnete Gruppen die Demonstrationen für Angriffe auf Sicherheitskräfte und öffentliche Einrichtungen. Und diese Gruppen erhielten auch von Anfang Unterstützung vom Ausland. Waffen und Kämpfer, finanziert vor allem von Saudi-Arabien und Katar wurden in großen Mengen ins Land gebracht –  zum Teil mit Hilfe der NATO über die Türkei. Die Kämpfer sind überwiegend radikale Islamisten, die teilweise auch Alawiten und Christen angreifen. Dadurch kam zusätzlich eine konfessionelle Dimension in die eskalierende Gewalt.

WERKSTATT-Blatt: Welche Rolle spielen dabei USA bzw. EU-Staaten? Warum steht der Sturz Assads so hoch oben auf der Tagesordnung der NATO-Staaten?

Joachim: Die USA, Frankreich und Großbritannien sind zusammen mit der Türkei und den arabischen Golfmonarchien die treibenden Kräfte hinter dem bewaffneten Aufstand. Aber auch Deutschland und die übrigen EU-Staaten beteiligen sich an der Interventionspolitik zum Sturz Assads. Syrien steht zum einen als Gegner Israels im Visier der USA und ihrer Verbündeten, vor allem aber als wichtigster Verbündeter des Irans. Im Kern geht es um die Vorherrschaft in der geostrategisch und wirtschaftlich so wichtigen Region, in der der größte Teil der weltweiten Öl- und Gasreserven liegt. Der Iran wurde durch die umfassende Zerstörung des vormals arabisch-nationalistischen Iraks massiv gestärkt und stieg zur führenden Regionalmacht auf. Der erzwungene Rückzug der US-Truppen aus dem Irak hat die Lage aus US-Sicht noch weiter verschärft.

Nach Einschätzung von US-Strategen, so der private US-Nachrichtendienst Stratfor, ist der Ort, wo der Iran „abgeblockt“ werden könne, aktuell nicht mehr der Irak, wo der Iran bereits die Oberhand habe, sondern Syrien. Auch der Nationale Sicherheitsberater der USA, Tom Donilon, tönte letztes Jahr, das Ende des Assad-Regimes würde aktuell den größten Rückschlag für den Iran bedeuten –  einen strategischen Schlag, der das Gleichgewicht in der Region deutlich gegen ihn verschieben würde.

WERKSTATT-Blatt: Wie bewertest du die Rolle der Opposition in Syrien, welche unterschiedlichen Strömungen gibt es?

Joachim: Es gibt zum einen eine genuine, lokal verankerte, zivile, demokratische Oppositionsbewegung, die allerdings auch sehr heterogen ist. Das bedeutendste Bündnis ist das Nationale Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel, in dem insgesamt 13 säkulare, linksgerichtete Parteien sowie unabhängige Aktivisten zusammengeschlossen sind. Diese lehnen Gewalt und ausländische Intervention ab und sind für Verhandlungen, können aber unter den aktuellen Bedingungen wenig bewirken. Vor Ort spielen die lokalen Koordinierungskomitees eine wichtige Rolle, mit denen auch manche Linke hierzulande sympathisieren. Dies, obwohl viele von ihnen den bewaffneten Aufstand unterstützen und auch mit einer militärischen Intervention von außen liebäugeln. (Aufgrund ihrer offenen Struktur sind sie natürlich auch sehr anfällig für ausländischen Einfluss, der ja – wie u.a. WikiLeaks enthüllte – schon seit Jahren sehr stark ist.)

Daneben gibt es islamistische Strömungen, dazu zählt insbesondere der syrische Ableger der Muslimbruderschaft, die von den Golfmonarchien finanziert werden. Die NATO-Staaten haben den in Istanbul sitzenden „Syrischen Nationalrat“  zum Vertreter der syrischen Opposition erkoren, viele innersyrische Oppositionelle sagen auch „geschaffen“. Dieser setzt sich vor allem aus der Exilopposition zusammen und ist im Land selbst kaum verankert. Und schließlich gibt es die bewaffneten Kräfte, mittlerweile über hundert Gruppen, mit einigen Dutzend bis zu mehr als tausend Kämpfern, überwiegend Islamisten. Ein guter Teil kommt aus anderen islamischen Ländern, über 3000 allein aus Libyen.

Die meisten agieren unter dem Label „Freie syrischen Armee“, FSA. Die Gruppen sind jedoch nur sehr lose miteinander verbunden. Die FSA ist daher weder eine reale Armee noch – angesichts ihrer Abhängigkeit von ausländischen Mächten – „frei“ noch wirklich syrisch.

WERKSTATT-Blatt: In unseren Medien wurde nach Bekanntwerden des Massakers in der Stadt Hula am 26. Mai, wo über 100 ZivilistInnen, darunter viele Kinder, ermordet wurden, sofort Assad und seine Verbündeten dafür verantwortlich gemacht, um Druck für eine militärische Intervention zu machen. Wie sieht deine Informationslage dazu aus?

Joachim: Es sprach eigentlich von Anfang wenig dafür, dass die syrische Regierung für das Massaker verantwortlich ist. Westliche Politiker und Medien hoben vor allem hervor, dass die syrische Armee dort offensichtlich schwere Waffen eingesetzt hat. Die Opfer wurden jedoch überwiegend aus nächster Nähe getötet und für den Waffeneinsatz gab es einen verständlichen Grund: Starke Verbände der Aufständischen, die den Marktflecken Hula seit Dezember kontrollierten, hatten mit ca. 700 Kämpfern Stellungen der Armee rund um Taldou, eine der größten Ortschaften von Hula, angegriffen und teilweise eingenommen. Bald stellte sich auch heraus, dass es sich bei den zivilen Opfern ausschließlich um Mitglieder alawitischer und zum Schiismus konvertierter Familien handelte, die als Assad-loyal galten. Schließlich berichteten Dorfbewohner, die von gewaltfreien syrischen Oppositionellen und Journalisten befragt wurden, dass islamistische Kämpfer während der Gefechte in Taldou eingedrungen und die Gräueltat verübt haben. Anschließend trugen diese die Leichen von Soldaten und Kämpfern zusammen und präsentierten sie zusammen mit den ermordeten Dorfbewohnern vor den Kameras sympathisierender Fernsehsender als Opfer der Armee. Obwohl Rainer Hermann von der renommierten großbürgerlichen Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor Ort nachrecherchierte und die Angaben für glaubwürdig befand, nutzen die meisten anderen Medien auch heute noch das Verbrechen zur Stimmungsmache gegen die Assad-Regierung.

Die Frage nach rationalen Motiven der Regierung für solche Untaten wird erst gar nicht gestellt. Assad, der aktuell als der weltweit böseste Schurke präsentiert wird, ist einfach alles zuzutrauen, so die Botschaft. Praktisch vor jedem wichtigen internationalen Treffen zum Syrien-Konflikt wird im Land ein Massaker verübt, das der Regierung in die Schuhe geschoben wird – in Hula vor dem Treffen mit UN-Sondergesandten Kofi Annan, 10 Tage später im Dorf Qubair und nun am 12.7. in Treimsa vor wichtigen Sitzungen des UN-Sicherheitsrats. Wenn man bedenkt, dass die größte Gefahr für seinen Machterhalt die Intervention von außen ist, wäre Assad nicht nur äußert bösartig, sondern auch ein völliger Idiot, würde er solche Massaker zulassen oder gar anordnen. Da sie jedoch ihre Wirkung auf die internationale Öffentlichkeit offensichtlich nicht verfehlen, werden die Massaker von Hula, Qubair und Treimsa leider nicht die letzten sein.

WERKSTATT-Blatt: In Syrien gab es im letzten Halbjahr trotz Bürgerkrieg eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung und Wahlen. Die westlichen Regierungen bezeichnen diese Veränderungen als reine Farce. Welche Einschätzungen hast du dazu? 

Joachim: Es ist schon verblüffend, wie plump man hierzulande das Referendum und die Parlamentswahlen geradezu als Schurkentat verurteilt, während Wahlen andernorts, die unter ungleich zweifelhafteren Umständen stattfanden, zu Meilensteinen „demokratischen Fortschritts“ erklärt werden. – Ich erinnere nur an die Urnengänge in Afghanistan und Irak, die unter Kriegs- und Besatzungsbedingungen durchgezogen wurden und tatsächlich eine reine Farce waren.

Die neue Verfassung lässt sicherlich viele Wünsche offen und die Bedingungen für die Parlamentswahlen waren alles andere als optimal. Anderseits hat sich jeweils über die Hälfte der Wahlberechtigten beteiligt und so Zustimmung signalisiert. Neben den bisherigen zehn Parteien in der von der Baath geführten Nationalen Progressiven Front, zu der auch die zwei kommunistischen Parteien gehören, stellten sich nun elf neugegründete oppositionelle Parteien zur Wahl. Einige Oppositionelle wurden anschließend in die Regierung aufgenommen.[1] Hätte sich ein größerer Teil der Opposition beteiligt, hätten die Wahlen durchaus ein weiterer Schritt in der demokratischen Entwicklung des Landes sein können.

Es wurden seit Beginn der Proteste eine ganze Reihe weitreichender demokratischer Reformen angekündigt und viele auch bereits umgesetzt: Der Ausnahmezustand, der seit 1963 in Kraft war, wurde im April 2011 aufgehoben, ein Demonstrationsrecht, neue, liberalere Parteien-, Wahl-, Medien-, und Verwaltungsgesetze wurde erlassen. Der Korruption beschuldigte Gouverneure und Polizeipräsidenten wurden entlassen, Kurden, die bisher als „staatenlos“ galten, wurden eingebürgert und erhielten syrische Pässe. Man kann zwar kritisieren, dass die Reformen so spät kamen, aber immerhin hat sich in Syrien in den 15 Monaten mehr getan, als in den meisten anderen arabischen Ländern.

Es gibt daher viele Oppositionsgruppen, die dies anerkennen und dafür sind, hier anzusetzen und Verhandlungen über die Umsetzung weiterer Reformschritte zu führen. Im Westen und in den von ihm unterstützten Teilen der Opposition werden sie hingegen vollständig ignoriert und wird kompromisslos der Abgang Assads gefordert – und dies obwohl die Mehrheit der Syrer an ihm festhalten wollen – z.T. aus der berechtigen Sorge, dass sonst das Land völlig in Chaos und Gewalt versinken wird.

WERKSTATT-Blatt: Warum sind deiner Meinung nach die bisherigen Waffenstillstände immer wieder gescheitert. Welche Lösungsperspektiven für diesen Konflikt siehst du? 

Joachim: Die Waffenstillstände scheiterten in erster Linie am mangelnden Willen der NATO-Staaten und der Golfmonarchien, die sich in dem als „Freunde Syriens“ firmierenden Interventionsbündnis zusammengeschlossen haben. Sie spielen ein doppeltes Spiel, indem sie stets allein auf den einseitigen Rückzug der syrischen Armee pochen, während sie die bewaffneten Aufständischen durch politische, finanzielle und militärische Unterstützung zur Ausweitung ihrer Angriffe ermuntern. Sie reden von Waffenstillstand, betreiben aber weiterhin aktiv die Durchsetzung ihres Kriegsziels, den Sturz Assads.

Die Freischärler konnten so jedes Mal die vereinbarte Zurückhaltung der Armee zur Eroberung größerer Gebiete nutzen. Dies wiederum kann die Regierung selbstverständlich nicht dulden. Zum einen steht zu befürchten, dass die Etablierung größerer „befreiter Gebiete“ der NATO wie in Libyen einen Vorwand liefern könnte, zu deren Verteidigung einzugreifen. Vor allem würde es ihre Autorität und Legitimität massiv untergraben, würde sie die Bevölkerung der betroffene Städte und Dörfer einfach der Willkürherrschaft aufständischer Milizen ausliefern, die oft kaum mehr als islamistische Banden sind.

Der erste Schritt für eine politische Lösung wäre daher die sofortige Einstellung der Unterstützung der bewaffneten „Rebellen“, die Schließung ihrer Basen in der Türkei und der Rückzug der Spezialeinheiten und Geheimdienste der NATO-Mächte. Die überwiegende Mehrheit der Syrer will vor allem eines: ein Ende der Kämpfe. Ohne äußere Einmischung und die von außen geschürte Militarisierung der Protestbewegung gäbe es daher gute Chancen für eine Verständigung zwischen der Regierung und breiten Teilen der Opposition.

Wichtig für uns hier im Westen ist, was der französische Bischof Philip Tournyol Clos nach seiner Rückkehr aus Syrien sagte: „Der Frieden in Syrien wäre möglich, wenn alle die Wahrheit sagen würden.“

WERKSTATT-Blatt: Vor einem Jahr bombardierten NATO-Staaten die Rebellen in Libyen an die Macht. Diese Militärintervention wird auch immer wieder als „Vorbild“ für das Vorgehen in Syrien angeführt. Libyen selbst ist mittlerweile weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden. Welches Resümee über die Folgen dieses Krieges kann man mittlerweile ziehen?

Joachim: Wie vorauszusehen, versinkt Libyen seit dem Krieg, der bereits über 50.000 Libyern das Leben kostete, in Chaos und Gewalt und droht völlig auseinanderzufallen. Das Land wird von rivalisierenden Milizen kontrolliert, die in ihren jeweiligen Herrschaftsgebieten auf eigene Faust gegen die Anhänger Gaddafis vorgingen. Zigtausende wurden vertrieben, gefangen genommen oder ermordet. Im Februar haben 3.000 Stammesführer und (?) Politiker den Osten des Landes, die Kyrenaika, zur „Autonomen Republik“ erklärt und mit dem Aufbau unabhängiger staatlicher Institutionen begonnen. Das beanspruchte Gebiet reicht von Ägypten bis zur Syrte und umfasst fast die Hälfte des libyschen Territoriums sowie drei Viertel seiner Ölreserven. Misurata, die Stadt mit dem modernsten Hafen Libyens, hat sich vom Rest des Landes abgeschottet und ist mittlerweile faktisch ein unabhängiger Stadtstaat. Andere Städte gehen in eine ähnliche Richtung.

Die NATO-Staaten erhoffen sich nun von den kürzlich durchgezogenen Wahlen und einer dadurch besser legitimierten Regierung eine Besserung. Das ist jedoch mehr als zweifelhaft. Diese Wahlen wurden hierzulande natürlich wieder als demokratischer Meilenstein gefeiert, dabei war ein sauberer Urnengang unter den herrschenden Verhältnissen ausgeschlossen. Niemand konnte Milizenführer z.B. daran hindern, so die Warnung von Experten, die Ergebnisse „ihrer“ Wahllokale zu manipulieren. Erhebliche Teile der Bevölkerung waren aufgrund der Verfolgung der Anhänger des alten Regimes von vorneherein ausgeschlossen, andere boykottierten aus Protest gegen das Wahlgesetz oder die Aufteilung der Sitze auf die Regionen. Ohnehin ist nicht zu erwarten, dass die diversen schwer bewaffneten Milizen einen Wahlausgang akzeptieren werden, der ihnen nicht in den Kram passt. Letztlich können die Wahlen die Konflikte weiter anheizen.

Sehr lesenswert ist der Blog von Joachim Guilliard zu verschiedenen friedenspolitischen Fragen: www.jghd.twoday.net

 


[1]

Syria's ruling Baath party still enjoys sway on new parliament, Xinhua, 17.5.2012, Saleh Waziruddin, Communist Parties Win 11 Seats in Syrian Parliamentary Elections, Monthly Review, 18.06.2012, Parlamentswahl in Syrien: Opposition weiter auf Gewaltkurs, Rossijskaja Gaseta, 10.5.2012