Der „Strategische Kompass“ der EU startet mit einem zusätzlichen 200 Milliarden Aufrüstungspaket bis 2025. EU-Ratspräsident Charles Michel schwärmt von der umfassenden EU-Kriegsfähigmachung als „dem Ziel Nummer Eins unserer Generation“. Die oberste Repräsentantin des EU-militärisch-industriellen-Komplexes drängt: „Das ist unser Augenblick!“
„Für den Waffensektor ist Lobbying weitaus mehr als Industrieeinfluss für Europäische Institutionen; es ist vielmehr eine enge Zusammenarbeit zum Erreichen gemeinsamer Ziele. Die Europäische Union und die Europäische Kriegswaffenindustrie hat überlappende Interessen, die auf der Vision einer starken EU-Verteidigungspolitik, basierend auf einer starken Rüstungsindustrie, basieren.“ (1)
Zu dieser Schlussfolgerung kam 2011 die konzernkritische NGO Corporate Europe Observatory. Tatsächlich geht die Einflussnahme der Rüstungsindustrie auf die EU über das übliche Konzernlobbying hinaus. Die EU selbst ist die Herzkammer des militärisch-industriellen Komplexes (MIK) – also der Verschmelzung rüstungsindustrieller Profit- mit geopolitischen Machtinteressen. Die Interessen des MIK selbst sind seit dem Lissabon-Vertrag (2009) in EU-Verfassungsrang gehoben worden – in einer Art und Weise, die weltweit wohl einzigartig ist: Alle EU-Staaten sind im Artikel 42 EUV zur permanenten Aufrüstung verpflichtet und ein eigenes ebenfalls in der EU-Verfassung verankertes Rüstungsamt („EU-Verteidigungsagentur“) ist damit beauftragt, ihnen dabei auf die Finger zu schauen bzw. zu klopfen. Durch die Schaffung der „Ständig Strukturierten Zusammenarbeit“ (EU-SSZ/Pesco), an der seit 2018 nahezu alle EU-Staaten teilnehmen, wurden die Aufrüstungsvorgaben konkretisiert und die Macht des MIK weiter gestärkt: Seit 2018 muss jedes EU-SSZ-Mitglied dem EU-Rüstungsamt seine Aufrüstungspläne zur Evaluierung vorlegen und gegebenenfalls nachbessern. Denn wer nicht ambitioniert genug hochrüstet, kann rasch wieder vor die EU-SSZ-Tür gesetzt werden. Und wer nicht im militärischen Kern ist, sitzt in EU-Europa am Katzentisch der Macht.
Von der SSZ-Ouvertüre …
Die EU-SSZ ist seit 2018 in Kraft. Sie umfasst nicht nur die Verpflichtung, Jahr für Jahr das Militärbudget quantitativ zu erhöhen – mit Extravorgaben für Waffeninvestitionen und Rüstungsforschung -, sie beinhaltet auch die Verpflichtung, Truppen für weltweite EU-Militäreinsätze zur Verfügung zu stellen (EU-Battlegroups) und an konkreten Rüstungsprojekten mitzuwirken. Mittlerweile laufen bereits 60 solcher SSZ-Rüstungsprojekte – von der Entwicklung von Killerdrohnen über die Weltraummilitarisierung bis zum „Panzerfit“-Machen der Verkehrsinfrastrukturen. Einige Kennzahlen, die illustrieren, wie sich die EU-SSZ in den Militärhaushalten und in den Bilanzen der Rüstungskonzerne zu Buche schlägt:
Von 2017 bis 2021 sind die Militärausgaben in den Staaten der EU-27 (also ohne Großbritannien) nominell um über 30% gestiegen – dreimal stärker als das Bruttoinlandsprodukt im Vergleichszeitraum (sh. Grafik 1). Besonders aufreizend: Obwohl aufgrund der Covid-Pandemie das BIP im Jahr 2000 deutlich einbrach und sich 2021 notdürftig erholte (plus 3% gegenüber 2019), entschwand gerade in diesen beiden Covid-Jahren die Militärausgaben in lichte Höhen (plus 18% gegenüber 2019). Während es bei Gesundheit und Pflege an allen Ecken und Enden mangelte, was vielen Menschen das Leben kostete, wurde die Rüstungsindustrie mit Steuergeldern gemästet.
Und diese präsentiert das auch stolz in ihren Bilanzen: Die Umsätze der TOP 7 der EU-Rüstungsindustrie – Airbus (deutsch-franz.), MBDA (deutsch-franz.-brit.-ital.), BAE-Systems (brit.), Thales (franz.), Leonardo (ital.), Dassault (franz.) und Rheinmetall (deutsch) – stiegen von 2017 bis 2021 von 57 auf über 76 Milliarden Euro (sh. Grafik 2). Im Covidjahr 2021 klingelten die Kassen besonders süß für die Rüstungskonzerne: Während die EBIT-Gewinnzuwächse bei der Airbus-Military-Sparte (plus 6%) und BAE-Systems (plus 13%) fast noch bescheiden wirken, waren sie bei Dassault (plus 25%) und Thales (plus 32%) schon bemerkenswert; bei Rheinmetall (plus 53%) und Leonardo (plus 76%) knallten die Sektkorken.
… zum „Quantensprung“ des „Strategischen Kompasses“
Doch was für den MIK wohl die erfreulichste Nachricht ist: Das alles ist bloß die Ouvertüre eines – wie es der EU-Rat selbst genannt hat – „Quantensprungs“ der Militarisierung der Europäischen Union. Beschlossen wurde dieser „Quantensprung“ im März 2022 nach jahrelanger Vorbereitung in Form eines 64-seitigen Dokuments mit dem harmlosen Namen „Strategischer Kompass“. Der Inhalt ist alles andere als harmlos. Ziel ist es – wie der Hohe Beauftragte der EU-Außenpolitik Josep Borrell schon davor formulierte – die EU als „geostrategischen Akteur der obersten Kategorie“ zu etablieren und dafür die „Sprache der Macht neu zu erlernen“ (2). Der „Strategische Kompass“ bündelt die einzelnen Komponenten der „strategischen Autonomie“ zum Projekt einer umfassenden Kriegsfähigmachung der EU (nach Jürgen Wagner, (3):
- Politische Autonomie: Die Fähigkeit, Kriege beschließen zu können. Hier geht es letztlich darum, das Einstimmigkeitsprinzip in der EU-Außen- und Sicherheitspolitik zu kippen. Im SK sind die Pfade in diese Richtung vorgezeichnet: „Koalitionen der Willigen“, „konstruktive Enthaltungen“.
- Operative Autonomie: Die Fähigkeit, Kriege führen zu können. Aufbau einer globalen EU-Eingreiftruppe, Etablierung eines EU-Hauptquartiers, gemeinsame EU-Kriegskasse („Friedensfazilität“)
- Industrielle Autonomie: Die Fähigkeit, Kriege mit eigenen Waffen führen zu können. Verstärkte Überwachung der Aufrüstungsverpflichtung der EU-SSZ/Pesco (CARD-Prozess) durch die EU-Verteidigungsagentur
„Projekt für dieses Jahrhundert“
EU-Ratspräsident Charles Michel hatte bereits 2020, als gerade der Startschuss für die Entwicklung des „Strategischen Kompasses“ gegeben wurde, pathetisch zu Protokoll gegeben: „Wir senden eine Botschaft nicht nur an unsere Bürger, sondern auch an den Rest der Welt: Europa ist eine Weltmacht. […] Europäische strategische Autonomie ist nicht nur ein Wort. Die strategische Unabhängigkeit Europas ist unser neues gemeinsames Projekt für dieses Jahrhundert. Das ist in unser aller Interesse. 70 Jahre nach den Gründervätern ist die strategische Autonomie Europas das Ziel Nummer eins unserer Generation. Für Europa ist dies der eigentliche Beginn des 21. Jahrhunderts.“ (4)
„Dies ist unser Augenblick“
Die Rüstungsbudgets rauschen derzeit in allen EU-Staaten in die Höhe. Hinzu kommen viele Milliarden, die über eigene EU-Rüstungstöpfe ausgeschüttet werden (EU-Verteidigungs-Fonds, „Friedensfazilität“ u.a.). Die EU-Verteidigungsagentur hat die Zusagen der EU-Staaten zur Erhöhung der Militärausgaben bis 2025 durchgerechnet und zusammengezählt. Das Ergebnis ist spektakulär: 2025 würden – inflationsbereinigt – die EU-Militärausgaben um 70 Milliarden höher liegen als 2021 – ein reales Plus von 32 Prozent. Das deckt sich mit der Verlautbarung von EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen, dass die EU-Staaten bis 2025 200 Milliarden zusätzlich für das Militär auszugeben werden (5). Die EU-Militärausgaben (ohne Großbritannien) betragen derzeit bereits das 4-Fache der russischen. Angesichts der rasanten Aufrüstung könnte es 2025 bereits das 5-Fache sein. Für den militärisch industriellen Komplex ist das freilich noch lange nicht genug. Von der Leyen drängt euphorisiert: „Wir müssen diese Dynamik aufrechterhalten. … Wir müssen diesen Augenblick nutzen. Dies ist unser Augenblick“ (5).
Ja, das ist der Augenblick des militärisch-industriellen Komplexes. Das sind zumeist die gefährlichsten und skrupellosesten Augenblicke in der Geschichte. Es ist hoch an der Zeit für die Friedenskräfte, aus der Schockstarre zu erwachen.
Gerald Oberansmayr
(Dezember 2022/Werkstatt-Blatt 4/2022)
Anmerkungen:
(1) Corporate Europe Observatory: Arms industry lobbying – a guide to the Brussels frontline, 20.07.2011, http://corporateeurope.org
(2) Tagesspiegel, 08.02.2020
(3) https://www.imi-online.de/download/RLS-Kompass.pdf
(4) Zit. nach EU-Rat, 8.9.2020
(5) Presseerklärung Von der Leyen, 18.5.2022
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Siehe zu diesem Thema auch den Kommentar:
Den "eigenen" MIK entmachten!
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