ImageMi­li­tä­ri­sche In­ter­ven­tio­nen sol­len eth­nisch ver­folg­te Völ­ker ab­hän­gig ma­chen. Die Junge Welt führte ein Ge­spräch mit Son­gül Talay, Vor­stands­mit­glied des kur­di­schen Ce­ni-​Frau­en­bü­ros für ­Frieden in Düs­sel­dorf.

Seit die Ter­ror­grup­pen des »Is­la­mi­schen Staa­tes« (IS) im Nord­irak ein­mar­schiert sind und das dor­ti­ge je­si­di­sche Zen­trum, die Stadt Shen­gal, ein­ge­nom­men haben, sind Zehn­tau­sen­de kur­di­sche Je­si­den auf der Flucht. Kur­di­sche Frau­en­or­ga­ni­sa­tio­nen haben Frei­tag in Ber­lin und Sams­tag in Han­no­ver de­mons­triert, weil ins­be­son­de­re die Lage der kur­di­schen Frau­en im Nord­irak ka­ta­stro­phal ist. Wie schät­zen Sie die Lage ein?

Seit 3. Au­gust hält aber der »Is­la­mi­sche Staat« die je­si­di­schen Ge­bie­te um Sind­schar nahe der Stadt Mos­sul be­setzt und hat bis­her mehr als 3000 Men­schen ge­tö­tet, Hun­dert­tau­sen­de muß­ten flie­hen. Diese Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on hatte Jahre zuvor schon An­grif­fe auf Ort­schaf­ten in Nord­sy­ri­en aus­ge­übt. Es ist kein Zu­fall, daß sie jetzt die Ge­gend um Shen­gal an­grei­fen und auch nicht, daß sie ins­be­son­de­re die Frau­en be­kämp­fen. Ziel die­ser Or­ga­ni­sa­ti­on ist es, das kur­di­sche Volk zu ver­nich­ten. Die Zah­len sind noch un­klar; je­doch min­des­tens 2000 Frau­en haben sie aus Shen­gal ver­schleppt. In Mos­sul wurde dann ein Sex-​Skla­vin­nen-​Markt auf­ge­baut, wo die Frau­en ver­kauft wer­den. Viele von ihnen wur­den erst öf­fent­lich ver­ge­wal­tigt – dann dem Markt zur Ver­fü­gung ge­stellt, pro Frau für 150 Dol­lar. Am Don­ners­tag und Frei­tag hat »IS« wei­te­re 700 Frau­en aus einem Dorf, nahe bei Shen­gal, ent­führt. Die Stra­te­gie der Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on ist es, Män­ner und Kin­der zu schlach­ten und die Frau­en zu ent­füh­ren. Wer sich der Zwangsis­la­mi­sie­rung nicht un­ter­wirft, also nicht zu ihrem Glau­ben kon­ver­tie­ren möch­te, wird ge­köpft. Es ist nicht nur ein Ge­no­zid, ein Völ­ker­mord, son­dern auch ein Fe­mi­ni­zid. Viele Frau­en haben Sui­zid be­gan­gen, um Fol­ter­me­tho­den zu ent­ge­hen. Ei­ni­ge wur­den zum Bei­spiel mit den Hän­den an ein Fahr­zeug ge­ket­tet und durch das Dorf ge­schleift.

Wie ist die der­zei­ti­ge Si­tua­ti­on der Über­le­ben­den?

Etwa rund 30000 muß­ten ihre Häu­ser ver­las­sen, viele sind in die Berge bei Sen­gal ge­flüch­tet. Dort aber müs­sen Sie be­fürch­ten, mit ihren Kin­dern zu ver­hun­gern oder zu ver­durs­ten. Durch das Ein­tref­fen der kur­di­schen Volks­ver­tei­di­gungs­ein­hei­ten (YPG) und der Gue­ril­la­kräf­te (HPG) konn­te dort ein wei­te­res Mas­sa­ker ver­hin­dert wer­den. Die Zahl der Flücht­lin­ge steigt wei­ter. Sie be­dür­fen drin­gend der hu­ma­ni­tä­ren Hilfe aller west­li­chen Staa­ten; auch aus Deutsch­land. Die läuft al­ler­dings nur schlep­pend an, alles geht viel zu lang­sam. Ge­braucht wer­den Me­di­ka­men­te, De­cken, Nah­rung, Klei­dung, Zelte, Trink­was­ser und Ba­by­nah­rung, aber auch In­fra­struk­tur wie Strom und Was­ser.

Hier­zu­lan­de ist auch unter Lin­ken eine De­bat­te ent­brannt: Ist den an­ge­grif­fe­nen Je­si­den im Nord­irak mit Waf­fen­lie­fe­run­gen an die kur­di­schen Ver­tei­di­gungs­ein­hei­ten zu hel­fen – oder bes­ser aus­schließ­lich mit hu­ma­ni­tä­ren Gü­tern. Wie sieht dies die kur­di­sche Frau­en­be­we­gung?

Über Waf­fen­lie­fe­run­gen wird zu viel dis­ku­tiert. Hu­ma­ni­tä­re Hilfe wird da­ge­gen nicht aus­rei­chend, nicht schnell und ef­fek­tiv genug ge­leis­tet. Die Be­frei­ungs­be­we­gun­gen kön­nen sich schon sel­ber hel­fen. Viel­mehr soll­te end­lich ein Stopp aller Waf­fen­lie­fe­run­gen er­fol­gen; in ers­ter Linie dür­fen Sau­di-​Aa­bi­en, Katar, aber auch das NA­TO-​Mit­glied Tür­kei nicht mehr be­lie­fert wer­den. Denn letz­te­re rei­chen sie wei­ter an die Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on »IS«. Das ist der Skan­dal. Des­halb soll­ten west­li­che Re­gie­run­gen po­li­ti­schen Druck auf diese Staa­ten aus­üben. Es macht kei­nen Sinn, sie wei­ter­hin mit Waf­fen zu ver­sor­gen – und zu­gleich die Ge­gen­sei­te, die kur­di­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen, auf­zu­rüs­ten. Dann wird der Krieg nie ein Ende neh­men.

Mi­li­tä­ri­sche Un­ter­stüt­zung ist also nicht er­wünscht?

Das kur­di­sche Volk ist sel­ber in der Lage, sich zu ver­tei­di­gen. Ma­chen wir uns doch nichts vor: Mi­li­tä­ri­sche In­ter­ven­tio­nen von außen die­nen doch meist dem Zweck, eth­nisch ver­folg­te Völ­ker ab­hän­gig zu ma­chen, um diese an­schlie­ßend für ei­ge­ne im­pe­ria­lis­ti­sche Macht­in­ter­es­sen aus­zu­nut­zen. Di­plo­ma­ti­scher Druck auf die Län­der, die die Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on »IS« po­li­tisch und fi­nan­zi­ell un­ter­stüt­zen, wäre aber hilf­reich.

Ist ein wei­te­res Vor­rü­cken der IS-​Ter­ror­grup­pen durch die Of­fen­si­ve von US-​Bom­bern zu stop­pen?

Nein. Dies be­to­nen auch die be­trof­fe­nen Frau­en im Nord­irak uns ge­gen­über immer wie­der: Die­ser Kon­flikt ist nicht mi­li­tä­risch zu lösen, son­dern nur po­li­tisch. Auch die USA wür­den bes­ser daran tun, die hu­ma­ni­tä­re Hilfe zu ver­stär­ken. Es kommt zu­we­nig bei der Be­völ­ke­rung an, so­wohl in den Ber­gen als auch in Shen­gal.

junge Welt 18.​8.​14 In­ter­view: Gitta Dü­per­thal